Bundesverfassungsgericht, Nichtannahmebeschluss vom 04.10.2022, Az. 1 BvR 382/21

1. Senat 2. Kammer | REWIS RS 2022, 7468

Foto: © Bundesverfassungsgericht │ foto USW. Uwe Stohrer, Freiburg

TARIFVERTRÄGE VERFASSUNGSBESCHWERDE

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Gegenstand

Nichtannahmebeschluss: Abschluss von Arbeitsverträgen durch Länder als Privatrechtssubjekte und tariffähige Arbeitgeber begründet keine materielle Grundrechtsfähigkeit - fachgerichtliche Entscheidung über Auslegung einer tarifvertraglichen Regelung (hier: § 12 Abs 1 TV-L) begründet keine Beschwerdebefugnis des tarifschließenden Arbeitgeberverbandes


Tenor

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.

Gründe

1

1. Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen zwei Urteile des [X.], in denen die Auslegung des Tarifvertrags für den öffentlichen Dienst der Länder ([X.]) vom 12. Oktober 2006 in der Fassung des [X.] Nr. 11 vom 2. März 2019 zwischen der [X.] ([X.]) und [X.] - [X.] sowie der [X.] und [X.] streitig war. Gegenstand war insbesondere § 12 [X.] in Verbindung mit Anlage A - Entgeltordnung zum [X.] - Teil II Abschnitt 12 Beschäftigte im Justizdienst - Unterabschnitt 12.1 Beschäftigte bei Gerichten und Staatsanwaltschaften mit der Frage, was tarifrechtlich als Arbeitsergebnis zu verstehen sei.

2

Ausgangspunkt war in beiden fachgerichtlichen Verfahren ein Eingruppierungsrechtsstreit jeweils einer Beschäftigten in einer Serviceeinheit bei einem Amtsgericht. Sie machten rückwirkend [X.] zwischen der [X.] 6 und der [X.] 9 beziehungsweise 9a sowie für die Zukunft eine Vergütung nach der [X.] 9a geltend. Das [X.] sprach beiden Beschäftigten eine Vergütung nach der [X.] 9 beziehungsweise 9a zu. Alle Tätigkeiten in der Serviceeinheit seien ihnen einheitlich zugewiesen und führten zu einem Arbeitsergebnis. Die gesamte Tätigkeit diene dem Arbeitsergebnis der Betreuung der Aktenvorgänge in der Serviceeinheit, vom Eingang bis zum Abschluss des Verfahrens.

3

2. Beschwerdeführerin zu 1) ist das Land als Arbeitgeberin, die nach Wiedereintritt mit Wirkung vom 1. Januar 2013 Mitglied der tarifschließenden Arbeitgebervereinigung ist, der Beschwerdeführerin zu 2). Die Beschwerdeführerin zu 2) hat den hier verfahrensgegenständlichen Tarifvertrag auf Arbeitgeberseite geschlossen, war aber an den fachgerichtlichen Ausgangsverfahren nicht beteiligt.

4

3. Mit der Verfassungsbeschwerde wird eine Verletzung der in Art. 9 Abs. 3 GG verfassungsrechtlich garantierten Tarifautonomie geltend gemacht. Das [X.] habe zudem die spezifischen Grenzen der zulässigen Auslegung von tarifvertraglichen Regelungen überschritten, was Art. 9 Abs. 3 in Verbindung mit Art. 2 Abs. 1 und Art. 20 Abs. 2 und 3 GG verletze. Das Land sei als tariffähiger Arbeitgeber beschwerdefähig; der Abschluss von Tarifverträgen sei kollektiv ausgeübte Privatautonomie, weshalb das Land insoweit nicht hoheitlich handele. Der [X.] sei ausnahmsweise durch die Urteilsgründe der Entscheidungen des [X.] drittbeschwert.

5

Die Verfassungsbeschwerde ist nicht zur Entscheidung anzunehmen. Die Sache hat keine grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung und eine Annahme ist auch nicht zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 [X.] genannten Rechte angezeigt (§ 93a Abs. 2 [X.]). Die Verfassungsbeschwerde ist insgesamt unzulässig.

6

1. Die Verfassungsbeschwerde der Beschwerdeführerin zu 1) ist unzulässig, denn das Land ist nicht beschwerdeberechtigt.

7

a) Juristische Personen des öffentlichen Rechts können materielle Grundrechte grundsätzlich nicht geltend machen (vgl. [X.] 143, 246 <313 Rn. 187> m.w.N.; zuletzt [X.], Beschluss der [X.] des [X.] vom 15. Dezember 2020 - 1 BvR 1395/19 -, Rn. 31), sondern sich nur auf die justiziellen Rechte aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 und aus Art. 103 Abs. 1 GG berufen (vgl. [X.] 61, 82 <104>; 138, 64 <83 Rn. 55> m.w.N.). Der Staat kann nicht gleichzeitig Adressat und Berechtigter der Grundrechte sein (vgl. [X.] 15, 256 <262>; 21, 362 <370>). Anderes gilt für jene juristischen Personen des öffentlichen Rechts, die unmittelbar einem durch bestimmte Grundrechte geschützten Lebensbereich zugeordnet sind oder ihm [X.] von vornherein zugehören, wie Rundfunkanstalten, Universitäten und deren Fakultäten oder Kirchen und sonstige öffentlich-rechtliche Weltanschauungsgemeinschaften (vgl. [X.] 143, 246 <313 f. Rn. 188 f.>).

8

b) Danach kann sich die Beschwerdeführerin zu 1) weder auf Art. 9 Abs. 3 GG noch auf Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG berufen. Sie ist insoweit nicht beschwerdeberechtigt. Zwar ist das Land als Arbeitgeberin zum Abschluss von Tarifverträgen berechtigt. Das tarifvertragliche Handeln und die damit bewirkte Normsetzung sind ungeachtet der normativen Wirkung, die Tarifnormen nach § 1 [X.] zukommt, auch als kollektiv ausgeübte Privatautonomie zu verstehen (vgl. [X.] 146, 71 <120 Rn. 147>). Soweit die Beschwerdeführerin zu 1) Personen auf arbeitsrechtlicher Grundlage beschäftigt, betätigt sie sich ebenfalls als Privatrechtssubjekt (vgl. [X.] 88, 103 <116>). Doch ergibt sich daraus keine Ausnahme von dem Grundsatz der fehlenden Grundrechtsfähigkeit juristischer Personen des öffentlichen Rechts. Das Land ist hier keine eigenständige, vom Staat unabhängige oder jedenfalls distanzierte Einrichtung, die unmittelbar dem durch ein spezifisches Grundrecht geschützten Lebensbereich zuzuordnen wäre und in diesem Lebensbereich den Bürgerinnen und Bürgern zur Verwirklichung ihrer Grundrechte diente (vgl. [X.] 21, 362 <373 f.>; 68, 193 <207> m.w.N.; dazu [X.], Beschluss der [X.] des Zweiten Senats vom 29. Mai 2007 - 2 BvR 695/07 -, Rn. 22; stRspr). Eine darüber hinausgehende Ausdehnung der Grundrechtsfähigkeit auf juristische Personen des öffentlichen Rechts wäre grundsätzlich mit dem primären Sinn der Grundrechte, den Schutz der Einzelnen vor Eingriffen der staatlichen Gewalt zu gewährleisten, nicht mehr vereinbar. Sie könnte dazu führen, dass die Grundrechte in ihr Gegenteil verkehrt werden, wenn Grundrechtsschutz zugunsten der öffentlichen Hand damit letztlich gegen die Bürgerinnen und Bürger gewendet wird (vgl. [X.] 59, 231 <254 f.>). Damit wird die Parität der Tarifvertragsparteien zur Gestaltung von Arbeitsverhältnissen mit staatlichen Arbeitgebern nicht aufgehoben, denn diesen steht bei unlösbaren Konflikten der fachgerichtliche Rechtsweg und dessen verfassungsgerichtliche Überprüfung anhand der [X.] zur Verfügung.

9

2. Auch die Verfassungsbeschwerde der Beschwerdeführerin zu 2) ist unzulässig. Sie ist nicht beschwerdebefugt und ihre Verfassungsbeschwerde wahrt nicht den Grundsatz der Subsidiarität (§ 90 Abs. 2 [X.]).

a) Die Beschwerdebefugnis setzt die Behauptung voraus, durch Akte der öffentlichen Gewalt in Grundrechten verletzt zu sein. Der angegriffene Akt muss geeignet sein, die Beschwerdeführenden selbst, unmittelbar und gegenwärtig in ihren grundrechtlich geschützten Rechtspositionen zu beeinträchtigen (vgl. [X.] 1, 97 <101 ff.>; 53, 30 <48>; 115, 118 <137>; stRspr).

Das ist hier nicht der Fall. Die Beschwerdeführerin zu 2) ist durch die angegriffenen Entscheidungen des [X.] nicht unmittelbar adressiert, da sie weder [X.] noch Beteiligte des [X.] war. Sie hat zwar den verfahrensgegenständlichen Tarifvertrag abgeschlossen, doch bindet die gerichtliche Entscheidung rechtlich nur im Verhältnis zwischen den Prozessparteien (§ 46 Abs. 2 Satz 1 ArbGG, § 495 ZPO i.V.m. § 322 Abs. 1 ZPO). Zwar wirken die hier angegriffenen Entscheidungen mittelbar auf das [X.] ein. Das genügt jedoch für die Beschwerdebefugnis nicht.

b) Darüber hinaus genügt die Verfassungsbeschwerde der Beschwerdeführerin zu 2) nicht dem Grundsatz der Subsidiarität. Danach müssen vor Einlegung einer Verfassungsbeschwerde alle zur Verfügung stehenden prozessualen Möglichkeiten ergriffen werden, um eine Korrektur der geltend gemachten Verfassungsverletzung zu erwirken oder eine Grundrechtsverletzung zu verhindern (vgl. [X.] 123, 148 <172>; 134, 242 <285 Rn. 150>; stRspr). Eine Verfassungsbeschwerde ist folglich unzulässig, wenn in zumutbarer Weise Rechtsschutz durch die Anrufung der Fachgerichte erlangt werden kann.

Das ist hier der Fall. Die Beschwerdeführerin zu 2) hätte den Inhalt des verfahrensgegenständlichen Tarifvertrages nach § 9 [X.] gerichtlich mit verbindlicher Wirkung für die [X.] losgelöst vom Einzelfall klären lassen können. Eine Verbandsklage ist auch dann zulässig, wenn sie lediglich die Gültigkeit oder Auslegung einer einzelnen Tarifnorm betrifft (vgl. [X.], Urteil vom 28. September 1977 - 4 [X.] -, [X.] Nr. 1 zu § 9 [X.] 1969). Die [X.] hätte ihre Argumente zur Auslegung von § 12 Abs. 1 [X.] in Verbindung mit der Protokollerklärung Nr. 1 zu § 12 Abs. 1 (Aufspaltungsverbot) und des Unterabschnitts 1 von Teil II Abschnitt 1 der Entgeltordnung zum [X.] (Beschäftigte bei Gerichten und Staatsanwaltschaften) in einem solchen Verfahren vorbringen können. Hier ist nicht erkennbar, weshalb dies unzumutbar sein sollte. Die Beschreitung des Rechtswegs würde auch hier vielmehr verhindern, dass das [X.] über eine solche fachliche Frage auf ungesicherter Tatsachen- und Rechtsgrundlage entscheidet (vgl. [X.] 123, 148 <173>; 138, 261 <271 f.> m.w.N.).

Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 [X.] abgesehen.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Meta

1 BvR 382/21

04.10.2022

Bundesverfassungsgericht 1. Senat 2. Kammer

Nichtannahmebeschluss

Sachgebiet: BvR

vorgehend BAG, 9. September 2020, Az: 4 AZR 195/20, Urteil

Art 9 Abs 3 GG, § 90 Abs 1 BVerfGG, § 90 Abs 2 S 1 BVerfGG, § 9 TVG, § 12 Abs 1 TV-L, Anl A Abschn II Nr 12.1 Entgeltgr 9a Fallgr 2 TV-L

Zitier­vorschlag: Bundesverfassungsgericht, Nichtannahmebeschluss vom 04.10.2022, Az. 1 BvR 382/21 (REWIS RS 2022, 7468)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2022, 7468


Verfahrensgang

Der Verfahrensgang wurde anhand in unserer Datenbank vorhandener Rechtsprechung automatisch erkannt. Möglicherweise ist er unvollständig.

Az. 1 BvR 382/21

Bundesverfassungsgericht, 1 BvR 382/21, 04.10.2022.


Az. 4 AZR 195/20

Bundesarbeitsgericht, 4 AZR 195/20, 09.09.2020.


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1 BvR 1395/19

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