Bundesverfassungsgericht, Stattgebender Kammerbeschluss vom 01.07.2021, Az. 2 BvR 890/20

2. Senat 1. Kammer | REWIS RS 2021, 4406

Foto: © Bundesverfassungsgericht │ foto USW. Uwe Stohrer, Freiburg

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Beispiele: "Befangenheit", "Revision", "Ablehnung eines Richters"

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Gegenstand

Stattgebender Kammerbeschluss: Ausführungen eines Richters des VG Gießen zu NPD-Wahlplakat "Migration tötet" begründen Besorgnis der Befangenheit jenes Richters bzgl Asylklage eines afghanischen Asylsuchenden - Verletzung des Art 101 Abs 1 S 2 GG durch offensichtlich unhaltbare Behandlung eines darauf gestützten Ablehnungsgesuchs


Tenor

Der Beschluss des [X.] vom 29. April 2020 - 4 K 2860/17.GI.A - verletzt den Beschwerdeführer in seinem grundrechtsgleichen Recht aus Artikel 101 Absatz 1 Satz 2 Grundgesetz. Er wird aufgehoben.

Das [X.] hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen für das Verfassungsbeschwerdeverfahren zu erstatten.

Gründe

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1. Der Beschwerdeführer ist afghanischer Staatsangehöriger. Seinen im September 2016 gestellten Asylantrag lehnte das [X.] (im Folgenden: [X.]) durch Bescheid vom 23. März 2017 ab. Das hiergegen eingeleitete Klageverfahren übertrug die zuständige Kammer des [X.] auf den Einzelrichter. Mit Schriftsatz vom 19. Februar 2020 lehnte der Beschwerdeführer den Einzelrichter wegen Besorgnis der Befangenheit ab. Zur Begründung berief er sich auf ein Urteil des abgelehnten [X.]s vom 9. August 2019 (4 K 2279/19.GI, juris), in dem dieser einer Klage der [X.] ([X.]) gegen die Beseitigung eines Wahlplakats mit dem Slogan "[X.] Migration tötet! Widerstand jetzt" stattgegeben hatte. Es dränge sich der Eindruck auf, die Urteilsbegründung sei geeignet, rechtsextremistische, völkische und islamophobe Bestrebungen in der [X.] zu bestätigen und dadurch das teilweise asylfeindliche gesellschaftliche Klima zu verstärken. Insbesondere die Beschreibung der Situation im [X.] 2015, im Urteil als "Eindringen von außen in das [X.]" und "invasive Einreise" bezeichnet, lasse den Anfang 2016 eingereisten Beschwerdeführer befürchten, seine Klage werde bei diesem [X.] unabhängig von seinem Klagevorbringen erfolglos bleiben.

2

2. Durch die vom Beschwerdeführer in Bezug genommene Entscheidung hat das Verwaltungsgericht festgestellt, dass die angegriffene Beseitigungsanordnung wegen eines [X.]s rechtswidrig sei (dort Rn. 18 bis 23). Im [X.] daran (Rn. 39 bis 63) heißt es in der Entscheidung unter anderem: "Nach vorstehenden Ausführungen ist der Wortlaut des inkriminierten Wahlplakats der Klägerin 'Migration tötet' nicht als volksverhetzend zu qualifizieren, sondern als die Realität teilweise darstellend zu bewerten. In der Tat hat die Zuwanderungsbewegung nach [X.] ab dem Jahr 2014/2015 zu einer Veränderung innerhalb der [X.] geführt, die sowohl zum Tode von Menschen geführt hat als auch geeignet ist, auf lange Sicht zum Tod der freiheitlichen demokratischen Grundordnung zu führen. […] Allein dem erkennenden Gericht sind Fälle bekannt, in denen Asylbewerber zu Mördern wurden. Zu nennen ist hier […]".

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3. In einer dienstlichen Erklärung führte der abgelehnte [X.] aus, er halte sich nicht für befangen. Er unterscheide zwischen allgemeinen und indifferenten Wanderungsbewegungen einerseits und den individuellen guten [X.] eines Asylbewerbers andererseits, die er immer ernst nehme. Er hege für keine extremen Positionen oder Gewalt jedweder Art Sympathie, weder für rechts noch für links oder für religiösen Terror, die er allesamt ablehne.

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4. Mit Beschluss vom 29. April 2020 wies das Verwaltungsgericht durch eine Kammerentscheidung ohne Mitwirkung des abgelehnten [X.]s das Ablehnungsgesuch des Beschwerdeführers zurück. Werde die Besorgnis der Befangenheit aus einer früheren Entscheidung des [X.]s hergeleitet, sei zu beachten, dass eine solche nicht allein deshalb begründet sei, weil der [X.] bei der Würdigung des maßgeblichen Sachverhalts oder dessen rechtlicher Beurteilung eine andere Rechtsauffassung vertrete als ein Beteiligter. Das gelte selbst für irrige Ansichten, solange sie nicht willkürlich oder offensichtlich unhaltbar seien und damit Anhaltspunkte dafür böten, dass der Abgelehnte Argumenten nicht mehr zugänglich und damit nicht mehr unvoreingenommen sei. Das [X.] diene - vom Ausnahmefall eines Verstoßes gegen das Willkürverbot abgesehen - nicht dazu, richterliche Entscheidungen auf ihre Richtigkeit zu überprüfen.

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Der Bevollmächtigte des Beschwerdeführers berücksichtige in seiner Beurteilung des Urteils vom 9. August 2019, in dem in der Sache die Strafbarkeit eines Wahlplakats der [X.] mit dem Slogan "[X.] Migration tötet! Widerstand jetzt" zu beurteilen gewesen sei, bereits nicht die gerade zu diesem Plakat vorliegende höchstrichterliche Rechtsprechung. So habe der [X.] in einem die Entfernung dieses Plakats betreffenden Verfahren ausgeführt, dass die zugrundeliegenden angegriffenen Beschlüsse [X.] Verwaltungsgerichte auf der Beurteilung schwieriger rechtlicher Fragen beruhten, bezüglich derer von einer gefestigten Rechtsprechung keine Rede sein könne. Vor allen Dingen habe das [X.] in seinem das Plakat und die vorgenannten verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen betreffenden Beschluss vom 24. Mai 2019 - 1 BvQ 45/19 - ausgeführt, es bestünden Zweifel an der Einschätzung der Verwaltungsgerichte, dass die Plakate als Volksverhetzung zu beurteilen seien. Schließlich habe das [X.] die Frage, ob das streitgegenständliche Plakat den Tatbestand der Volksverhetzung erfülle und deshalb einen Verstoß gegen die öffentliche Sicherheit darstelle, ausdrücklich verneint und das [X.] gehe davon aus, dass diese Frage als offen anzusehen sei.

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Zudem sei auch sonst nicht ersichtlich, dass die Ausführungen des abgelehnten [X.]s in dem Urteil vom 9. August 2019 zur polizei- beziehungsweise strafrechtlichen Beurteilung des Plakats geeignet sein könnten, vernünftigerweise bei einem Ausländer Zweifel an dessen Unparteilichkeit in einem Asylverfahren hervorzurufen, dem internationale Sachverhalte zugrunde lägen und für das der Achtungsanspruch der universellen [X.] Flüchtlingskonvention und die [X.] maßgebend seien. Insbesondere lasse sich aus dem Urteil nicht ableiten, der [X.] hege eine gewisse Sympathie für die [X.] oder deren verfassungsfeindliche Ziele, was dieser in seiner dienstlichen Erklärung ausdrücklich verneint habe.

7

5. Mit durch den abgelehnten [X.] als Einzelrichter gefasstem Urteil vom 29. Juni 2020 hob das Verwaltungsgericht den gegen den Beschwerdeführer ergangenen Bescheid des [X.]s teilweise auf und verpflichtete das [X.], dem Beschwerdeführer den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen; im Übrigen wies es die Klage ab. Im Umfang der Klageabweisung ist ein Berufungszulassungsverfahren bei dem zuständigen [X.]hof anhängig, mit dem der Beschwerdeführer eine Verletzung von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG geltend macht.

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6. Der Beschwerdeführer hat Verfassungsbeschwerde erhoben. Er rügt allein eine Verletzung von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG. Das Verwaltungsgericht habe ihn in seinem Recht auf den gesetzlichen [X.] verletzt, weil es sein Ablehnungsgesuch zu Unrecht zurückgewiesen habe. Dabei habe es die Begründung des [X.] nicht hinreichend zur Kenntnis genommen und insbesondere den dort aufgezeigten gesellschaftlichen und politischen Kontext der zum Gegenstand des Ablehnungsgesuchs gemachten Entscheidung ausgeblendet. Der Beschwerdeführer habe nicht lediglich die Rechtsmeinung des abgelehnten [X.]s kritisiert, sondern umfassend dargelegt, dass die tendenziöse, durch die Sache nicht geforderte ausufernde Begründung die Besorgnis begründe, der abgelehnte [X.] könne mit den verfassungs- und ausländerfeindlichen Zielen der [X.] sympathisieren.

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Das Rechtsschutzinteresse für die Verfassungsbeschwerde sei durch die Teilstattgabe nicht entfallen, da über den Antrag auf Zulassung der Berufung im Umfang der Klageabweisung noch zu entscheiden sei.

7. Das [X.], für Bau und Heimat, das [X.] und das [X.] hatten Gelegenheit zur Stellungnahme. Die Akten des Ausgangsverfahrens haben dem [X.] vorgelegen.

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt. Die Voraussetzungen des § 93c Abs. 1 Satz 1 [X.] liegen vor. Das [X.] hat die hier maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen bereits entschieden. Die Verfassungsbeschwerde ist offensichtlich begründet.

Der Beschluss des [X.] Gießen vom 29. April 2020 verstößt gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG. Die Ablehnung des [X.] des Beschwerdeführers durch das Verwaltungsgericht erweist sich als willkürlich (1.). Der Grundsatz der materiellen Subsidiarität steht der Annahme der Verfassungsbeschwerde nicht entgegen; der Beschwerdeführer war nicht gehalten, den Abschluss des Berufungszulassungsverfahrens und gegebenenfalls des Berufungsverfahrens abzuwarten, um die ihn belastende Entscheidung über seinen Befangenheitsantrag erst dann dem [X.] durch Verfassungsbeschwerde zur Prüfung vorzulegen (2.).

1. a) Nach Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG darf niemand seinem gesetzlichen [X.] entzogen werden. Das bedeutet zunächst, dass in jedem Einzelfall kein anderer als derjenige [X.] tätig werden und entscheiden soll, der in den allgemeinen Normen der Gesetze und der Geschäftsverteilungspläne der Gerichte dafür vorgesehen ist (vgl. [X.] 4, 412 <416>). Der Verfassungsbestimmung muss aber eine weitergehende Bedeutung beigemessen werden. Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG kann nicht als eine nur formale Bestimmung verstanden werden, die stets dann schon erfüllt ist, wenn die [X.]zuständigkeit allgemein und eindeutig geregelt ist (vgl. [X.] 21, 139 <145>).

Das Grundgesetz gewährleistet den Beteiligten eines gerichtlichen Verfahrens darüber hinaus, vor einem unabhängigen und unparteilichen [X.] zu stehen, der die [X.] und Distanz gegenüber allen Verfahrensbeteiligten und dem Verfahrensgegenstand bietet. Neben der sachlichen und persönlichen Unabhängigkeit des [X.]s (Art. 97 Abs. 1 und Abs. 2 GG) ist es wesentliches Kennzeichen der Rechtsprechung im Sinne des Grundgesetzes, dass die richterliche Tätigkeit von einem "nicht beteiligten [X.]" ausgeübt wird. Diese Vorstellung von neutraler Amtsführung ist mit den Begriffen "[X.]" und "Gericht" untrennbar verknüpft. Die richterliche Tätigkeit erfordert daher unbedingte Neutralität gegenüber den Verfahrensbeteiligten. Das Recht auf den gesetzlichen [X.] aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG gewährt deshalb nicht nur einen Anspruch auf den sich aus dem Gerichtsverfassungsgesetz, den [X.] sowie den Geschäftsverteilungs- und Besetzungsregelungen des Gerichts ergebenden [X.], sondern garantiert auch, dass der Betroffene nicht vor einem [X.] steht, der aufgrund persönlicher oder sachlicher Beziehungen zu den Verfahrensbeteiligten oder zum Streitgegenstand die gebotene Neutralität vermissen lässt. Dieses Verlangen nach Unvoreingenommenheit und Neutralität des [X.]s ist zugleich ein Gebot der Rechtsstaatlichkeit (vgl. [X.] 133, 168 <202 f., Rn. 62> m.w.[X.]). Die Frage, ob Befangenheitsgründe gegen die Mitwirkung eines [X.]s sprechen, berührt so die prozessuale Rechtsstellung der Verfahrensbeteiligten (vgl. [X.] 89, 28 <36>).

Allerdings reicht für die Annahme eines Verstoßes gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG nicht jede irrtümliche Überschreitung der den Fachgerichten gezogenen Grenzen aus (vgl. [X.] 29, 166 <172 f.>). Auch ist nicht jede sonst fehlerhafte Anwendung oder Nichtbeachtung einer einfachgesetzlichen Verfahrensvorschrift zugleich eine Verfassungsverletzung; andernfalls würde die Anwendung einfachen Rechts auf [X.] des Verfassungsrechts gehoben werden (vgl. [X.] 82, 286 <299>; 87, 282 <284 f.>). Die Grenze zur Verfassungswidrigkeit ist erst überschritten, wenn die - fehlerhafte - Auslegung und Anwendung einfachen Rechts willkürlich ist (grundlegend [X.] 3, 359 <364 f.>), also in einer bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz beherrschenden Gedanken nicht mehr verständlichen und offensichtlich unhaltbaren Weise erfolgt (vgl. [X.] 29, 45 <49>), oder wenn das Gericht Bedeutung und Tragweite von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG grundlegend verkennt (vgl. [X.] 82, 286 <299>). Der Grundsatz, dass Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG nur dann verletzt ist, wenn willkürliche Erwägungen für die Bestimmung des entscheidenden [X.]s maßgebend waren oder diese auf einer grundlegenden Verkennung von Bedeutung und Tragweite von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG beruht, gilt auch dann, wenn ein Ablehnungsgesuch infolge fehlerhafter Anwendung einfachen Rechts zurückgewiesen wird (vgl. [X.] 29, 45 <48 f.> m.w.[X.]; 31, 145 <164>).

b) Hieran gemessen erweist sich die Ablehnung des [X.] des Beschwerdeführers durch den Beschluss des [X.] Gießen vom 29. April 2020 als offensichtlich unhaltbar und damit willkürlich.

Das Verwaltungsgericht hat bei Anwendung der einfachrechtlichen Befangenheitsvorschriften in nicht mehr nachvollziehbarer Weise übergangen, dass sich das Gesuch des Beschwerdeführers nicht als Kritik an der Rechtsmeinung des abgelehnten [X.]s in der vom Beschwerdeführer in Bezug genommenen Entscheidung des [X.] vom 9. August 2019 oder an der Beantwortung der - hier nicht entscheidungsbedürftigen - Rechtsfrage, ob der von der [X.] verwendete Slogan den Tatbestand der Volksverhetzung erfüllt, darstellt, sondern dass der Beschwerdeführer die - allesamt nicht entscheidungstragenden - Ausführungen des [X.] zur Migration zum Anlass für die [X.]ablehnung nimmt.

Diese Ausführungen im Urteil vom 9. August 2019 durften den Beschwerdeführer veranlassen, an der Unvoreingenommenheit des abgelehnten [X.]s zu zweifeln. Das gilt schon für die ausufernde historische Begründung für die Behauptung, Einwanderung stelle "naturgemäß eine Gefahr für kulturelle Werte an dem Ort dar, an dem die Einwanderung" stattfinde, und den Verweis darauf, dass die bestehende "Gefahr für die [X.] Kultur und Rechtsordnung sowie menschliches Leben" "nicht von der Hand zu weisen" sei. In hervorgehobenem Maße gilt es auch für die Passagen der Urteilsbegründung, in denen das Verwaltungsgericht ausführt, es handele sich bei der Wendung "Migration tötet" um eine empirisch zu beweisende Tatsache, und im Folgenden ihm vermeintlich bekannte Einzelfälle von Asylsuchenden anführt, die im Nachhinein wegen Mordes, anderer Tötungsdelikte oder sonstiger schwerer Straftaten verurteilt wurden. Diese Einzelfälle nimmt das Verwaltungsgericht sodann als Beleg dafür, dass Migration etwas mit Tod und Menschenverachtung zu tun haben könne und dass Zuwanderer durchaus in der Lage seien, Tötungsdelikte und Kapitalverbrechen in [X.] zu begehen. Damit verengt das Verwaltungsgericht den weitergreifenden Begriff der Migration auf die Gruppe der Asylsuchenden - die indes auf dem zu beurteilenden Wahlplakat keine Erwähnung fand - und stellt aus dieser Gruppe die später mit schweren Straftaten straffällig gewordenen Personen als prägend nicht nur für die Gruppe der Asylsuchenden, sondern für den gesamten Bereich der Migration dar. Vor diesem Hintergrund kommt es zu der Wertung, dass für den Fall, dass der [X.] Staat "einmal in die Handlungsunfähigkeit abrutschen" sollte, "das Recht zum Widerstand aus Art. 20 Abs. 4 GG ohnehin ". Hinzu kommt schließlich der Umstand, dass die Ausführungen zum [X.] im Urteil vom 9. August 2019 - die die Entscheidung für sich genommen tragen würden - nur etwa 15% der Urteilsgründe zur Unbegründetheit der Klage umfassen, während die vom Beschwerdeführer zur Begründung seiner Besorgnis der Befangenheit herangezogenen Passagen etwa 85% umfassen. Damit steht es dem genannten Urteil gleichsam auf die Stirn geschrieben, dass der [X.], der es abgefasst hat, Migration für ein grundlegendes, die Zukunft unseres Gemeinwesens bedrohendes Übel hält.

Die genannten und zahlreiche weitere Passagen waren offensichtlich geeignet, Misstrauen des Beschwerdeführers gegen die Unparteilichkeit des abgelehnten [X.]s zu begründen, insbesondere weil der Beschwerdeführer vor diesen [X.] als ein Asylsuchender hätte treten müssen, der Anfang 2016 in das [X.] eingereist ist und sich daher als Teil jener "Zuwanderungsbewegung nach [X.] ab dem Jahr 2014/2015" angesprochen sehen durfte, die nach Auffassung des [X.] im Urteil vom 9. August 2019 zu einer Veränderung innerhalb der [X.] geführt habe, die sowohl zum Tode von Menschen geführt habe als auch geeignet sei, auf lange Sicht zum "Tod" der freiheitlichen demokratischen Grundordnung zu führen. Das Verwaltungsgericht hat in dem angegriffenen Beschluss den Vortrag des Beschwerdeführers zu diesen Aspekten in sachlich nicht mehr nachvollziehbarer Verkennung des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG fehlgewichtet.

Der Umstand, dass das Verwaltungsgericht durch den vom Beschwerdeführer abgelehnten [X.] inzwischen der Klage des Beschwerdeführers teilweise - soweit die Klage auf Verpflichtung zur Zuerkennung subsidiären Schutzes gerichtet ist - stattgegeben hat, steht dem nicht entgegen. Maßgeblich für die Entscheidung über den Befangenheitsantrag ist die Lage, wie sie sich im Entscheidungszeitpunkt, also vor der Sachentscheidung, darstellt. Im Übrigen ist das Urteil zwar hinsichtlich der Zuerkennung subsidiären Schutzes rechtskräftig geworden, da insoweit kein Rechtsmittel eingelegt worden ist. Soweit die Klage indes abgewiesen worden ist, beruht dies auf der Entscheidung eines [X.]s, dessen Verhalten begründeten Anlass zur Besorgnis der Befangenheit gegeben hat. In diesem Umfang ist das Verfahren noch beim [X.]hof anhängig und bedarf der Entscheidung unter Wahrung der Gewährleistung aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG.

2. Der in § 90 Abs. 2 Satz 1 [X.] zum Ausdruck kommende Grundsatz der Subsidiarität steht der Annahme der Verfassungsbeschwerde und einer Stattgabe im vorliegenden Einzelfall nicht entgegen. Nach diesem Grundsatz muss ein Beschwerdeführer über das Gebot der Erschöpfung des Rechtswegs im engeren Sinne hinaus alle nach Lage der Sache zur Verfügung stehenden weiteren Möglichkeiten ergreifen, um eine Korrektur der geltend gemachten Verfassungsverletzung zu erreichen oder diese zu verhindern (vgl. [X.] 81, 22 <27>; 104, 65 <70>, stRspr). Diese Voraussetzungen liegen hier indes nicht vor.

Zwar hätte der Beschwerdeführer versuchen können, durch die Zulassung der Berufung wegen Verletzung des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG eine Korrektur der geltend gemachten Verfassungsverletzung zu erreichen. Denn auch wenn nach überwiegender Rechtsprechung der Oberverwaltungsgerichte ein Antrag auf Zulassung der Berufung grundsätzlich nicht darauf gestützt werden kann, dass ein Befangenheitsantrag während des der Sachentscheidung vorausgehenden Verfahrens zu Unrecht abgelehnt worden sei, lässt eine verbreitete Auffassung hiervon eine Ausnahme für den Fall zu, dass eine auf willkürlichen oder manipulativen Erwägungen beruhende Zurückweisung des Befangenheitsgesuchs geltend gemacht wird (vgl. [X.], 72 <75> m.w.[X.]).

Der Hessische [X.]hof hat sich jedoch, soweit erkennbar, bislang noch nicht zur Zulässigkeit eines auf einen Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG gestützten [X.] geäußert, so dass die Erfolgsaussichten des vorliegend gestellten [X.] als offen bezeichnet werden müssen. Dem Beschwerdeführer war es deshalb - und wegen des breit gefächerten [X.], das die von ihm in Bezug genommene Entscheidung ausgelöst hat - nicht zumutbar, sich einer mündlichen Verhandlung zu stellen, ohne dass die Frage der Befangenheit des an sich zuständigen [X.]s zuvor abschließend geklärt war.

1. Eine Zurückverweisung an das Verwaltungsgericht kommt nicht in Betracht, da die Sache beim [X.]hof anhängig ist.

2. Die Anordnung der Auslagenerstattung folgt aus § 34a Abs. 2 [X.].

Meta

2 BvR 890/20

01.07.2021

Bundesverfassungsgericht 2. Senat 1. Kammer

Stattgebender Kammerbeschluss

Sachgebiet: BvR

vorgehend VG Gießen, 29. April 2020, Az: 4 K 2860/17.GI.A, Beschluss

Art 101 Abs 1 S 2 GG, § 93c Abs 1 S 1 BVerfGG, § 54 Abs 1 VwGO, § 42 Abs 2 ZPO

Zitier­vorschlag: Bundesverfassungsgericht, Stattgebender Kammerbeschluss vom 01.07.2021, Az. 2 BvR 890/20 (REWIS RS 2021, 4406)

Papier­fundstellen: NJW 2021, 2955 REWIS RS 2021, 4406

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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