Bundesverfassungsgericht, Nichtannahmebeschluss vom 15.02.2023, Az. 1 BvR 141/16

1. Senat 1. Kammer | REWIS RS 2023, 1289

Foto: © Bundesverfassungsgericht │ foto USW. Uwe Stohrer, Freiburg

STRAFRECHT BUNDESVERFASSUNGSGERICHT (BVERFG) EUROPA- UND VÖLKERRECHT DATENSCHUTZ EUGH TELEKOMMUNIKATION ÜBERWACHUNG VORRATSDATENSPEICHERUNG

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Gegenstand

Nichtannahmebeschluss: Teilweise Parallelentscheidung


Tenor

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.

Gründe

1

1. Die Beschwerdeführenden wenden sich mit ihrer am 19. Januar 2016 erhobenen Rechtssatzverfassungsbeschwerde der Sache nach gegen § 113b Abs. 1 bis 4 sowie § 113c Abs. 1 des [X.] ([X.]) und § 100g Abs. 2 sowie § 100g Abs. 3 Satz 2 in Verbindung mit § 100g Abs. 2 der Strafprozessordnung (StPO) in der Fassung des [X.] einer Speicherpflicht und einer Höchstspeicherfrist für Verkehrsdaten vom 10. Dezember 2015 ([X.]), die die sogenannte anlasslose Vorratsspeicherung regelten. Zur Begründung machten die Beschwerdeführenden geltend, die anlasslose Speicherung ihrer Verkehrsdaten verstoße insbesondere gegen ihre Grundrechte aus Art. 10 Abs. 1 GG (Telekommunikationsfreiheit) und Art. 12 Abs. 1 GG (Berufsfreiheit).

2

2. Mit Beschluss vom 25. September 2019 - 6 C 12.18 - setzte das [X.] ein verwaltungsgerichtliches Verfahren aus, in dem sich Erbringer öffentlich zugänglicher Telekommunikationsdienste gegen ihre in § 113a Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 113b [X.] geregelte Pflicht gewandt hatten, im Einzelnen bezeichnete Verkehrs- und Standortdaten anlasslos für eine Dauer von zehn beziehungsweise vier Wochen auf Vorrat zu speichern. Zur Begründung wurde ausgeführt, es sei entscheidungserheblich und bedürfe der Klärung durch den Gerichtshof der [X.], ob diese Pflicht angesichts der im Gesetz geregelten Vorgaben zur Datensicherheit und zum Datenabruf auf Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2002/58/[X.] und des Rates vom 12. Juli 2002 über die Verarbeitung personenbezogener Daten und den Schutz der Privatsphäre in der elektronischen Kommunikation (Datenschutzrichtlinie für elektronische Kommunikation - ABl [X.], [X.]) in der durch die Richtlinie 2009/136/[X.] und des Rates vom 25. November 2009 ([X.], [X.]) geänderten Fassung gestützt werden könne. Daher werde eine Entscheidung des Gerichtshofs der [X.] nach Art. 267 des Vertrags über die Arbeitsweise der [X.] ([X.]) zur Vereinbarkeit der durch die - auch vorliegend - streitgegenständlichen Normen ermöglichten anlasslosen Vorratsdatenspeicherung mit dem Unionsrecht eingeholt.

3

3. Mit dem Gesetz zur Umsetzung der Richtlinie ([X.]) 2018/1972 des [X.] und des Rates vom 11. Dezember 2018 über den [X.] Kodex für die elektronische Kommunikation (Neufassung) und zur Modernisierung des Telekommunikationsrechts vom 23. Juni 2021 ([X.], im Folgenden: Telekommunikationsmodernisierungsgesetz) wurden die Regelungen zur Vorratsdatenspeicherung neu gefasst. Die hier angegriffenen Vorschriften finden sich nunmehr ihrem Inhalt nach in § 176 Abs. 1 bis 4 sowie § 177 Abs. 1 [X.] n.F. und § 100g Abs. 2 sowie § 100g Abs. 3 in Verbindung mit § 100g Abs. 2 StPO n.F. Nach der Gesetzentwurfsbegründung sollten die Vorschriften im Rahmen dieser Novelle inhaltlich nicht verändert, sondern nur an die neuen Begrifflichkeiten angepasst werden, da die Verpflichtungen zur Speicherung von Verkehrsdaten nach den bisherigen §§ 113a ff. [X.] a.F. Gegenstand nationaler und unionsrechtlicher gerichtlicher Überprüfung seien (vgl. BTDrucks 19/26108, S. 369 f., 393).

4

4. Auf die Vorlagefrage des [X.]s hin hat der Gerichtshof der [X.] mit Urteil vom 20. September 2022, [X.] u.a., [X.]/19, [X.]/19, [X.]:[X.] entschieden.

5

Die Verfassungsbeschwerde ist nicht zur Entscheidung anzunehmen, weil kein zwingender Annahmegrund nach § 93a Abs. 2 [X.] vorliegt und auch sonst kein Grund für ihre Annahme ersichtlich ist. Die Verfassungsbeschwerde ist unzulässig; damit hat sie keine Aussicht auf Erfolg (vgl. [X.] 90, 22 <25 f.>).

6

1. Die Verfassungsbeschwerde ist jedenfalls unzulässig, weil aus ihrer Begründung nicht hervorgeht, inwieweit noch ein Rechtsschutzbedürfnis für die Entscheidung des [X.] besteht.

7

Beschwerdeführende sind angehalten, ihre Verfassungsbeschwerden bei entscheidungserheblicher Veränderung der Sach- und Rechtslage aktuell zu halten und die Beschwerdebegründung gegebenenfalls auch nachträglich zu ergänzen (vgl. [X.] 106, 210 <214 f.>; 158, 170 <194 Rn. 57>; [X.], Beschlüsse der [X.] des [X.] vom 27. Mai 2020 - 1 BvR 273/16 -, Rn. 5; vom 22. Oktober 2021 - 1 BvR 1416/17 -, Rn. 7; und vom 23. Februar 2022 - 1 BvR 717/18 -). Sie trifft eine aus § 23 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 1, § 92 [X.] fließende [X.] für das (Fort-)Bestehen der Annahme- und Zulässigkeitsvoraussetzungen der Verfassungsbeschwerde im Zeitpunkt der Entscheidung des [X.]. Denn der außerordentliche Rechtsbehelf der Verfassungsbeschwerde dient primär der Durchsetzung subjektiver von der Verfassung gewährter Rechtspositionen, die nicht bereits anderweitig durchgesetzt sind oder absehbar durchgesetzt werden.

8

2. Dieser [X.] sind die Beschwerdeführenden im vorliegenden Fall nicht nachgekommen, obschon Anlass dafür bestand, von einer entscheidungserheblichen Veränderung der Sach- und Rechtslage auszugehen. Vorliegend waren die Beschwerdeführenden jedenfalls nach dem Urteil des Gerichtshofs der [X.] vom 20. September 2022, [X.] u.a., [X.]/19, [X.]/19, [X.]:[X.] gehalten, ihren Vortrag substantiiert dahingehend zu ergänzen, ob und inwieweit ihr Rechtsschutzbedürfnis weiter fortbestand.

9

a) Grundsätzlich gibt es für eine Überprüfung einer nationalen Norm im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde kein Bedürfnis, wenn schon feststeht, dass die Norm dem Unionsrecht widerspricht und deshalb innerstaatlich nicht angewendet werden darf (vgl. [X.] 110, 141 <155>).

b) Es bedarf vorliegend keiner Entscheidung, ob bereits vor dem obigen Urteil des Gerichtshofs der [X.] angesichts dessen bisheriger Rechtsprechung (insbesondere [X.], Urteile vom 21. Dezember 2016, [X.] und [X.] u.a., [X.]/15 und [X.]/15, [X.]:C:2016:970 und vom 6. Oktober 2020, [X.] u.a., [X.], [X.]/18 und [X.], [X.]:[X.]) Anlass dafür bestanden hätte, sich mit der Frage einer möglichen Unanwendbarkeit der angegriffenen Vorschriften zu befassen. Denn jedenfalls nach dem Ergehen des Urteils vom 20. September 2022 zur sogenannten Vorratsdatenspeicherung in [X.] musste es sich den Beschwerdeführenden aufdrängen, zur Frage ihres fortbestehenden Rechtsschutzbedürfnisses nachzutragen.

aa) So hat das [X.] in seinem Beschluss vom 25. September 2019 - 6 C 12.18 - die Aussetzung des Verfahrens und die notwendige Vorlage an den Gerichtshof der [X.] ausdrücklich mit einer möglichen Unanwendbarkeit der vorliegend angegriffenen Vorschriften begründet. Der Vorlagebeschluss führt dabei unter anderem die von den Beschwerdeführenden ursprünglich angegriffenen Vorschriften weitgehend explizit auf und legt diese der Vorlagefrage zugrunde. Sei die Regelung in § 113a Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 113b [X.] in der Fassung vom 10. Dezember 2015 mit dem Unionsrecht nicht vereinbar, dürfe sie - da eine unionsrechtskonforme Auslegung nicht in Betracht komme - wegen des Grundsatzes des Vorrangs des Unionsrechts nicht angewendet werden (vgl. [X.], Beschluss vom 25. September 2019 - 6 C 12.18 -, Rn. 5). Die Vorlagefrage umfasst neben den Einzelheiten - unter anderem Dauer und Umfang - der Speicherungspflicht der Betreiber, den jeweiligen [X.] und den Sicherungsmechanismen vor etwaigem Missbrauch insbesondere auch die intendierte Verwendung der gespeicherten Daten.

bb) Auf diese Vorlage hin hat der Gerichtshof der [X.] mit Urteil vom 20. September 2022, [X.] u.a., [X.]/19, [X.]/19, [X.]:[X.] unter Bestätigung seiner früheren Rechtsprechung im Wesentlichen entschieden, dass die Richtlinie 2002/58/[X.] und des Rates vom 12. Juli 2002 über die Verarbeitung personenbezogener Daten und den Schutz der Privatsphäre in der elektronischen Kommunikation (Datenschutzrichtlinie für elektronische Kommunikation - ABl [X.], [X.]) in der durch die Richtlinie 2009/136/[X.] und des Rates vom 25. November 2009 ([X.], [X.]) geänderten Fassung im Licht der Art. 7, 8 und 11 sowie von Art. 52 Abs. 1 der [X.] der Grundrechte der [X.] nationalen Rechtsvorschriften entgegenstehe, die präventiv zur Bekämpfung schwerer Kriminalität und zur Verhütung schwerer Bedrohungen der öffentlichen Sicherheit eine allgemeine und unterschiedslose Vorratsspeicherung von Verkehrs- und Standortdaten vorsähen (vgl. [X.], a.a.[X.], Rn. 131). Dabei sind in Art. 7 und 8 der [X.] und auf den Schutz personenbezogener Daten verankert, in Art. 11 der [X.] der Meinungsäußerung und in Art. 52 Abs. 1 der [X.] insbesondere der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.

Eine allgemeine und unterschiedslose Vorratsspeicherung von Verkehrs- und Standortdaten sei nur unter verschiedenen engen Voraussetzungen zulässig, wenn sich der betreffende Mitgliedstaat einer als real und aktuell oder vorhersehbar einzustufenden ernsten Bedrohung für die nationale Sicherheit gegenübersehe. Zum Schutz der nationalen Sicherheit, zur Bekämpfung schwerer Kriminalität und zur Verhütung schwerer Bedrohungen der öffentlichen Sicherheit könnten die Mitgliedstaaten jedoch unter strikter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit und weiterer Voraussetzungen insbesondere eine gezielte Vorratsspeicherung und/oder umgehende Sicherung solcher Daten sowie eine allgemeine und unterschiedslose Speicherung von [X.] (IP-Adressen) vorsehen (vgl. [X.], a.a.[X.], Rn. 100 f., 131).

c) Um den Substantiierungsanforderungen zu genügen, hätten die Beschwerdeführenden vor diesem Hintergrund vortragen müssen, inwieweit noch ein Rechtsschutzbedürfnis für eine Prüfung der angegriffenen Vorschriften am Maßstab des Grundgesetzes fortbestehen sollte. Unerheblich ist dabei, dass die Regelungen zwischenzeitlich durch das Telekommunikationsmodernisierungsgesetz neugefasst wurden und sich nunmehr in § 175 Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 176 [X.] in der Fassung vom 23. Juni 2021 finden. Zum einen ging hiermit gerade keine inhaltliche Änderung einher, zum anderen erstreckte sich die Vorlagefrage auf das insoweit unverändert gebliebene Regelungskonzept der [X.] anlasslosen Vorratsdatenspeicherung. Es fehlt insofern auch an einem Vortrag dazu, inwieweit die hier ebenso angegriffene Regelung zur Verwendung von Daten (§ 113c Abs. 1 [X.] a.F. beziehungsweise § 177 Abs. 1 [X.] n.F.) sowie die korrespondierenden strafprozessualen [X.] (§ 100g Abs. 2 und § 100g Abs. 3 Satz 2 in Verbindung mit § 100g Abs. 2 StPO a.F. und n.F.) von dem Regelungskonzept der anlasslosen Vorratsdatenspeicherung nicht erfasst und die dazu ergangene Rechtsprechung des Gerichtshofs der [X.] nicht maßgeblich sein sollte.

d) Zu einem fortbestehenden Rechtsschutzbedürfnis fehlt damit hinreichender Vortrag der Beschwerdeführenden. Dessen Relevanz hätte sich aber umso mehr aufdrängen müssen, als die Beschwerdeführenden wegen bestehender Zweifel an der [X.] mit ihrer Verfassungsbeschwerde ursprünglich selbst angeregt hatten, dem Gerichtshof der [X.] die Frage der Vereinbarkeit der angegriffenen Vorschriften insbesondere mit Art. 7 und 8 der [X.] der Grundrechte der [X.] vorzulegen. Auch sind sie im hiesigen Verfassungsbeschwerdeverfahren mit Verfügung vom 5. Januar 2022 auf das vor dem Gerichtshof der [X.] anhängige Verfahren zur Vorratsdatenspeicherung ausdrücklich hingewiesen worden. Nachdem dieser die Frage deren Vereinbarkeit mit dem Unionsrecht geklärt hat, haben die Beschwerdeführenden sich jedoch nicht mehr verhalten.

Von einer Begründung im Übrigen wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 [X.] abgesehen.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Meta

1 BvR 141/16

15.02.2023

Bundesverfassungsgericht 1. Senat 1. Kammer

Nichtannahmebeschluss

Sachgebiet: BvR

Zitier­vorschlag: Bundesverfassungsgericht, Nichtannahmebeschluss vom 15.02.2023, Az. 1 BvR 141/16 (REWIS RS 2023, 1289)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2023, 1289

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