Bundesverfassungsgericht, Nichtannahmebeschluss vom 15.01.2024, Az. 1 BvR 1615/23

1. Senat 3. Kammer | REWIS RS 2024, 181

Foto: © Bundesverfassungsgericht │ foto USW. Uwe Stohrer, Freiburg

BUNDESVERFASSUNGSGERICHT (BVERFG) STAATSRECHT UND STAATSORGANISATIONSRECHT GRUNDGESETZ GRUNDRECHTE DIGITALISIERUNG RICHTER FINANZGERICHT MÜNCHEN

Tags hinzufügen

Sie können dem Inhalt selbst Schlagworten zuordnen. Geben Sie hierfür jeweils ein Schlagwort ein und drücken danach auf sichern, bevor Sie ggf. ein neues Schlagwort eingeben.

Beispiele: "Befangenheit", "Revision", "Ablehnung eines Richters"

QR-Code

Gegenstand

Nichtannahmebeschluss: Fehlender Nahblick bei Videoverhandlung gem § 91a FGO kann keine Verletzung von Art 101 Abs 1 S 2 GG begründen - allerdings Verletzung des Anspruchs auf ein faires Verfahren nicht ausgeschlossen - Verfassungsbeschwerde teils mangels Darlegung der Möglichkeit einer Grundrechtsverletzung, teils mangels substantiierter Begründung unzulässig


Tenor

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.

Entscheidungsgründe

1

1. Die Beschwerdeführer sehen sich in ihrem Recht auf den gesetzlichen [X.] nach Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verletzt, weil ihnen im Rahmen der von ihnen nach § 91a FGO beantragten Videoverhandlung durch den Einsatz nur einer Kamera, die die gesamte [X.]bank in der Totalen abbildete, und mangels von ihnen steuerbarer Zoomfunktion die Möglichkeit genommen worden sei, die Unvoreingenommenheit der [X.] durch einen Blick ins Gesicht zu überprüfen.

2

2. Die Verfassungsbeschwerde ist nicht zur Entscheidung anzunehmen, da [X.] nach § 93a Abs. 2 [X.] nicht vorliegen. Der Verfassungsbeschwerde kommt weder grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung zu, weil die wesentlichen verfassungsrechtlichen Fragen zum Recht auf den gesetzlichen [X.] in diesem Zusammenhang geklärt sind, noch ist ihre Annahme zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 [X.] genannten Rechte der Beschwerdeführer angezeigt. Eine Verletzung des Rechts auf den gesetzlichen [X.] wegen eines fehlenden Nahblicks in die Gesichter der [X.] im Laufe einer Vi-deoverhandlung erscheint nicht möglich.

3

a) Nach Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG darf niemand seinem gesetzlichen [X.] entzogen werden. Das bedeutet zunächst, dass in jedem Einzelfall kein anderer als derjenige [X.] tätig werden und entscheiden soll, der in den allgemeinen Normen der Gesetze und der Geschäftsverteilungspläne der Gerichte dafür vorgesehen ist (vgl. [X.] 4, 412 <416>; [X.], Beschluss der [X.] des Zweiten Senats vom 1. Juli 2021 - 2 BvR 890/20 -, Rn. 13). Der Verfassungsbestimmung muss aber eine weitergehende Bedeutung beigemessen werden. Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG kann nicht als eine nur formale Bestimmung verstanden werden, die stets schon dann erfüllt ist, wenn die [X.]zuständigkeit allgemein und eindeutig geregelt ist (vgl. [X.] 21, 139 <145>).

4

Das Grundgesetz gewährleistet den Beteiligten eines gerichtlichen Verfahrens darüber hinaus, vor einem unabhängigen und unparteilichen [X.] zu stehen, der die [X.] und Distanz gegenüber allen Verfahrensbeteiligten und dem Verfahrensgegenstand bietet. Neben der sachlichen und persönlichen Unabhängigkeit des [X.]s (Art. 97 Abs. 1 und Abs. 2 GG) ist es wesentliches Kennzeichen der Rechtsprechung im Sinne des Grundgesetzes, dass die richterliche Tätigkeit von einem "nicht beteiligten [X.]" ausgeübt wird. Diese Vorstellung von neutraler Amtsführung ist mit den Begriffen "[X.]" und "Gericht" untrennbar verknüpft. Die richterliche Tätigkeit erfordert daher unbedingte Neu-tralität gegenüber den Verfahrensbeteiligten. Das Recht auf den gesetzlichen [X.] aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG gewährt deshalb nicht nur einen Anspruch auf den sich aus dem Gerichtsverfassungsgesetz, den [X.] sowie den Geschäftsverteilungs- und Besetzungsregelungen des Gerichts ergebenden [X.], sondern garantiert auch, dass der Betroffene nicht vor einem [X.] steht, der aufgrund persönlicher oder sachlicher Beziehungen zu den Verfahrensbeteiligten oder zum Streitgegenstand die gebotene Neutralität vermissen lässt. Dieses Verlangen nach Unvoreingenommenheit und Neutralität des [X.]s ist zugleich ein Gebot der Rechtsstaatlichkeit (vgl. [X.] 133, 168 <202 f., Rn. 62> m.w.N.). Die Frage, ob Befangenheitsgründe gegen die Mitwirkung eines [X.]s sprechen, berührt so die prozessuale Rechtsstellung der Verfahrensbeteiligten (vgl. [X.] 89, 28 <36>).

5

b) Hieran gemessen stellen die angegriffenen Entscheidungen keinen Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG dar.

6

Die Beschwerdeführer bemängeln gerade nicht, dass das [X.] tatsächlich nicht vorschriftsmäßig besetzt war, weil die [X.] nach Gesetz oder Geschäftsverteilung nicht zu einer Mitwirkung bestimmt gewesen wären oder sie nicht die gebotene Neutralität und Unabhängigkeit aufgewiesen hätten. Sie beanstanden vielmehr, dass während der Videoverhandlung nur eine einzige Kamera (ohne ihrerseits steuerbare Zoomfunktion) zum Einsatz gekommen ist und daher nicht die Möglichkeit bestanden habe, die über die Vollzähligkeit hinausgehende mentale Anwesenheit und Unvoreingenommenheit der [X.]bank überprüfen zu können. [X.] wird damit im [X.], dass insbesondere ein etwaiger Befangenheitsgrund für die Beschwerdeführer gegebenenfalls nicht erkennbar gewesen wäre.

7

Dies allein genügt aber noch nicht, um auf das Vorliegen eines bösen Scheins oder eines Verdachts der Befangenheit, die zu einer Verletzung des Rechts auf den gesetzlichen [X.] führen könnten, zu schließen. Nur die unrichtige Besetzung, nicht die fehlende Möglichkeit von deren (rechtzeitiger) Überprüfung begründet eine Verletzung des Rechts auf den gesetzlichen [X.] (anders der [X.] im Beschluss vom 30. Juni 2023 - [X.]/22 -, BFH/NV 2023, 1175 ff.). Entsprechend führt nur der tatsächlich befangene [X.], nicht dagegen der fehlende Nahblick und die damit einhergehende Unsicherheit, ob Verhalten oder Gestik und Mimik für eine Befangenheit sprechen könnten, zu einer fehlerhaften Besetzung des Gerichts. Der Schutz des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG kann nicht in den Bereich bloß möglicher Verletzungen vorverlagert werden. Anderenfalls würde der gesetzliche [X.] auch an spekulativen Erwägungen und dem Einlassungsgeschick der Beteiligten gemessen werden.

8

3. Durch die fehlende Überprüfungsmöglichkeit der Unvoreingenommenheit kann gegebenenfalls das Recht auf ein faires Verfahren verletzt werden. Einen Verstoß gegen dieses Prozessgrundrecht haben die Beschwerdeführer allerdings schon von vornherein nicht gerügt. Sie haben sich ausdrücklich und durchgängig nur auf Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG gestützt. Ein solcher Verstoß käme aber ausgehend von ihrem Vortrag vorliegend auch nicht als möglich in Betracht.

9

a) Das Recht auf ein faires Verfahren hat seine Wurzeln im Rechtsstaatsprinzip in Verbindung mit den Freiheitsrechten und Art. 1 Abs. 1 GG (vgl. [X.] 57, 250 <274 f.>; 118, 212 <230 f.>; 122, 248 <271>) und gehört zu den wesentlichen Grundsätzen eines rechtsstaatlichen Verfahrens (vgl. [X.] 38, 105 <111>; 46, 202 <210>). Es enthält keine in allen Einzelheiten bestimmten Ge- oder Verbote; vielmehr bedarf es der Konkretisierung je nach den sachlichen Gegebenheiten (vgl. [X.] 57, 250 <275 f.>; 70, 297 <308>; 130, 1 <25>). Diese Konkretisierung ist zunächst Aufgabe des Gesetzgebers und sodann, in den vom Gesetz gezogenen Grenzen, Pflicht der zuständigen Gerichte bei der ihnen obliegenden Rechtsauslegung und -anwendung (vgl. [X.] 63, 45 <61>; 64, 135 <145>; 122, 248 <272>; 133, 168 <200 Rn. 59>). Die Gerichte haben den Schutzgehalt der in Frage stehenden Verfahrensnormen und anschließend die Rechtsfolgen ihrer Verletzung zu bestimmen. Dabei sind Bedeutung und Tragweite des Rechts auf ein faires Verfahren angemessen zu berücksichtigen, damit dessen wertsetzende Bedeutung auch auf der [X.] gewahrt bleibt (vgl. zur Bedeutung der Grundrechte als objektive Wertordnung [X.] 7, 198 <205 ff.>; stRspr). Die Verkennung des Schutzgehalts einer verletzten Verfahrensnorm kann somit in das Recht des Beteiligten auf ein faires Verfahren eingreifen (vgl. [X.]K 9, 174 <188 f.>; 17, 319 <328>; [X.], Beschlüsse der [X.] des Zweiten Senats vom 15. Januar 2015 - 2 BvR 2055/14 -, Rn. 14 und vom 9. Dezember 2015 - 2 BvR 1043/15 -, Rn. 6).

b) Hieran gemessen ist durchaus denkbar, dass das Recht auf ein faires Verfahren gebietet, bei Anwendung des § 91a FGO zu beachten, dass eine hinreichende Überprüfungsmöglichkeit betreffend die Neutralität und Unabhängigkeit der [X.]bank für die Beteiligten gewährleistet bleibt. Auch ist nicht auszuschließen, dass die Beobachtungsmöglichkeiten bei [X.] nach derzeitigem Stand, gerade wenn aus der Distanz gefilmt wird, damit die gesamte [X.]bank erscheint, je nach den räumlichen Gegebenheiten oder gegebenenfalls der Qualität der eingesetzten technischen Hilfsmittel durchaus eingeschränkt sein und hinter der Beobachtungsmöglichkeit bei Anwesenheit vor Ort zurückbleiben können.

Allerdings haben die Beschwerdeführer, die die Durchführung einer Videoverhandlung selbst beantragt haben, ihre konkrete Situation vorliegend nicht hinreichend substantiiert beschrieben, um in ihrem Fall die Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren beurteilen zu können. Insbesondere geht aus ihrem Vortrag nicht hervor, dass eine fehlende Kontrollmöglichkeit nicht auf einer unzureichenden eigenen Ausstattung beruhte oder wie sich die konkreten örtlichen Gegebenheiten und die Übertragungsqualität sowie etwaige dadurch bedingte Einschränkungen darstellten. Ob daher tatsächlich keine Kontrollmöglichkeiten bestanden, kann nicht abschließend beurteilt werden.

4. Im Übrigen ist auch nicht erkennbar, dass die Beschwerdeführer im Laufe der mündlichen Verhandlung vor dem [X.] etwaige Einschränkungen bei der Beobachtungsfähigkeit von Verhalten oder nonverbaler Kommunikation beanstandet hätten. Damit ist auch die Wahrung der Anforderungen aus dem aus § 90 Abs. 2 Satz 1 [X.] abgeleiteten Grundsatz der Subsidiarität nicht dargetan.

5. Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 [X.] abgesehen.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Meta

1 BvR 1615/23

15.01.2024

Bundesverfassungsgericht 1. Senat 3. Kammer

Nichtannahmebeschluss

Sachgebiet: BvR

vorgehend BFH, 30. Juni 2023, Az: I B 60/22, Beschluss

Art 1 Abs 1 GG, Art 20 Abs 3 GG, Art 101 Abs 1 S 2 GG, § 23 Abs 1 S 2 BVerfGG, § 90 Abs 2 S 1 BVerfGG, § 92 BVerfGG, § 91a FGO

Zitier­vorschlag: Bundesverfassungsgericht, Nichtannahmebeschluss vom 15.01.2024, Az. 1 BvR 1615/23 (REWIS RS 2024, 181)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2024, 181

Auf dem Handy öffnen Auf Mobilgerät öffnen.


Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

Ähnliche Entscheidungen

1 BvR 436/17 (Bundesverfassungsgericht)

Stattgebender Kammerbeschluss: Besorgnis der Befangenheit kann bereits durch bestimmte richterliche Vorbereitungshandlungen begründet werden - Ablehnung …


2 BvR 890/20 (Bundesverfassungsgericht)

Stattgebender Kammerbeschluss: Ausführungen eines Richters des VG Gießen zu NPD-Wahlplakat "Migration tötet" begründen Besorgnis der …


2 BvR 1122/22 (Bundesverfassungsgericht)

Nichtannahmebeschluss: Keine Verletzung des Rechts auf den gesetzlichen Richter (Art 101 Abs 1 S 2 …


2 BvR 1750/12 (Bundesverfassungsgericht)

Teilweise stattgebender Kammerbeschluss: Verletzung von Art 101 Abs 1 S 2 GG durch unberechtigte Zurückweisung …


1 BvR 1883/22 (Bundesverfassungsgericht)

Nichtannahmebeschluss: Keine Verletzung des Rechts auf den gesetzlichen Richter (Art 101 Abs 1 S 2 …


Referenzen
Wird zitiert von

Keine Referenz gefunden.

Zitiert

2 BvR 1043/15

2 BvR 2055/14

V B 13/22

2 BvR 890/20

Literatur & Presse BETA

Diese Funktion steht nur angemeldeten Nutzern zur Verfügung.

Anmelden
Zitieren mit Quelle:
x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.