BT-Drucksache 16/1622

Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung durch den Europäischen Gerichtshof prüfen lassen

Vom 26. Mai 2006


Deutscher Bundestag Drucksache 16/1622
16. Wahlperiode 26. 05. 2006

Antrag
der Abgeordneten Jerzy Montag, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Jan Korte,
Dr. Karl Addicks, Christian Ahrendt, Hüseyin-Kenan Aydin, Uwe Barth,
Dr. Dietmar Bartsch, Volker Beck (Köln), Birgitt Bender, Matthias Berninger,
Grietje Bettin, Karin Binder, Dr. Lothar Bisky, Heidrun Bluhm, Alexander Bonde,
Rainer Brüderle, Angelika Brunkhorst, Eva Bulling-Schröter, Dr. Martina Bunge,
Ernst Burgbacher, Roland Claus, Sevim Dagdelen, Dr. Diether Dehm, Ekin Deligöz,
Patrick Döring, Werner Dreibus, Mechthild Dyckmans, Dr. Dagmar Enkelmann,
Klaus Ernst, Hans Josef Fell, Ulrike Flach, Otto Fricke, Paul K. Friedhoff,
Horst Friedrich (Bayreuth), Wolfgang Gehrcke, Kai Boris Gehring,
Dr. Edmund Peter Geisen, Dr. Wolfgang Gerhardt, Hans-Michael Goldmann,
Diana Golze, Miriam Gruß, Joachim Günther (Plauen), Dr. Gregor Gysi,
Heike Hänsel, Dr. Christel Happach-Kasan, Britta Haßelmann, Heinz-Peter
Haustein, Lutz Heilmann, Winfried Hermann, Peter Hettlich, Hans-Kurt Hill,
Priska Hinz (Herborn), Cornelia Hirsch, Inge Höger-Neuling, Bärbel Höhn,
Dr. Barbara Höll, Elke Hoff, Dr. Anton Hofreiter, Birgit Homburger,
Dr. Werner Hoyer, Ulla Jelpke, Dr. Lukrezia Jochimsen, Dr. Hakki Keskin,
Katja Kipping, Hellmut Königshaus, Dr. Heinrich L. Kolb, Gudrun Kopp,
Jürgen Koppelin, Sylvia Kotting-Uhl, Renate Künast, Fritz Kuhn, Markus Kurth,
Heinz Lanfermann, Sibylle Laurischk, Monika Lazar, Harald Leibrecht, Ina Lenke,
Michael Leutert, Michael Link (Heilbronn), Markus Löning, Ulla Lötzer,
Dr. Gesine Lötzsch, Ulrich Maurer, Horst Meierhofer, Patrick Meinhardt,
Dorothee Menzer, Jan Mücke, Burkhard Müller-Sönksen, Kersten Naumann,
Wolfgang Neskovic, Dirk Niebel, Hans-Joachim Otto (Frankfurt),
Dr. Norman Paech, Detlef Parr, Petra Pau, Cornelia Pieper, Gisela Piltz,
Bodo Ramelow, Elke Reinke, Jörg Rohde, Paul Schäfer (Köln), Frank Schäffler,
Elisabeth Scharfenberg, Christine Scheel, Irmingard Schewe-Gerigk,
Dr. Gerhard Schick, Volker Schneider (Saarbrücken), Dr. Herbert Schui,
Marina Schuster, Dr. Petra Sitte, Dr. Hermann Otto Solms, Frank Spieth,
Dr. Max Stadler, Silke Stokar von Neuforn, Hans-Christian Ströbele,
Dr. Kirsten Tackmann, Dr. Harald Terpe, Carl-Ludwig Thiele, Florian Toncar,
Alexander Ulrich, Christoph Waitz, Wolfgang Wieland, Josef Philip Winkler,
Dr. Claudia Winterstein, Dr. Volker Wissing, Hartfrid Wolff (Rems-Murr),
Jörn Wunderlich, Martin Zeil, Sabine Zimmermann
Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung durch den Europäischen Gerichtshof
prüfen lassen

Drucksache 16/1622 – 2 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

1. Das Europäische Parlament und der Europäische Rat haben am 15. März
2006 die Richtlinie 2006/24/EG beschlossen. Sie regelt die Vorratsspeiche-
rung von Daten, die bei der Bereitstellung öffentlich zugänglicher elek-
tronischer Kommunikationsdienste oder öffentlicher Kommunikationsnetze
erzeugt oder verarbeitet werden (Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung).
Ziel der Richtlinie ist es, zum Zwecke der Verfolgung schwerer Straftaten
Telekommunikationsverkehrsdaten für einen Zeitraum von mindestens 6 bis
höchstens 24 Monate speichern zu lassen.

Nach Auffassung der Europäischen Kommission ergibt sich die Zuständig-
keit der Gemeinschaft für den Erlass der Richtlinie aus Artikel 95 des Ver-
trags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EGV). Dabei handelt es
sich um eine Ermächtigungsgrundlage für Harmonisierungsmaßnahmen, die
die Errichtung und das Funktionieren des Binnenmarkts zum Gegenstand
haben.

2. Der Deutsche Bundestag ist entgegen der Auffassung der Europäischen
Kommission der Ansicht, dass Artikel 95 EGV nicht die richtige Rechts-
grundlage ist. Er hat bereits in der 15. Legislaturperiode seine entgegen-
stehende Rechtsauffassung zum Ausdruck gebracht. Die Rechtsgrundlage
der Regelung der Vorratsdatenspeicherung zum Zwecke der Strafverfolgung
sei im Titel VI des Vertrags über die Europäische Union (EUV) zu finden, in
dem Bestimmungen über die polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in
Strafsachen festgelegt sind (sog. dritte Säule). „Der Deutsche Bundestag geht
dabei davon aus, dass derartige Rechtsvorschriften ihre Rechtsgrundlage im
Bereich der dritten Säule finden würden.“ (Bundestagsdrucksache 15/4748;
Beschluss des Deutschen Bundestages zum Entwurf des Rahmenbeschlusses
zur Vorratsdatenspeicherung Ratsdok. 8958/04).

In dieser Legislaturperiode hat der Deutsche Bundestag auf Antrag der Frak-
tionen der CDU/CSU und SPD in einem Beschluss (Bundestagdrucksache
16/545) seine Zweifel an der Richtigkeit der von der Kommission gewählten
Rechtsgrundlage wiederholt zum Ausdruck gebracht. In Nummer 13 des Be-
schlusses heißt es: „Dass sich die geplante Maßnahme nun auf Artikel 95
EGV, d. h. auf die erste Säule stützt, begegnet Bedenken, weil Artikel 95
EGV an sich der Sicherstellung des Funktionierens des Binnenmarktes dient,
während die Richtlinie primär Strafverfolgungsinteressen verfolgt.“

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung deshalb auf,

1. gegen die Richtlinie 2006/24/EG des Europäischen Parlaments und des Rates
vom 15. März 2006 (Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung) Nichtigkeits-
klage vor dem Europäischen Gerichtshof gemäß Artikel 230 des Vertrags zur
Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EGV) zu erheben;

2. bis zur Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs von einer Umsetzung
der Richtlinie 2006/24/EG in nationales Recht abzusehen.

Berlin, den 26. Mai 2006

Jerzy Montag
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
Jan Korte

Hüseyin-Kenan Aydin
Uwe Barth
Dr. Dietmar Bartsch
Dr. Karl Addicks
Christian Ahrendt

Volker Beck (Köln)
Birgitt Bender

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/1622

Matthias Berninger
Grietje Bettin
Karin Binder
Dr. Lothar Bisky
Heidrun Bluhm
Alexander Bonde
Rainer Brüderle
Angelika Brunkhorst
Eva Bulling-Schröter
Dr. Martina Bunge
Ernst Burgbacher
Roland Claus
Sevim Dagdelen
Dr. Diether Dehm
Ekin Deligöz
Patrick Döring
Werner Dreibus
Mechthild Dyckmans
Dr. Dagmar Enkelmann
Klaus Ernst
Hans Josef Fell
Ulrike Flach
Otto Fricke
Paul K. Friedhoff
Horst Friedrich (Bayreuth)
Wolfgang Gehrcke
Kai Boris Gehring
Dr. Edmund Peter Geisen
Dr. Wolfgang Gerhardt
Hans-Michael Goldmann
Diana Golze
Miriam Gruß
Joachim Günther (Plauen)
Dr. Gregor Gysi
Heike Hänsel
Dr. Christel Happach-Kasan
Britta Haßelmann
Heinz-Peter Haustein
Lutz Heilmann
Winfried Hermann
Peter Hettlich
Hans-Kurt Hill
Priska Hinz (Herborn)
Cornelia Hirsch
Inge Höger-Neuling
Bärbel Höhn
Dr. Barbara Höll
Elke Hoff
Dr. Anton Hofreiter
Birgit Homburger
Dr. Werner Hoyer
Ulla Jelpke
Dr. Lukrezia Jochimsen
Dr. Hakki Keskin
Katja Kipping

Gudrun Kopp
Jürgen Koppelin
Sylvia Kotting-Uhl
Renate Künast
Fritz Kuhn
Markus Kurth
Heinz Lanfermann
Sibylle Laurischk
Monika Lazar
Harald Leibrecht
Ina Lenke
Michael Leutert
Michael Link (Heilbronn)
Markus Löning
Ulla Lötzer
Dr. Gesine Lötzsch
Ulrich Maurer
Horst Meierhofer
Patrick Meinhardt
Dorothee Menzer
Jan Mücke
Burkhard Müller-Sönksen
Kersten Naumann
Wolfgang Neskovic
Dirk Niebel
Hans-Joachim Otto (Frankfurt)
Dr. Norman Paech
Detlef Parr
Petra Pau
Cornelia Pieper
Gisela Piltz
Bodo Ramelow
Elke Reinke
Jörg Rohde
Paul Schäfer (Köln)
Frank Schäffler
Elisabeth Scharfenberg
Christine Scheel
Irmingard Schewe-Gerigk
Dr. Gerhard Schick
Volker Schneider (Saarbrücken)
Dr. Herbert Schui
Marina Schuster
Dr. Petra Sitte
Dr. Hermann Otto Solms
Frank Spieth
Dr. Max Stadler
Silke Stokar von Neuforn
Hans-Christian Ströbele
Dr. Kirsten Tackmann
Dr. Harald Terpe
Carl-Ludwig Thiele
Florian Toncar
Alexander Ulrich
Christoph Waitz
Hellmut Königshaus
Dr. Heinrich L. Kolb

Wolfgang Wieland
Josef Philip Winkler

Drucksache 16/1622 – 4 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

Begründung

1. Eine verpflichtende Vorratsdatenspeicherung ist auf Initiative von Frank-
reich, Irland, Schweden und Großbritannien zunächst in der dritten Säule
vorgeschlagen worden. Der Entwurf des Rahmenbeschlusses (Ratsdok.
8958/04) gestützt auf Artikel 31 Abs. 1 Buchstabe c und Artikel 34 Abs. 2
Buchstabe b des Vertrags über die Europäische Union (EUV) wurde am
28. April 2004 vorgelegt. Sein erklärtes Ziel war die Vorbeugung, Unter-
suchung, Feststellung und Verfolgung von Straftaten, um ein hohes Maß an
Schutz in einem Raum der Sicherheit, der Freiheit und des Rechts zu errei-
chen (Erwägungsgrund eins des Rahmenbeschlussentwurfs). In Artikel 1
Abs. 1 des Entwurfs heißt es: „Mit diesem Rahmenbeschluss soll die justizi-
elle Zusammenarbeit in Strafsachen erleichtert werden, indem die Rechtsvor-
schriften der Mitgliedstaaten über die Vorratsspeicherung von Daten, die
durch Diensteanbieter eines öffentlich zugänglichen elektronischen Kommu-
nikationsdienstes oder eines öffentlichen Kommunikationsnetzes verarbeitet
und gespeichert werden, für die Zwecke der Vorbeugung, Untersuchung,
Feststellung und Verfolgung von Straftaten, einschließlich Terrorismus, an-
geglichen werden.“

2. Nachdem der Vorschlag kontrovers beraten und deutlich wurde, dass die in
der dritten Säule erforderliche Einstimmigkeit voraussichtlich nicht zustande
kommen würde, ist das Vorhaben als Richtlinie 2006/24/EG in der ersten
Säule im Wege des Mitentscheidungsverfahrens nach Artikel 251 EGV mit
qualifizierter Mehrheit beschlossen worden.

Auch die Richtlinie nennt die Vorratsdatenspeicherung zum Zwecke der
Strafverfolgung als primären Regelungszweck. In den Erwägungsgründen
fünf bis elf der Richtlinie wird fortlaufend auf die Vorratsdatenspeicherung
als effektives Mittel der Strafverfolgung hingewiesen. Der Wortlaut des
Artikels 1 der Richtlinie entspricht fast textgleich dem Artikel 1 des Entwurfs
des Rahmenbeschlusses: „Mit dieser Richtlinie sollen die Vorschriften der
Mitgliedstaaten über die Pflichten von Anbietern öffentlich zugänglicher
elektronischer Kommunikationsdienste oder Betreibern eines öffentlichen
Kommunikationsnetzes im Zusammenhang mit der Vorratsspeicherung
bestimmter Daten, die von ihnen erzeugt oder verarbeitet werden, harmo-
nisiert werden, um sicherzustellen, dass die Daten zum Zwecke der Ermitt-
lung, Feststellung und Verfolgung von schweren Straftaten, wie sie von
jedem Mitgliedstaat in seinem nationalen Recht bestimmt werden zur Verfü-
gung stehen.“

3. Zur Begründung der nun gewählten Rechtsgrundlage Artikel 95 EGV bezieht
sich die Kommission auf ein Gutachten des Juristischen Dienstes des Rates
vom 5. April 2005 (Ratsdok. 7688/05) und ein Arbeitsdokument der Dienst-
stellen der Kommission vom 1. April 2005 (Ratsdok. 7735/05). Diese Doku-
mente wurden leider erst so spät freigegeben und übermittelt, dass eine früh-
zeitigere Prüfung nicht möglich war.

4. Das Gutachten des Juristischen Dienstes des Rates vom 5. April 2005 und das
Arbeitsdokument der Dienststellen der Kommission vom 1. April 2005 über-
zeugen nicht. Eine kritische Durchsicht ergibt, dass sich das Gesetzgebungs-

Dr. Claudia Winterstein
Dr. Volker Wissing
Hartfrid Wolff (Rems-Murr)

Jörn Wunderlich
Martin Zeil
Sabine Zimmermann
verfahren der Gemeinschaft innerhalb der ersten Säule nicht begründen lässt.

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 5 – Drucksache 16/1622

Im Wesentlichen stützt der Juristische Dienst seine Argumentation darauf,
dass die Gemeinschaft mit der Richtlinie 2002/58/EG über die Verarbeitung
personenbezogener Daten und den Schutz der Privatsphäre in der elektro-
nischen Kommunikation (Datenschutzrichtlinie für elektronische Kommuni-
kation) einen gemeinschaftlichen Besitzstand geschaffen habe. In diesen
dürfe gemäß Artikel 47 EUV, der das Verhältnis zwischen der ersten und drit-
ten Säule regelt, nicht eingegriffen werden.

5. Ein Verstoß gegen Artikel 47 EUV läge aber nur dann vor, wenn Regelungs-
gegenstand der Datenschutzrichtlinie auch die Vorratsdatenspeicherung zum
Zwecke der Strafverfolgung wäre. Schwerpunkt der Datenschutzrichtlinie ist
hingegen die Rechtsharmonisierung mit dem Ziel, einen gleichwertigen
Schutz der Grundrechte und Grundfreiheiten in Bezug auf die Verarbeitung
personenbezogener Daten im Bereich der elektronischen Kommunikation zu
gewährleisten (Artikel 1 Abs.1 der Datenschutzrichtlinie). In Artikel 1 Abs. 3
heißt es ausdrücklich: „Diese Richtlinie gilt nicht für Tätigkeiten, die nicht in
den Anwendungsbereich des EGV fallen, beispielsweise Tätigkeiten gemäß
den Titeln V und VI des EUV und auf keinen Fall für Tätigkeiten (…) des
Staates im strafrechtlichen Bereich.“

Die Datenschutzrichtlinie hat die verpflichtende Speicherung von Daten auf
Vorrat nicht angesprochen oder gar geregelt. Dass in Artikel 15 der Richtlinie
festgestellt wird, dass Mitgliedstaaten nationale Rechtsvorschriften über die
Vorratsdatenspeicherung zum Zwecke der Strafverfolgung erlassen können,
die bestimmte Vorschriften der Datenschutzrichtlinie beschränken, stellt
keine Ermächtigungsgrundlage dar. Es handelt sich dabei um eine Klausel,
die klarstellt, dass die Mitgliedstaaten Regelungen zur Vorratsdatenspeiche-
rungen zu Strafverfolgungszwecken erlassen dürfen, ohne damit die Daten-
schutzrichtlinie zu verletzen. Ein gemeinschaftlicher Besitzstand wird da-
durch nicht geschaffen, so dass Artikel 47 EUV nicht berührt ist.

Die von der Kommission nachgeschobene Begründung ist deshalb nicht
nachvollziehbar.

6. Auch die ständige Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH)
kann das Vorgehen der Kommission nicht begründen. Danach muss sich die
Wahl der Rechtsgrundlage eines Rechtsakts der Gemeinschaft auf objektive,
gerichtlich nachprüfbare Umstände gründen, zu denen insbesondere das Ziel
und der Inhalt des Rechtsakts gehören (vgl. Kommission gegen Rat im
„Titandioxid-Urteil“ des EuGH vom 11. Juni 1991, C-300/89, Slg. S. I-2867,
Rz.10). Aus den Erwägungsgründen der Präambel, aber auch aus den einzel-
nen Vorschriften der Richtlinie 2006/24/EG geht hervor, dass Ziel und Inhalt
primär auf Strafverfolgung gerichtet sind, für die die Gemeinschaft keine Ge-
setzgebungskompetenz hat. Auf die von der Kommission gewählte Rechts-
grundlage des Artikels 95 EGV sind hingegen Harmonisierungsmaßnahmen
zu stützen, die die Errichtung und das Funktionieren des Binnenmarkts zum
Gegenstand haben. Im Ergebnis kommt Artikel 95 EGV schwerpunktmäßig
im Bereich des freien Warenverkehrs zur Anwendung. Um das bessere Funk-
tionieren des Binnenmarkts geht es bei der Vorratsdatenspeicherung jedoch
nicht.

Die Rechtsauffassung des Deutschen Bundestages wird auch vom jüngst er-
gangenen Urteil des EuGH zum Umweltstrafrecht vom 13. September 2005
(Kommission gegen Rat C-176/03) gestützt. Der EuGH bestätigt, dass es bei
der Wahl der richtigen Rechtsgrundlage auf den Hauptzweck der zu treffen-
den Regelung ankomme und dass Straf- und Strafprozessrecht grundsätzlich
nicht in die Zuständigkeit der Gemeinschaft falle.

7. Der Wechsel von der dritten in die erste Säule ist deshalb offensichtlich aus

rein politischen Gründen erfolgt. Die Bundesrepublik Deutschland hat ein vi-

Drucksache 16/1622 – 6 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

tales Interesse an der Einhaltung der europäischen Regeln und der Wahrung
der europäischen Rechtsstaatlichkeit. Präzedenzfällen auf EU-Ebene muss
vorgebeugt werden, damit auch in Zukunft nicht politische, sondern allein
rechtliche Erwägungen über die Wahl der Rechtsgrundlagen von europäi-
schen Rechtsakten entscheiden. Für den Deutschen Bundestag ist es unzu-
mutbar, Richtlinien umsetzen zu müssen, die auf unrichtigen Rechtsgrund-
lagen beruhen.

8. Unabhängig von der Bewertung des Inhalts der Richtlinie zur Vorratsdaten-
speicherung ist es deshalb notwendig, dass die Bundesregierung im Namen
der Bundesrepublik Deutschland als einzig priviligierte Klageberechtigte
Nichtigkeitsklage nach Artikel 230 EGV vor dem EuGH erhebt. Die Richt-
linie ist am 13. April 2006 im Amtsblatt der Europäischen Union veröffent-
licht worden, so dass die zweimonatige Klagefrist des Artikels 230 EGV am
28. April 2006 begonnen hat. Sie endet am 10. Juli 2006 (vgl. Artikel 81
§§ 1, 2 EuGH-Verfahrensordnung).

9. Bis zur Entscheidung des EuGH darf die Richtlinie zur Vorratsdatenspeiche-
rung nicht umgesetzt werden. Der Schaden, der dadurch entstünde, dass eine
nichtige Richtlinie zunächst in nationales Recht umgesetzt würde und das
Umsetzungsgesetz dann wieder zurückzunehmen wäre, ist erheblich. Eine
u. U. verzögerte Umsetzung ist deshalb unter dem Gesichtspunkt der Verhält-
nismäßigkeit hinzunehmen. Es ist also erforderlich, die Richtlinie 2006/24/
EG bis zum Vorliegen der Entscheidung des EuGH nicht umzusetzen.

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