Bundesverfassungsgericht, Einstweilige Anordnung vom 27.11.2014, Az. 2 BvR 2735/14

2. Senat 3. Kammer | REWIS RS 2014, 912

Foto: © Bundesverfassungsgericht │ foto USW. Uwe Stohrer, Freiburg

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Gegenstand

Erlass einer einstweiligen Anordnung: vorläufige Untersagung der Auslieferung eines US-Amerikaners nach Italien auf Grundlage eines Europäischen Haftbefehls und Verurteilung in Abwesenheit - Gewährleistung eines fairen Verfahrens gem Art 2 Abs 1 GG, Art 20 Abs 3 GG


Tenor

Die Übergabe des Beschwerdeführers an die Behörden der [X.] wird bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde, längstens für die Dauer von sechs Monaten, einstweilen ausgesetzt.

Die Generalstaatsanwaltschaft bei dem [X.] wird mit der Durchführung der einstweiligen Anordnung beauftragt.

Gründe

1

1. Der Beschwerdeführer besitzt die [X.] Staatsangehörigkeit. Er soll zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe an die [X.] ausgeliefert werden und befindet sich seit dem 25. Juli 2014 in Auslieferungshaft. Gegen den Beschwerdeführer besteht ein [X.] Haftbefehl, den die Generalstaatsanwaltschaft beim Appellationsgericht [X.] am 31. Juli 2014 erlassen hat und dem ein Vollstreckungshaftbefehl vom 26. August 1992 zugrunde liegt. Mit Urteil vom 27. März 1992, rechtskräftig seit dem 6. Juni 1992, wurde der Beschwerdeführer wegen Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung sowie Einfuhr und Besitz von Kokain in Abwesenheit zu einer Freiheitsstrafe von dreißig Jahren verurteilt.

2

2. Mit dem angegriffenen Beschluss vom 7. November 2014 erklärte das [X.] die Auslieferung des Beschwerdeführers für zulässig. Die formellen und materiellen Voraussetzungen der Auslieferung lägen vor, [X.] bestünden nicht.

3

a) Als [X.]r Staatsbürger unterliege der Beschwerdeführer gemäß § 78, § 2 Abs. 1 und Abs. 3 [X.] der Auslieferung. Die Straftaten, wegen derer die Auslieferung beantragt werde, seien auslieferungsfähig im Sinne von § 3 Abs. 1 [X.], da sie auch nach [X.] Recht (§ 129 StGB, §§ 29 ff. BtMG) strafbar seien und die zu vollstreckende Freiheitsstrafe das nach § 81 Nr. 2 [X.] erforderliche Mindestmaß von vier Monaten überschreite.

4

b) Die Auslieferung sei nicht mit Blick auf § 83 Nr. 3 [X.] unzulässig. Aufgrund der ergänzenden Auskünfte der Generalstaatsanwaltschaft [X.] vom 7. Oktober 2014 stehe fest, dass der Beschwerdeführer nach seiner Überstellung nach [X.] das Recht auf ein faires Gerichtsverfahren habe, in dem in seiner Anwesenheit der gegen ihn erhobene Vorwurf umfassend überprüft werde.

5

aa) Der insofern zu beachtende Maßstab ergebe sich aus den zu § 73 [X.] (ordre public) entwickelten Grundsätzen. Demnach sei die Auslieferung zur Vollstreckung eines in Abwesenheit ergangenen Urteils unzulässig, wenn der Verfolgte weder über die Tatsache der Durchführung und des Abschlusses eines ihn betreffenden Strafverfahrens unterrichtet war, noch ihm die Möglichkeit eröffnet sei, sich nach Erlangung der Kenntnis nachträglich rechtliches Gehör zu verschaffen und sich wirksam zu verteidigen. Das folge aus dem Gebot des rechtlichen Gehörs nach Art. 103 Abs. 1 GG, [X.] von [X.] wegen zum unverzichtbaren Bestand der öffentlichen Ordnung wie auch zum völkerrechtlichen Mindeststandard gehöre, sowie aus Art. 6 Abs. 1 [X.]. Dem Verfolgten müsse ein allein von seinem Willen abhängiges Verfahren gewährleistet sein, das eine umfassende Überprüfung des Anklagevorwurfs ermögliche.

6

bb) Diese Anforderungen erfülle Art. 175 der [X.] Strafverfahrensordnung ([X.]). Die Vorschrift trage den rechtsstaatlichen Bedenken Rechnung, die von [X.], [X.] und [X.] gegen ihre frühere Fassung erhoben worden seien.

7

Art. 175 Abs. 2 und 3 [X.] enthalte eine mit dreißig Tagen ausreichend bemessene Frist für die Stellung des [X.]. Der Verurteilte werde nach dieser Vorschrift auf seinen Antrag in die Rechtsmittel- oder Einspruchsfristen wieder eingesetzt, es sei denn, dass er in Kenntnis des Verfahrens oder der Verfügung war und freiwillig auf Einspruch oder Rechtsmittel verzichtet hat. Entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers komme es für die Frage der Wiedereinsetzung nicht darauf an, ob den Justizbehörden der Nachweis gelingen könne, er habe Kenntnis von dem Verfahren erlangt, oder ob für ihn ein Verteidiger bestellt worden ist, da die [X.] sich nicht auf einen Verzicht auf Einspruch oder Rechtsmittel erstrecke. Der Nachweis eines Verzichts obliege den Behörden ebenso wie der Nachweis der Kenntnis des Verfolgten von dem Verfahren. Dafür, dass diesen im vorliegenden Verfahren ein solcher Nachweis gelingen könne, sei nichts ersichtlich. Dem Beschwerdeführer sei somit ein wirksames Recht auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährleistet.

8

Auch eine umfassende Überprüfung des [X.] sei sichergestellt. Ob dies im Rahmen einer Berufungsverhandlung oder eines neuen erstinstanzlichen Verfahrens erfolge, könne offen bleiben. Selbst wenn nach [X.] Recht im Berufungsverfahren nach Art. 593 ff. [X.] im Regelfall keine neue Beweisaufnahme stattfinde, handele es sich um ein Rechtsmittel, in dem sowohl die Tat- als auch die Rechtsfrage erneut überprüft werden. Es finde eine umfassende tatsächliche und rechtliche Überprüfung des [X.] statt, in deren Rahmen eine Beweisaufnahme zumindest nicht ausgeschlossen ist. § 83 [X.] verlange keine vollständige Tatsacheninstanz. Es genüge die Möglichkeit, sich nachträglich wirksam rechtliches Gehör zu verschaffen. Aus dem Schreiben der Generalstaatsanwaltschaft [X.] ergebe sich, dass der Beschwerdeführer für den Fall der Wiedereinsetzung einen Anspruch auf eine erneute Hauptverhandlung habe, in der das Recht zur Verteidigung vorbehaltlos gewährt werde.

9

3. Die [X.] hat die Auslieferung am 14. November 2014 bewilligt. Bereits zuvor hatte sie erklärt, dass von der Befugnis zur Ablehnung der Bewilligung nach § 83b Nr. 1 [X.] kein Gebrauch gemacht werde.

Mit seiner [X.]beschwerde, die mit einem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung verbunden ist, rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung seiner Grundrechte aus Art. 1, Art. 2 Abs. 1 und Abs. 2, Art. 3 Abs. 1, Art. 103 Abs. 1 GG, des Rechts auf ein faires Verfahren (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG, Art. 6 Abs. 3 [X.]) sowie eine Missachtung der nach Art. 25 GG verbindlichen völkerrechtlichen Mindeststandards. Aus der Rechtsprechung des [X.] Kassationsgerichtshofes ergebe sich, dass auf vor dem 28. April 2014 erfolgte Verurteilungen Art. 175 [X.] in seiner früheren Fassung anzuwenden sei. Nach dieser Fassung von Art. 175 [X.] müsse der Antragsteller im Wiederaufnahmeverfahren beweisen, dass er von dem gegen ihn in Abwesenheit geführten Verfahren keine Kenntnis hatte. Ob der Beschwerdeführer diesen Nachweis erbringen könne und Wiedereinsetzung gewährt werde, sei zweifelhaft. Die Auskunft der Generalstaatsanwaltschaft [X.], ihm würde Wiedereinsetzung gewährt und seine Verteidigungsrechte würden in vollem Umfang gewahrt werden, bedeute keine hinreichende Garantie eines fairen Verfahrens. Wiedereinsetzung könne hier nur in die Berufungsfrist gewährt werden. Für die Berufungsverhandlung sehe das [X.] Strafverfahrensrecht eine Beweisaufnahme aber grundsätzlich nicht vor, so dass insbesondere das in Art. 6 Abs. 3 [X.] garantierte Recht des Angeklagten, Fragen an Belastungszeugen zu stellen, missachtet werde.

1. Nach § 32 Abs. 1 [X.] kann das [X.] im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Als Mittel des vorläufigen Rechtsschutzes hat die einstweilige Anordnung auch im verfassungsgerichtlichen Verfahren die Aufgabe, die Schaffung vollendeter Tatsachen zu verhindern; sie soll auf diese Weise dazu beitragen, Wirkung und Bedeutung einer erst noch zu erwartenden Entscheidung in der Hauptsache zu sichern und zu erhalten (vgl. [X.] 42, 103 <119>). Deshalb bleiben die Gründe, welche für die [X.]widrigkeit der angegriffenen Maßnahme sprechen, außer Betracht, es sei denn, die Hauptsache erwiese sich als von vornherein unzulässig oder offensichtlich unbegründet (vgl. [X.] 77, 130 <135>; 89, 91 <94>; 104, 23 <27 f.>; 105, 365 <370 f.>; 106, 359 <363>; 122, 374 <384>; stRspr).

2. Die [X.]beschwerde ist weder von vornherein unzulässig noch offensichtlich unbegründet. Im Hauptsacheverfahren wird die Frage zu klären sein, ob die vom [X.] vorgenommene Auslegung und Anwendung von § 83 Nr. 3 [X.] in Verbindung mit Art. 4a Abs. 1 Buchstabe d des Rahmenbeschlusses 2002/[X.] des Rates vom 13. Juni 2002 über den [X.] Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten ([X.]. EG Nr. L 190 vom 18. Juli 2002, [X.]) in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299[X.] des Rates vom 26. Februar 2009 geänderten Fassung ([X.]. [X.] Nr. L 81 vom 27. März 2009, S. 24; vgl. auch [X.], Urteil vom 26. Februar 2013 - [X.]/11 - [X.] -, NJW 2013, [X.]215 <1217 ff.>; [X.] [X.]gericht, Pleno. [X.]/2011 vom 9. Juni 2011) mit [X.] des von Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG garantierten Rechts auf ein faires Verfahren (vgl. [X.] 38, 105 <111>; 122, 248 <271 f.>; 133, 168 <200, Rn. 59>) vereinbar ist.

3. Die somit gebotene Folgenabwägung führt zum Erlass der im [X.] näher bezeichneten einstweiligen Anordnung. [X.] die einstweilige Anordnung nicht, erwiese sich die [X.]beschwerde später aber als begründet, so entstünden dem Beschwerdeführer durch die Übergabe an die [X.] Justizbehörden erhebliche und möglicherweise nicht wiedergutzumachende Nachteile. Die Verzögerung der Übergabe des Beschwerdeführers wiegt demgegenüber weniger schwer. Es ist nicht erkennbar, dass die [X.] bei der Durchsetzung ihres Strafverfolgungsanspruchs oder die [X.] im Hinblick auf ihre rechtlichen Verpflichtungen bereits durch die Verzögerung der Auslieferung unwiederbringliche Rechtsnachteile erlitten.

Wegen der besonderen Dringlichkeit, die sich daraus ergibt, dass der Beschwerdeführer am 2. Dezember 2014 den [X.] Behörden übergeben werden soll, ergeht diese einstweilige Anordnung ohne vorherige Gelegenheit zur Stellungnahme (§ 32 Abs. 2 Satz 2 [X.]).

Die Vollziehung des [X.] bleibt vom Erlass der einstweiligen Anordnung unberührt.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Meta

2 BvR 2735/14

27.11.2014

Bundesverfassungsgericht 2. Senat 3. Kammer

Einstweilige Anordnung

Sachgebiet: BvR

vorgehend OLG Düsseldorf, 7. November 2014, Az: III - 3 Ausl 108/14, Beschluss

Art 2 Abs 1 GG, Art 20 Abs 3 GG, § 32 Abs 1 BVerfGG, Art 4a Abs 1 Buchst d EGRaBes 584/2002, Art 2 Nr 1 EURaBes 299/2009REO, § 83 Nr 3 IRG, Art 175 Abs 2 StPO ITA, Art 175 Abs 3 StPO ITA

Zitier­vorschlag: Bundesverfassungsgericht, Einstweilige Anordnung vom 27.11.2014, Az. 2 BvR 2735/14 (REWIS RS 2014, 912)

Papier­fundstellen: NJW 2016, 1149 REWIS RS 2014, 912 BVerfGE 140, 317-376 REWIS RS 2014, 912


Verfahrensgang

Der Verfahrensgang wurde anhand in unserer Datenbank vorhandener Rechtsprechung automatisch erkannt. Möglicherweise ist er unvollständig.

Az. 2 BvR 2735/14

Bundesverfassungsgericht, 2 BvR 2735/14, 15.12.2015.

Bundesverfassungsgericht, 2 BvR 2735/14, 03.11.2015.

Bundesverfassungsgericht, 2 BvR 2735/14, 27.11.2014.


Az. 3 Ausl 108/14

Oberlandesgericht Düsseldorf, 3 Ausl 108/14, 02.09.2016.


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