Bundesverfassungsgericht, Gegenstandswertfestsetzung im verfassungsgerichtlichen Verfahren vom 04.12.2023, Az. 1 BvR 229/16

1. Senat 1. Kammer | REWIS RS 2023, 10363

Foto: © Bundesverfassungsgericht │ foto USW. Uwe Stohrer, Freiburg

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Gegenstand

Anordnung der Auslagenerstattung im Verfassungsbeschwerdeverfahren nach Erledigterklärung - Unvereinbarkeit der unmittelbar angegriffenen Regelungen des Gesetzes zur Einführung einer Speicherpflicht und einer Höchstspeicherfrist für Verkehrsdaten (RIS: VerkdHSpFruSpPflEG) mit Unionsrecht


Tenor

Die [X.] hat den Beschwerdeführenden ihre notwendigen Auslagen für das Verfassungsbeschwerdeverfahren zu erstatten.

Gründe

1

1. Über die Verfassungsbeschwerde ist nicht mehr zu entscheiden, weil die Beschwerdeführenden das [X.] mit Schriftsatz vom 18. Mai 2023 für erledigt erklärt haben (vgl. [X.] 85, 109 <113>).

2

Hierzu führen sie aus, ihr Rechtsschutzbedürfnis sei entfallen, da die angegriffenen Normen ganz überwiegend gegen Unionsrecht verstießen und nicht angewendet werden dürften. Infolgedessen sei ihre Beschwer entfallen. Dies gelte insbesondere sowohl für die gerügten Regelungen zur Speicherung personenbezogener Daten als auch für die angegriffenen Vorschriften der Strafprozessordnung und weiterer Gesetze, die an die Verarbeitung der auf Vorrat gespeicherten Daten anknüpften und nunmehr ins Leere gingen.

3

2. a) Nach der Erledigungserklärung der Beschwerdeführenden ist über die Auslagenerstattung im [X.] gemäß § 34a Abs. 3 [X.] nach Billigkeit zu entscheiden. Bei der hier vorzunehmenden Gesamtwürdigung aller bekannten Umstände kann insbesondere dem Grund, der zur Erledigung geführt hat, wesentliche Bedeutung zukommen (vgl. [X.] 85, 109 <114 f.>; 87, 394 <397>; 133, 37 <38 Rn. 2>; [X.], Beschluss der [X.] des [X.] vom 9. Februar 2017 - 1 BvR 309/11 -, Rn. 2).

4

So ist es billig, einer beschwerdeführenden Person die Erstattung ihrer Auslagen zuzuerkennen, wenn die öffentliche Gewalt von sich aus den mit der Verfassungsbeschwerde angegriffenen Akt beseitigt oder der Beschwer auf andere Weise abhilft, weil in diesem Fall - falls keine anderweitigen Gründe ersichtlich sind - davon ausgegangen werden kann, dass sie das Begehren der beschwerdeführenden Person selbst für berechtigt erachtet hat (vgl. [X.] 133, 37 <38 Rn. 2> m.w.N.). In diesem Fall entspricht die Auslagenerstattung durch die zuständige Gebietskörperschaft der Billigkeit, ohne dass es auf die Erfolgsaussichten der Verfassungsbeschwerde ankommt (vgl. [X.] 33, 247 <264 f.>; 85, 109 <115>; 87, 394 <397>; 91, 146 <147>; [X.]K 5, 316 <327 f.>; stRspr). Im Hinblick auf die Funktion und die Tragweite der Entscheidungen des [X.] findet allerdings eine überschlägige Beurteilung der Erfolgsaussicht der Verfassungsbeschwerde, bei der das [X.] zu verfassungsrechtlichen Zweifelsfragen aufgrund einer lediglich kursorischen Prüfung Stellung nehmen müsste, im Rahmen der Entscheidung über die Auslagenerstattung grundsätzlich nicht statt (vgl. [X.] 33, 247 <264 f.>; 85, 109 <115 f.>; 133, 37 <38 Rn. 2>; [X.], Beschluss der [X.] des Zweiten Senats vom 4. August 2015 - 2 BvR 1690/14 -, Rn. 4).

5

b) Nach diesen Maßstäben entspricht es der Billigkeit, eine Ausnahme von dem Grundsatz des Selbstbehalts zu machen und gemäß § 34a Abs. 3 [X.] die Auslagenerstattung anzuordnen. Die Regelungen zur sogenannten anlasslosen Vorratsdatenspeicherung sind für unvereinbar mit dem Unionsrecht erklärt worden (aa). Folgerichtig haben die Beschwerdeführenden einen Entfall ihrer Beschwer angenommen und ihre Verfassungsbeschwerde für erledigt erklärt ([X.]). Gründe, warum ihnen diese Begünstigung nicht auch kostenrechtlich zugutekommen sollte, sind nicht ersichtlich (cc).

6

aa) Die Vorschriften der [X.] anlasslosen Vorratsdatenspeicherung sind für unvereinbar mit dem Unionsrecht erklärt worden.

7

(1) Mit Beschluss vom 25. September 2019 - 6 C 12.18 - setzte das [X.] ein verwaltungsgerichtliches Verfahren aus, in dem sich Erbringer öffentlich zugänglicher Telekommunikationsdienste gegen ihre in § 113a Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 113b des [X.] (TKG) in der Fassung des [X.] einer Speicherpflicht und einer Höchstspeicherfrist für Verkehrsdaten vom 10. Dezember 2015 ([X.], im Folgenden: [X.]) geregelte Pflicht gewandt hatten, im Einzelnen bezeichnete Verkehrs- und Standortdaten anlasslos für eine Dauer von zehn beziehungsweise vier Wochen auf Vorrat zu speichern.

8

(2) Der [X.] hat auf die Vorlage des [X.]s mit Urteil vom 20. September 2022, [X.] u.a., [X.]/19, [X.]/19, [X.]:[X.] unter Bestätigung seiner früheren Rechtsprechung im Wesentlichen entschieden, dass die Richtlinie 2002/58/[X.] und des Rates vom 12. Juli 2002 über die Verarbeitung personenbezogener Daten und den Schutz der Privatsphäre in der elektronischen Kommunikation (Datenschutzrichtlinie für elektronische Kommunikation - ABl [X.], [X.]) in der durch die Richtlinie 2009/136/[X.] und des Rates vom 25. November 2009 ([X.], [X.]) geänderten Fassung im Licht der Art. 7, 8 und 11 sowie von Art. 52 Abs. 1 der [X.] entgegenstehe, die präventiv zur Bekämpfung schwerer Kriminalität und zur Verhütung schwerer Bedrohungen der öffentlichen Sicherheit eine allgemeine und unterschiedslose Vorratsspeicherung von Verkehrs- und Standortdaten vorsähen (vgl. [X.], a.a.[X.], Rn. 131; zum Ganzen [X.], Beschlüsse der [X.] des [X.] vom 15. Februar 2023 - 1 BvR 141/16 -, Rn. 12 ff.; sowie vom 14. Februar 2023 - 1 BvR 2683/16 - und - 1 BvR 2845/16 -, jeweils Rn. 13 ff.).

9

(3) Mit Urteil vom 14. August 2023 hat das [X.] - 6 C 6.22 - entschieden, dass die in § 175 Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 176 TKG in der Fassung des Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie ([X.]) 2018/1972 des [X.] und des Rates vom 11. Dezember 2018 über den [X.] Kodex für die elektronische Kommunikation (Neufassung) und zur Modernisierung des Telekommunikationsrechts vom 23. Juni 2021 ([X.], vormals: § 113a Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 113b [X.]) geregelte Verpflichtung der Anbieter öffentlich zugänglicher Telekommunikationsdienste zur Speicherung der dort genannten [X.] in vollem Umfang unvereinbar mit Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2002/58/[X.] und daher nicht anwendbar sei, weil eine anlasslose, flächendeckende und personell, zeitlich und geografisch undifferenzierte Vorratsspeicherung eines Großteils der Verkehrs- und Standortdaten vorgeschrieben werde und - soweit das Unionsrecht einer eingeschränkten Vorratsdatenspeicherung nicht von vornherein entgegenstehe - die Voraussetzungen hinsichtlich der Bestimmtheit und Normenklarheit der Regelung, der zulässigen Zwecke sowie der weiteren inhaltlichen und verfahrensmäßigen Anforderungen nicht vorlägen (vgl. BVerwG, Urteil vom 14. August 2023 - 6 C 6.22 -, 1. Leitsatz, Rn. 38 ff.). Soweit sich die in § 175 Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 176 Abs. 3 und 4 Satz 2 und 3 TKG (vormals § 113a Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 113b Abs. 3 und 4 Satz 2 und 3 [X.]) geregelte Pflicht zur allgemeinen und unterschiedslosen Vorratsspeicherung auf die Bereitstellung von Internetzugangsdiensten und in diesem Rahmen unter anderem auf die dem Teilnehmer zugewiesene IP-Adresse beziehe, fehle es jedenfalls an der unionsrechtlich gebotenen Beschränkung der [X.] auf den Schutz der nationalen Sicherheit, der Bekämpfung schwerer Kriminalität oder der Verhütung schwerer Bedrohungen der öffentlichen Sicherheit (vgl. BVerwG, Urteil vom 14. August 2023 - 6 C 6.22 -, 2. Leitsatz, Rn. 42 ff.).

[X.]) Grundsätzlich gibt es für eine Überprüfung einer nationalen Norm im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde kein Bedürfnis, wenn schon feststeht, dass die Norm dem Unionsrecht widerspricht und deshalb innerstaatlich nicht angewendet werden darf (vgl. [X.] 110, 141 <155>; [X.], Beschlüsse der [X.] des [X.] vom 15. Februar 2023 - 1 BvR 141/16 -, Rn. 9; sowie vom 14. Februar 2023 - 1 BvR 2683/16 - und - 1 BvR 2845/16 -, jeweils Rn. 10). Folgerichtig haben die Beschwerdeführenden einen Entfall ihrer Beschwer durch das Regelungskonzept der [X.] anlasslosen Vorratsdatenspeicherung (vgl. [X.], Beschlüsse der [X.] des [X.] vom 15. Februar 2023 - 1 BvR 141/16 -; sowie vom 14. Februar 2023 - 1 BvR 2683/16 - und - 1 BvR 2845/16 -, jeweils Rn. 1) angenommen und ihre Verfassungsbeschwerde für erledigt erklärt.

cc) Durch die festgestellte Unanwendbarkeit der Vorschriften sind die Beschwerdeführenden begünstigt worden. Gründe, warum ihnen dies nicht auch in kostenrechtlicher Hinsicht zugutekommen sollte, sind nicht ersichtlich (vgl. [X.], Beschluss der [X.] des [X.] vom 19. Juli 2016 - 1 BvR 2584/14 -, Rn. 21). Insbesondere folgt die Unanwendbarkeit der Vorschriften aus deren Unvereinbarkeit mit dem Unionsrecht, die die Beschwerdeführenden in ihrer Beschwerdeschrift gerügt hatten. Dass es infolgedessen nicht zu einer Prüfung der Verfassungskonformität der angegriffenen Vorschriften gekommen ist, ist für die Frage der Auslagenerstattung vorliegend nicht maßgeblich.

3. Zur Erstattung der Auslagen verpflichtet ist der Träger, dem der angegriffene Hoheitsakt zuzurechnen ist (vgl. nur [X.] 78, 350 <364>), vorliegend die [X.] Deutschland.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Meta

1 BvR 229/16

04.12.2023

Bundesverfassungsgericht 1. Senat 1. Kammer

Gegenstandswertfestsetzung im verfassungsgerichtlichen Verfahren

Sachgebiet: BvR

vorgehend BVerfG, 4. Dezember 2023, Az: 1 BvR 229/16, Kammerbeschluss

§ 34a Abs 3 BVerfGG, § 90 BVerfGG, VerkdHSpFruSpPflEG

Zitier­vorschlag: Bundesverfassungsgericht, Gegenstandswertfestsetzung im verfassungsgerichtlichen Verfahren vom 04.12.2023, Az. 1 BvR 229/16 (REWIS RS 2023, 10363)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2023, 10363


Verfahrensgang

Der Verfahrensgang wurde anhand in unserer Datenbank vorhandener Rechtsprechung automatisch erkannt. Möglicherweise ist er unvollständig.

Az. 1 BvR 229/16

Bundesverfassungsgericht, 1 BvR 229/16, 04.12.2023.

Bundesverfassungsgericht, 1 BvR 229/16, 04.12.2023.

Bundesverfassungsgericht, 1 BvR 229/16, 08.06.2016.


Az. 1 BvR 2354/23

Bundesverfassungsgericht, 1 BvR 2354/23, 04.12.2023.


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