Bundesverfassungsgericht, Ablehnung einstweilige Anordnung vom 10.04.2020, Az. 1 BvQ 28/20

1. Senat 2. Kammer | REWIS RS 2020, 2722

Foto: © Bundesverfassungsgericht │ foto USW. Uwe Stohrer, Freiburg

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Gegenstand

Ablehnung des Erlasses einer einstweiligen Anordnung gegen das Verbot religiöser Zusammenkünfte nach § 1 Abs 5 der Vierten Verordnung zur Bekämpfung des Corona-Virus der hessischen Landesregierung (juris: CoronaVV HE 4) idF vom 20. März 2020 - Folgenabwägung - Gottesdienstverbot bedarf einer fortlaufenden strengen Prüfung seiner Verhältnismäßigkeit anhand der jeweils aktuellen Erkenntnisse


Tenor

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird abgelehnt.

Gründe

1

Die Voraussetzungen zum Erlass der begehrten einstweiligen Anordnung liegen nicht vor.

2

Der Antragsteller begehrt den Erlass einer einstweiligen Anordnung, mit dem Inhalt, den Beschluss des [X.] vom 7. April 2020 - 8 B 892/20.N - aufzuheben und die Regelung des § 1 Abs. 5 der [X.] der [X.] Landesregierung vom 17. März, zuletzt geändert durch die Verordnung zur Anpassung der Verordnungen zur Bekämpfung des Corona-[X.] vom 20. März 2020 (künftig: [X.]), welche Zusammenkünfte in [X.]n, Moscheen, Synagogen und Zusammenkünfte anderer Glaubensgemeinschaften untersagt, bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache außer Vollzug zu setzen.

3

Der Antragsteller ist [X.] Glaubens und besucht regelmäßig die Heilige Messe. Aufgrund der Verordnung ist es ihm unmöglich, an einer Messfeier teilzunehmen. Das gilt sowohl für den wöchentlichen Besuch der Heiligen Messe (Eucharistiefeier) als auch insbesondere für die Gottesdienste an den [X.]. Das vollständige Zurücktreten des Grundrechts der Glaubensfreiheit in Gestalt der ungestörten gemeinsamen Religionsausübung hinter das kollidierende Grundrecht auf Leben beziehungsweise auf körperliche Unversehrtheit hält der Antragsteller für unverhältnismäßig.

4

Der Antragsteller hat vor dem [X.] die vorläufige Außervollzugsetzung der Regelung des § 1 Abs. 5 der [X.] im Wege der einsteiligen Anordnung beantragt. Der Antrag wurde abgelehnt (vgl. [X.] Verwaltungsgerichtshof, Beschluss vom 7. April 2000 - 8 B 892/20.N-).

5

Der auf eine vorläufige Außervollzugsetzung des § 1 Abs. 5 der [X.] gerichtete Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung hat keinen Erfolg.

6

1. Der Antrag ist zulässig. Insbesondere fehlt es nicht am Rechtsschutzbedürfnis. Zwar wurden durch das [X.], in dem der Antragsteller wohnt, sämtliche Gottesdienste bis zum 19. April 2020 abgesagt. Der Antragsteller hat jedoch vorgetragen, dass sich ein Priester ihm gegenüber bereit erklärt habe, im Fall der Aufhebung des staatlichen Verbots - unter Beachtung aller erforderlichen hygienischen Maßnahmen - an den [X.] die Heilige Messe in einem [X.]nraum zu feiern. Darüber hinaus ist nicht ausgeschlossen, dass im Falle der beantragten Außervollzugsetzung der oben genannten Regelung in weiterem Umfang Gottesdienste angeboten würden.

7

2. Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist jedoch unbegründet.

8

a) Nach § 32 Abs. 1 [X.] kann das [X.] im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Dabei haben die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit des angegriffenen Hoheitsakts vorgetragen werden, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben, es sei denn, die Verfassungsbeschwerde erwiese sich von vornherein als unzulässig oder offensichtlich unbegründet (vgl. [X.] 112, 284 <291>; 121, 1 <14 f.>; stRspr). Bei offenem Ausgang der Verfassungsbeschwerde sind die Folgen, die eintreten würden, wenn die einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber später Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen abzuwägen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der - hier noch zu erhebenden - Verfassungsbeschwerde jedoch der Erfolg versagt bliebe (vgl. [X.] 131, 47 <55>; 132, 195 <232>; [X.], Beschluss der [X.] des [X.] vom 10. März 2020 - 1 BvQ 15/20 -, Rn. 16; stRspr).

9

b) Die noch zu erhebende Verfassungsbeschwerde wäre, soweit hinsichtlich des in § 1 Abs. 5 der [X.] verankerten Verbots von Zusammenkünften in [X.]n der Antragsteller selbst betroffen ist, zumindest nicht von vornherein unzulässig oder offensichtlich unbegründet. Dies bedürfte eingehenderer Prüfung, was im Rahmen eines Eilverfahrens nicht möglich ist.

Daher ist über den Antrag auf einstweilige Anordnung aufgrund einer Folgenabwägung zu entscheiden (vgl. [X.] 91, 70 <74 f.>; 92, 126 <129 f.>; 93, 181 <186 f.>; 94, 334 <347>; stRspr). Dabei müssen die für eine vorläufige Regelung sprechenden Gründe so schwerwiegend sein, dass sie den Erlass einer einstweiligen Anordnung unabweisbar machen. Bei der Folgenabwägung sind die Auswirkungen auf alle von den angegriffenen Regelungen Betroffenen zu berücksichtigen, nicht nur die Folgen für den Antragsteller (vgl. für förmliche Gesetze [X.] 122, 342 <362>; 131, 47 <61>).

aa) Erginge die einstweilige Anordnung nicht und hätte eine Verfassungsbeschwerde des Antragstellers Erfolg, wären Heilige Messen, an deren Teilnahme es dem Antragsteller vor allem geht, zu Unrecht untersagt worden. Der Antragsteller legt unter Bezugnahme auf Aussagen des [X.] (Dogmatische Konstitution über die [X.], Nr. 11) und des Katechismus der Katholischen [X.] (Nr. 1324-1327) nachvollziehbar dar, dass die gemeinsame Feier der Eucharistie nach [X.] Überzeugung ein zentraler Bestandteil des Glaubens ist, deren Fehlen nicht durch alternative Formen der Glaubensbetätigung wie die Übertragung von Gottesdiensten im [X.] oder das individuelle Gebet kompensiert werden kann. Daher bedeutet das Verbot dieser Feier einen überaus schwerwiegenden Eingriff in das Recht auf Glaubens- und Bekenntnisfreiheit nach Art. 4 Abs. 1 und 2 GG. Das gilt nach den plausiblen Angaben des Antragstellers noch verstärkt, soweit sich das Verbot auch auf Eucharistiefeiern während der [X.] als dem Höhepunkt des religiösen Lebens der Christen erstreckt.

Erginge die einstweilige Anordnung nicht und hätte die Verfassungsbeschwerde Erfolg, wäre dieser überaus schwerwiegende und nach dem Glaubensverständnis des Antragstellers auch irreversible Eingriff in die Glaubens- und Bekenntnisfreiheit zu Unrecht erfolgt.

bb) Würde demgegenüber die Untersagung von Zusammenkünften in [X.]n wie beantragt vorläufig außer [X.] gesetzt und hätte die Verfassungsbeschwerde keinen Erfolg, würden sich voraussichtlich sehr viele Menschen zu Gottesdiensten in [X.]n versammeln; das gilt gerade über die [X.]. Damit würde sich die Gefahr der Ansteckung mit dem [X.], der Erkrankung vieler Personen, der Überlastung der gesundheitlichen Einrichtung bei der Behandlung schwerwiegender Fälle und schlimmstenfalls des Todes von Menschen nach der maßgeblichen Risikoeinschätzung des [X.] vom 26. März 2020 ([X.]) erheblich erhöhen, obwohl dies durch ein Gottesdienstverbot in verfassungsrechtlich zulässiger Weise hätte vermieden werden können (vgl. [X.], Beschluss der [X.] des [X.] vom 7. April 2020 - 1 BvR 755/20 - www.bundesverfassungsgericht.de). Diese Gefahren blieben nicht auf jene Personen beschränkt, die freiwillig an den Gottesdiensten teilgenommen haben, sondern würden sich durch mögliche Folgeinfektionen und die Belegung von [X.] auf einen erheblich größeren Personenkreis erstrecken.

cc) Gegenüber diesen Gefahren für Leib und Leben, vor denen zu schützen der Staat nach dem Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit gemäß Art. 2 Abs. 2 GG auch verpflichtet ist (vgl. [X.] 77, 170 <214>; 85, 191 <212>; 115, 25 <44 f.>), muss das grundrechtlich geschützte Recht auf die gemeinsame Feier von Gottesdiensten derzeit zurücktreten. Der [X.] verweist in dem angegriffenen Beschluss zu Recht darauf, dass es nach der Bewertung des [X.] in dieser frühen Phase der [X.] darum geht, die Ausbreitung der hoch infektiösen [X.]erkrankung durch eine möglichst weitgehende Verhinderung von Kontakten zu verlangsamen, um ein Kollabieren des staatlichen Gesundheitssystems mit zahlreichen Todesfällen zu vermeiden. Der überaus schwerwiegende Eingriff in die Glaubensfreiheit zum Schutz von Gesundheit und Leben ist auch deshalb derzeit vertretbar, weil die Verordnung vom 17. März 2020 und damit auch das hier in Rede stehende Verbot von Zusammenkünften in [X.]n bis zum 19. April 2020 befristet ist. Damit ist sichergestellt, dass die Verordnung unter Berücksichtigung neuer Entwicklungen der Corona-[X.] fortgeschrieben werden muss. Hierbei ist - wie auch bei jeder weiteren Fortschreibung der Verordnung - hinsichtlich des im vorliegenden Verfahren relevanten Verbots von Zusammenkünften in [X.]n eine strenge Prüfung der Verhältnismäßigkeit vorzunehmen und zu untersuchen, ob es angesichts neuer Erkenntnisse etwa zu den Verbreitungswegen des [X.] oder zur Gefahr einer Überlastung des Gesundheitssystems verantwortet werden kann, das Verbot von Gottesdiensten unter - gegebenenfalls strengen - Auflagen und möglicherweise auch regional begrenzt zu lockern.

Gleiches gilt mit Blick auf andere Religionsgemeinschaften, die durch das Verbot nach § 1 Abs. 5 der [X.] vergleichbar schwerwiegend betroffen sind, weil für sie die gemeinsame Zusammenkunft ihrer Gläubigen ebenfalls zentraler Bestandteil des Glaubens ist.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Meta

1 BvQ 28/20

10.04.2020

Bundesverfassungsgericht 1. Senat 2. Kammer

Ablehnung einstweilige Anordnung

Sachgebiet: BvQ

vorgehend Hessischer Verwaltungsgerichtshof, 7. April 2020, Az: 8 B 892/20.N, Beschluss

Art 2 Abs 2 S 1 GG, Art 4 Abs 1 GG, Art 4 Abs 2 GG, § 32 Abs 1 BVerfGG, § 1 Abs 5 CoronaVV HE 4 vom 20.03.2020, § 28 IfSG, § 32 IfSG

Zitier­vorschlag: Bundesverfassungsgericht, Ablehnung einstweilige Anordnung vom 10.04.2020, Az. 1 BvQ 28/20 (REWIS RS 2020, 2722)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2020, 2722

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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20 NE 20.704 (VGH München)

Kein Kirchengang für Katholiken wegen Corona


Referenzen
Wird zitiert von

1 BvQ 47/20

1 BvQ 31/20

1 BvR 1027/20

1 BvR 469/20, 1 BvR 470/20

1 BvR 1230/20

1 BvQ 66/20

1 BvR 1630/20

1 BvR 1981/20

M 26a S 20.4823

M 26b S 20.4628

M 26b S 20.4629

M 26b S 20.4586

10 CS 20.2064

20 NE 20.1572

20 NE 20.1189

20 NE 20.1183

20 NE 20.1067

20 NE 20.782

20 NE 20.1423

20 NE 20.1065

20 NE 20.926

20 NE 20.763

20 CE 20.725

20 NE 20.1580

20 NE 20.1574

20 NE 20.1492

20 NE 20.1307

20 NE 20.843

20 NE 20.1102

AN 30 S 20.00654

20 NE 20.929

20 NE 20.837

20 NE 20.1497

20 NE 20.1443

20 NE 20.1017

20 NE 20.1069

20 NE 20.955

20 NE 20.793

20 CS 20.1821

20 NE 20.1606

20 NE 20.1337

20 NE 20.1196

20 NE 20.1080

20 NE 20.971

70-IVA/20

Vf. 29-VII-20

M 26b E 20.4390

M 26b S 20.5125

M 26b S 20.5134

M 26b SE 20.5311

M 26b E 20.5338

M 26b S 20.5296

RN 14 E 20.2714

10 CS 20.2450

10 CS 20.2449

M 13 S 20.5689

M 13 S 20.5656

M 26a S 20.5372

20 NE 20.1320

20 NE 20.1609

20 NE 20.1316

20 NE 20.1500

M 26a E 20.5690

M 26b E 20.5654

20 CE 20.2735

10 CS 20.2745

7 K 1606/20

10 CS 21.249

7 L 304/21

20 NE 21.1003

W 5 S 21.591

AN 4 S 21.00728

25 NE 21.1709

25 NE 21.1647

25 NE 21.1721

25 NE 21.1719

25 NE 21.1621

25 NE 21.1814

25 NE 21.1811

25 NE 21.1755

25 NE 21.1757

25 NE 21.1958

25 NE 21.1869

25 NE 21.1962

25 NE 21.1879

25 NE 21.2066

25 NE 21.2227

25 NE 21.2226

25 NE 21.2309

25 NE 21.2375

25 NE 21.2307

25 NE 21.2193

25 NE 21.2525

25 NE 21.2443

25 NE 21.2372

25 NE 21.2686

25 NE 21.2596

25 NE 21.2477

25 NE 21.2471

1 BvR 971/21, 1 BvR 1069/21

25 NE 21.2634

25 NE 21.2561

25 NE 21.2562

AN 4 S 22.00017

10 CS 22.233

W 5 S 22.173

20 N 21.1926

7 K 1188/21

1 BvR 899/20

AN 4 K 22.00073

Zitiert

1 BvQ 15/20

1 BvR 755/20

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