BT-Drucksache 18/11805

Aufarbeitung der Verbrechen in der Colonia Dignidad und Hilfe für die Opfer

Vom 30. März 2017


Deutscher Bundestag Drucksache 18/11805
18. Wahlperiode 30.03.2017
Antrag
der Abgeordneten Renate Künast, Harald Petzold (Havelland),
Luise Amtsberg, Kerstin Andreae, Annalena Baerbock, Dr. Dietmar Bartsch,
Volker Beck (Köln), Karin Binder, Matthias W. Birkwald, Heidrun Blum,
Dr. Franziska Brantner, Christine Buchholz, Eva Bulling-Schröter, Dr. Diether
Dehm, Harald Ebner, Dr. Thomas Gambke, Matthias Gastel, Wolfgang Gehrcke,
Kai Gehring, Katrin Göring-Eckardt, Nicole Gohlke, Annette Groth, Dr. Gregor
Gysi, Dr. André Hahn, Heike Hänsel, Anja Hajduk, Britta Haßelmann, Dr. Rosemarie
Hein, Bärbel Höhn, Dr. Anton Hofreiter, Andrej Hunko, Sigrid Hupach, Ulla Jelpke,
Susanna Karawanskij, Kerstin Kassner, Uwe Kekeritz, Katja Keul, Katja Kipping,
Tom Koenigs, Jan Korte, Sylvia Kotting-Uhl, Oliver Krischer, Katrin Kunert, Caren
Lay, Monika Lazar, Sabine Leidig, Steffi Lemke, Ralph Lenkert, Michael Leutert,
Stefan Liebich, Dr. Tobias Lindner, Dr. Gesine Lötzsch, Thomas Lutze, Birgit Menz,
Irene Mihalic, Cornelia Möhring, Niema Movassat, Beate Müller-Gemmeke, Özcan
Mutlu, Dr. Alexander S. Neu, Thomas Nord, Dr. Konstantin von Notz, Friedrich
Ostendorff, Petra Pau, Lisa Paus, Richard Pitterle, Martina Renner, Tabea Rößner,
Claudia Roth (Augsburg), Corinna Rüffer, Elisabeth Scharfenberg, Ulle Schauws,
Dr. Gerhard Schick, Kordula Schulz-Asche, Dr. Petra Sitte, Kersten Steinke,
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, Hans-Christian Ströbele, Dr. Kirsten Tackmann,
Frank Tempel, Jürgen Trittin, Dr. Axel Troost, Dr. Julia Verlinden, Kathrin Vogler,
Dr. Sahra Wagenknecht, Halina Wawzyniak, Harald Weinberg, Katrin Werner,
Birgit Wöllert, Jörn Wunderlich, Hubertus Zdebel, Sabine Zimmermann (Zwickau)

Aufarbeitung der Verbrechen in der Colonia Dignidad und Hilfe für die Opfer

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

1. Pflichtverstöße, Versäumnisse und mangelnde Gewissenhaftigkeit von Verwal-
tungsbeamten und Diplomaten, Staatsanwälten und Richtern sowie die fehlende
Entschlossenheit von deutschen und chilenischen Parlamentariern trugen dazu
bei, dass über Jahre auf dem Gelände der „Sociedad Benefactora y Educacional
Dignidad“, der Colonia Dignidad (CD), südlich der Hauptstadt Santiago de Chile
Frauen und Männer, Kinder und Erwachsene, Chilenen und Deutsche gefoltert,
ermordet, missbraucht, vergiftet, gequält und ausgebeutet wurden. Zwar erging
1961 ein Haftbefehl gegen den Kopf der Sekte, Paul Schäfer, wegen sexuellen
Missbrauchs von Minderjährigen, doch gelang es ihm, sich diesem durch Flucht

Drucksache 18/11805 – 2 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode

nach Chile zu entziehen. Unerklärlich ist bereits, dass ihm nicht nur seine Anhän-
gerinnen und Anhänger folgten, sondern auch, dass die zuständige Behörde der
Ausreise von über 100 Kindern und Jugendlichen zustimmte, darunter die Be-
wohner des von Schäfer geleiteten Heimes bei Bonn. Teile des Startkapitals für
den Aufbau der CD bildete der Verkauf des Heimes an die Bundeswehr.

2. Die abgeschiedene Lage der CD, die Zurückhaltung der chilenischen Behörden
gegenüber deutschen Staatsbürgern und die unkritische Beobachtung der an der
Oberfläche vorbildlich erscheinenden deutschen Gemeinschaft durch die Bot-
schaft der Bundesrepublik Deutschland in Santiago de Chile nutzte Schäfer, um
Kinder und Jugendliche deutscher und chilenischer Nationalität zu missbrauchen,
die Sektenmitglieder ihrer Freiheit und Selbstbestimmung zu berauben und ihre
Arbeitskraft unter sklavenähnlichen Bedingungen auszunutzen. Die Lebensbe-
dingungen in der Kolonie verstießen gegen fundamentale Menschenrechte. Wi-
derständige Mitglieder wurden durch Misshandlungen, Folter mit Elektroschocks
und der erzwungenen Verabreichung von Psychopharmaka zur psychischen und
physischen Zerstörung ruhiggestellt bzw. ausgeschaltet. Hierfür sowie zu einer
Reihe von ungeklärten Todesfällen gibt es inzwischen Belege in Form von Be-
richten und Zeugenaussagen, teilweise auch chilenische Gerichtsurteile.

3. Gleichzeitig haben Paul Schäfer und seine Führungsriege mit dem Regime des
Diktators Pinochet kollaboriert: Gemeinsam mit dem chilenischen Militär und
dem Geheimdienst DINA folterten Schäfer und seine ihm nachgeordnete privile-
gierte Führungsriege Regimegegner und ermordeten viele von ihnen; die Leichen
ließen sie verschwinden. Nach dem Ende der Diktatur wurden auf dem Gelände
der Colonia Dignidad Bereiche identifiziert, die als Massengräber gedient haben,
bevor die Leichen wieder ausgegraben und – nach Aussagen von Beteiligten –
verbrannt worden sind. Für die weitere Suche und die Sicherung der DNA-Spuren
ist spezielles Gerät und entsprechende Fachkunde der Ermittlungsbehörden er-
forderlich.

4. Sämtliche Verbrechen an deutschen und chilenischen Staatsangehörigen konnten
auch deshalb über Jahrzehnte hinweg geschehen, weil nicht nur der chilenische
Staat, sondern auch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der deutschen Botschaft
in Santiago de Chile ihnen nicht ausreichend nachgegangen sind. Trotz verschie-
dener Fluchtversuche von Bewohnern des Geländes bereits ab Mitte der 1960er
Jahre sowie eines aufsehenerregenden Berichts über die Kolonie von Amnesty
International, der bereits 1977 erschien, gelang es der Sektenführung, die Verbin-
dung mit dem Diktator und seinen Militärs zu pflegen, auf dem Gelände Waffen
zu produzieren, den Handel mit Waffen zu ermöglichen sowie Folter und Mord,
Kindesmissbrauch und Freiheitsberaubung fortgesetzt zu begehen. Aufgrund des
Wegschauens und der fehlenden Entschlossenheit deutscher Diplomaten in der
Zeit der 1960er, 1970er und 1980er Jahre bedurfte es des aufopferungsvollen Ein-
satzes deutscher und chilenischer Menschenrechtsanwälte und -verteidiger, damit
am Ende die Wahrheit doch ans Licht kommen konnte.

5. Paul Schäfer und Teile seiner Führungsriege wurden 2004 bzw. 2006 in Chile
wegen des sexuellen Missbrauchs an chilenischen Kindern zu teilweise hohen
Freiheitsstrafen verurteilt. Aufgrund seiner Flucht nach Argentinien verbrachte
Schäfer bis zu seinem Tod 2010 lediglich fünf Jahre in Haft. Eine umfassende
Aufklärung aller Geschehnisse und Verbrechen steht noch aus. Wichtige Infor-
mationsquellen hierfür sind die in der Colonia Dignidad teilweise in deutscher
Sprache erstellten Unterlagen (Karteikarten und Dokumente) über Besucher und
misshandelte Personen, die durch das Militär oder den Geheimdienst auf das Ge-
lände verschleppt wurden sowie das Wissen der ehemaligen Mitglieder der CD
und der ehemaligen chilenischen Militärs und Geheimagenten. Eine umfassende
Auswertung der in der Colonia Dignidad aufgefundenen Karteikarten und Unter-

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 3 – Drucksache 18/11805

lagen steht noch aus. Laut Zeugenaussagen befinden sich weitere Dokumenten-
bestände immer noch unentdeckt in der Colonia Dignidad. Auch in der Bundes-
republik gibt es Aktenbestände, die unter Bezugnahme auf Geheimhaltungsvor-
schriften immer noch nicht zugänglich gemacht worden sind.

6. Das Schicksal der etwa 300 Mitglieder der ehemaligen Sekte ist unterschiedlich:
Während ein großer Teil zurück nach Deutschland gegangen ist, wo gegebenen-
falls Renten oder Sozialhilfe gezahlt werden können, hat ein weiterer Teil zwar
das Gelände der Colonia Dignidad verlassen, nicht aber Chile. Dort steht den ehe-
maligen Sektenmitgliedern kaum Unterstützung zu. Schließlich leben noch etwa
100 Personen auf dem Gelände der Colonia Dignidad, die heute Villa Baviera
heißt, und versuchen, die Anlage durch Land- und Forstwirtschaft sowie Restau-
rant- und Hotelbetrieb zu nutzen. Das teilweise durch Sklavenarbeit, Rentenbe-
trug, Waffenhandel und andere Straftaten angehäufte Vermögen der Colonia Dig-
nidad wurde von der Justiz nie umfassend untersucht oder beschlagnahmt. Das
Gelände samt Gebäuden und sonstigen Vermögenswerten sind Eigentum von Ak-
tiengesellschaften, die gegründet wurden, um Schadensersatzansprüche gegen
Schäfer und weitere verurteilte Verbrecher ins Leere laufen zu lassen. Anteilseig-
ner sind einige, aber nicht alle ehemaligen Sektenmitglieder. Es gibt Hinweise
darauf, dass aus dem Vermögen der Gesellschaften in der Vergangenheit auch die
Honorare der Rechtsanwälte von Beschuldigten bzw. Tätern beglichen wurden.
Im August 2016 stellte Chile den zentralen und bebauten Teil des insgesamt etwa
17.000 Hektar großen Geländes unter Denkmalschutz.

7. Bereits im Mai 2002 forderte der Deutsche Bundestag Hilfe für die Opfer der
Colonia Dignidad (Bundestagsdrucksache 14/7444). Die Hilfsmaßnahmen, die
die Bundesregierung für die Bewohner der Colonia Dignidad bis 2013 finan-
zierte, umfassten Maßnahmen der Krisenintervention, psychotherapeutisch-seel-
sorgerische Betreuung, pädagogisch-konzeptionelle Beratung der Schule sowie
wirtschaftliche Beratung für die Fortführung der wirtschaftlichen Nutzung des
Geländes. Die bisher geleistete Hilfe war allerdings nicht immer ausreichend oder
bedarfsgerecht. Sie erfasste auch nicht alle Opfer der Colonia Dignidad, weil sie
auf die Bewohner der ehemaligen Colonia Dignidad beschränkt war; gerade die-
jenigen, die sich selbsttätig von der Sekte gelöst hatten, gingen so leer aus.

8. Der Deutsche Bundestag erkennt, dass der bereits in der 14. Wahlperiode festge-
stellten Verantwortung Deutschlands für die deutschen und chilenischen Opfer
der Sekte noch nicht Genüge getan worden ist. Die Aufarbeitung des Geschehe-
nen ist noch nicht abgeschlossen und auch die Unterstützung erfasste noch nicht
alle, die einen moralischen Anspruch auf Hilfe haben.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung daher auf,

1. mit dem chilenischen Staat bei der rückhaltlosen Aufklärung der Geschehnisse
auf dem Gelände der ehemaligen Colonia Dignidad sowie der von deren Füh-
rungsriege verübten Verbrechen umfassend zusammenzuarbeiten;

2. im Wege der deutsch-chilenischen Zusammenarbeit zu regeln und durch eine
Kommission zu begleiten:
a) die historische und strafrechtliche Aufarbeitung der Vergangenheit der Co-

lonia Dignidad zum Beispiel durch technische Hilfe (Spurensicherung und
-analyse, Übersetzung von deutsch- bzw. spanischsprachigen Unterlagen in
die jeweils andere Sprache) und die Sicherung des Wissens über Entwick-
lung und Struktur der Sekte durch Auswertung der verfügbaren Aktenbe-
stände und ein Oral-history-Projekt zu befördern,

b) den Prozess der Aufarbeitung der Vergangenheit im Rahmen einer Gedenk-
kultur außerhalb und innerhalb des Geländes der Colonia Dignidad durch

Drucksache 18/11805 – 4 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode

die gemeinsame Errichtung und Finanzierung einer Begegnungs- und Ge-
denkstätte zu unterstützen, daran teilzunehmen und Mittel dafür bereitzu-
stellen sowie die in Deutschland erarbeitete Erfahrung zur Gedenkkultur an-
zubieten,

c) Unterstützung für einen Aufarbeitungsprozess der früheren Mitglieder der
Colonia Dignidad mit den Angehörigen der Verschwundenen und den Fol-
terüberlebenden zu leisten, damit ein konstruktiver Ansatz für eine weitere
Aufarbeitung der Geschehnisse gefunden werden kann,

d) eine Erhebung über die Entwicklung und den Stand der Vermögenswerte
aller Aktiengesellschaften und Unternehmen, die aus der Colonia Dignidad
entstanden sind, durchzuführen. Dazu soll die Kooperation und Zustimmung
der formellen Eigentümer gesucht werden;

3. allen früheren Bewohnern der Colonia Dignidad Unterstützung bei der Klärung
ihrer rechtlichen, sozialen und wirtschaftlichen Situation zukommen zu lassen
sowie mögliche Hilfeleistungen von deutscher Seite zu prüfen. Dazu gehören die
Möglichkeit der Leistung von Rückkehrhilfen nach Deutschland sowie die Schaf-
fung spezieller Anlaufstellen, etwa in der deutschen Botschaft in Chile;

4. durch einen Fonds Notlagen abzuwenden oder Maßnahmen für Pflege und Ge-
sundheit sowie für Bildung und Integration zu finanzieren. Die Verwaltung des
Fonds soll durch einen Beirat begleitet werden, der sich aus Mitgliedern aller
Fraktionen im Deutschen Bundestag und Expertinnen und Experten zusammen-
setzt.

Berlin, den 30. März 2017

Renate Künast
Harald Petzold (Havelland)
Luise Amtsberg
Kerstin Andreae
Annalena Baerbock
Dr. Dietmar Bartsch
Volker Beck (Köln)
Karin Binder
Matthias W. Birkwald
Heidrun Blum
Franziska Brantner
Christine Buchholz
Eva Bulling-Schröter
Dr. Diether Dehm
Harald Ebner
Dr. Thomas Gambke
Matthias Gastel
Wolfgang Gehrcke
Kai Gehring
Katrin Göring-Eckardt
Nicole Gohlke
Annette Groth
Dr. Gregor Gysi

Dr. André Hahn
Heike Hänsel
Anja Hajduk
Britta Haßelmann
Dr. Rosemarie Hein
Bärbel Höhn
Dr. Anton Hofreiter
Andrej Hunko
Sigrid Hupach
Ulla Jelpke
Susanna Karawanskij
Kerstin Kassner
Uwe Kekeritz
Katja Keul
Katja Kipping
Tom Koenigs
Jan Korte
Sylvia Kotting-Uhl
Oliver Krischer
Katrin Kunert
Caren Lay
Monika Lazar
Sabine Leidig

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 5 – Drucksache 18/11805
Steffi Lemke
Ralph Lenkert
Michael Leutert
Stefan Liebich
Dr. Tobias Lindner
Dr. Gesine Lötzsch
Thomas Lutze
Birgit Menz
Irene Mihalic
Cornelia Möhring
Niema Movassat
Beate Müller-Gemmeke
Özcan Mutlu
Dr. Alexander S. Neu
Thomas Nord
Dr. Konstantin von Notz
Friedrich Ostendorff
Petra Pau
Lisa Paus
Richard Pitterle
Martina Renner
Tabea Rößner
Claudia Roth (Augsburg)
Corinna Rüffer
Elisabeth Scharfenberg
Ulle Schauws
Dr. Gerhard Schick
Kordula Schulz-Asche
Dr. Petra Sitte
Kersten Steinke
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn
Hans-Christian Ströbele
Dr. Kirsten Tackmann
Frank Tempel
Jürgen Trittin
Dr. Axel Troost
Julia Verlinden
Kathrin Vogler
Dr. Sahra Wagenknecht
Halina Wawzyniak
Harald Weinberg
Katrin Werner
Birgit Wöllert
Jörn Wunderlich

Hubertus Zdebel
Sabine Zimmermann (Zwickau)

Satz: Satzweiss.com Print, Web, Software GmbH, Mainzer Straße 116, 66121 Saarbrücken, www.satzweiss.com
Druck: Printsystem GmbH, Schafwäsche 1-3, 71296 Heimsheim, www.printsystem.de

anzeiger Verlag GmbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de

Autoren

x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.