BT-Drucksache 16/5455

Überwachung von Abgeordneten durch den Verfassungsschutz beenden

Vom 23. Mai 2007


Deutscher Bundestag Drucksache 16/5455
16. Wahlperiode 23. 05. 2007

Antrag
der Abgeordneten Bodo Ramelow, Ulla Jelpke, Hüseyin-Kenan Aydin, Dr. Dietmar
Bartsch, Karin Binder, Dr. Lothar Bisky, Heidrun Bluhm, Eva Bulling-Schröter,
Dr. Martina Bunge, Roland Claus, Sevim Dag˘delen, Dr. Diether Dehm, Werner
Dreibus, Dr. Dagmar Enkelmann, Klaus Ernst, Wolfgang Gehrcke, Diana Golze,
Dr. Gregor Gysi, Heike Hänsel, Lutz Heilmann, Hans-Kurt Hill, Cornelia Hirsch,
Inge Höger, Dr. Barbara Höll, Dr. Lukrezia Jochimsen, Dr. Hakki Keskin, Katja
Kipping, Monika Knoche, Jan Korte, Katrin Kunert, Oskar Lafontaine, Michael
Leutert, Ulla Lötzer, Dr. Gesine Lötzsch, Ulrich Maurer, Dorothee Menzner, Kornelia
Möller, Kersten Naumann, Wolfgang Neskovic, Dr. Norman Paech, Petra Pau, Elke
Reinke, Paul Schäfer (Köln), Volker Schneider (Saarbrücken), Dr. Herbert Schui,
Dr. Ilja Seifert, Dr. Petra Sitte, Frank Spieth, Dr. Kirsten Tackmann, Dr. Axel Troost,
Alexander Ulrich, Jörn Wunderlich, Sabine Zimmermann und der Fraktion
DIE LINKE.

Überwachung von Abgeordneten durch den Verfassungsschutz beenden

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

1. Mehrere Abgeordnete des Deutschen Bundestages werden von den Verfas-
sungsschutzbehörden in Bund und Ländern überwacht und ausgeforscht. Das
Bundesamt für Verfassungsschutz hält zumindest Tätigkeit und Äußerungen
von Abgeordneten der Fraktion DIE LINKE. in einer so genannten Sachakte
fest.

2. Die Beobachtung und Ausforschung von Abgeordneten des Deutschen Bun-
destages und die Anlage einer so genannten Sachakte über die Fraktion DIE
LINKE. verstoßen gegen den verfassungsrechtlich geschützten Grundsatz
der freien Mandatsausübung nach Artikel 38 Abs. 1 Satz 2 des Grundgeset-
zes (GG). Zur freien Ausübung des von den Wählerinnen und Wählern erteil-
ten Mandats gehört die Kontaktpflege zu anderen Abgeordneten und vor al-
lem zu den Bürgerinnen und Bürgern. Wenn diese befürchten müssen, dass
der Kontakt zu Abgeordneten des Deutschen Bundestages von Geheimdiens-
ten registriert wird, schränkt dies die freie Mandatsausübung wesentlich ein.
Abgeordnete, die wissen oder zumindest damit rechnen müssen, vom Verfas-

sungsschutz beobachtet zu werden, könnten hierdurch veranlasst werden, ein
bestimmtes Verhalten einzunehmen, um sich sowie ihre Gesprächspartner
vor einer Beobachtung zu schützen. Dies kann selbst zu einer Beeinflussung
des Abstimmungsverhaltens oder der Formulierung von Redebeiträgen füh-
ren. Dabei erstreckt sich der Schutz des freien Mandats nicht nur auf die in-
nerparlamentarische Tätigkeit, sondern auf die ganze parlamentsbezogene
Arbeit, also auch auf Tätigkeiten im Wahlkreis, Teilnahme an und Reden auf

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Demonstrationen u. ä. Die freie Kommunikation der Abgeordneten ist ein
unverzichtbarer Bestandteil der parlamentarischen Arbeit. Die Kenntnis von
der Beobachtung bestimmter Abgeordneter durch einen Geheimdienst kann
auf andere Abgeordnete sowie auf Bürgerinnen und Bürger abschreckend
wirken. Letztlich kann sie diese Kenntnis davon abhalten, den Kontakt zu
solchen Abgeordneten aufzunehmen oder beizubehalten – zumal durch Kon-
takte zu beobachteten Personen und Einrichtungen die „Kontaktpersonen“
selbst zu Beobachtungsobjekten des Verfassungsschutzes werden können.
Dies schränkt die Parlamentsarbeit in unzulässiger Weise ein.

3. Die Beobachtung der parlamentarischen Tätigkeit von Abgeordneten des
Deutschen Bundestages verstößt gegen den Grundsatz der Indemnität nach
Artikel 46 Abs. 1 GG. Der Indemnitätsschutz bezieht sich auf alle innerpar-
lamentarischen Äußerungen, seien es Reden, Abstimmungsverhalten, Bei-
träge in den Ausschüssen oder in amtlichen Bundestagsdrucksachen. Der
Schutz vor einer wie auch immer gearteten Beeinträchtigung durch staatliche
Stellen ist – mit Ausnahme der in Artikel 46 Abs. 1 genannten verleumderi-
schen Beleidigungen – uneingeschränkt zu gewährleisten. Jegliches Zur-Ver-
antwortung-Ziehen durch Polizeien, Geheimdienste, Gerichte oder andere
außerparlamentarische Instanzen ist ausgeschlossen. Damit ist auch ausge-
schlossen, die innerparlamentarische Tätigkeit von Abgeordneten in einer so
genannten Sachakte zu erfassen, die auch zur Anreicherung bereits bestehen-
der Personen-Dossiers dienen kann.

4. Die Beobachtung der Abgeordneten der Fraktion DIE LINKE. gefährdet die
Funktionsweise des Parlaments und verstößt gegen die verfassungsrechtlich
geschützten Statusrechte der Abgeordneten.

5. Die Willensbildung in den politischen Parteien muss sich staatsfrei vollzie-
hen können. Hierzu gehört auch, dass die Angehörigen der jeweiligen Partei
nicht durch Geheimdienste direkt oder indirekt beeinflusst werden dürfen.
Für die Abgeordneten des Deutschen Bundestages gilt weiterhin, dass die
Exekutive in Form der Geheimdienste, die im Verantwortungsbereich der
Regierung stehen, weder direkten noch indirekten Einfluss auf die Tätigkeit
des Parlaments nehmen darf, ohne in einen eklatanten Widerspruch zu dem
Grundsatz der Gewaltenteilung zu geraten.

6. Die Überwachung von Abgeordneten der Fraktion DIE LINKE. ist nicht vom
Bundesverfassungsschutzgesetz gedeckt. Dieses erlaubt u. a. die Sammlung
und Auswertung von Informationen hinsichtlich „Bestrebungen, die gegen
die freiheitliche demokratische Grundordnung“ gerichtet sind (§ 3). Die
parlamentarische Tätigkeit der Fraktion DIE LINKE. bietet jedoch keinerlei
Anhaltspunkte für solche Bestrebungen. Die Fraktion DIE LINKE. wirkt
vielmehr aktiv in den Ausschüssen des Parlaments und im Plenum. Ihre
Arbeit ist gekennzeichnet von einer regen Beteiligung am parlamentarischen
System und nicht von seiner Ablehnung, Instrumentalisierung oder gar
Bekämpfung.

7. Die Überwachung von Abgeordneten der Fraktion DIE LINKE. ist auch nicht
durch den Hinweis auf angebliche „linksextremistische“ Bestrebungen der
Linkspartei.PDS gedeckt. Dies gilt schon deswegen, weil nicht alle Frak-
tionsangehörigen auch Mitglieder dieser Partei sind, sondern einige auch der
WASG angehören oder parteilos sind. Diese Abgeordneten zu überwachen,
kann keinerlei Erkenntnisse über die Linkspartei.PDS erbringen. Dies umso
mehr, weil Grundlage der parlamentarischen Aktivitäten der Fraktion DIE
LINKE. das beschlossene Wahlprogramm ist.

8. Die in den Verfassungsschutzberichten angeführten Gründe, mit denen der
Linkspartei.PDS eine verfassungsfeindliche Haltung vorgeworfen wird, sind

nicht stichhaltig, sondern offenbaren ihrerseits eine kaum verfassungskon-

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forme Interpretation. Sie spiegeln den politischen Willen der jeweiligen
Regierungen und ihrer Inlandsgeheimdienste, die Partei zu beobachten –
ohne eine sachliche Notwendigkeit und ohne juristische Rechtfertigung.
Diesbezüglich sind auch keine Unterschiede zur WASG ersichtlich, die
nicht überwacht wird. Das zeigt nur, dass die Benachteiligung Ostdeutscher
auch durch den Verfassungsschutz betrieben wird.

9. Die Überwachung von Abgeordneten der Fraktion DIE LINKE. und der
Linkspartei.PDS verletzt die Chancengleichheit der Parteien gemäß Arti-
kel 21 GG. Da in der Öffentlichkeit bekannt wird, dass die Abgeordneten
der Fraktion DIE LINKE. und die Linkspartei.PDS geheimdienstlich über-
wacht werden, fällt es Bürgerinnen und Bürgern aus bestimmten Berufen
und in bestimmten gesellschaftlichen Schichten schwerer, Mitglied dieser
Partei zu werden. Das führt zu einer Reduzierung der Wirksamkeit der
Linkspartei.PDS, zu einer Schmälerung ihrer Mitgliedsbeiträge und damit
auch der staatlichen Zuwendungen. Die öffentliche Berichterstattung über
die geheimdienstliche Überwachung der Abgeordneten der Fraktion DIE
LINKE. und der Linkspartei.PDS hält auch Bürgerinnen und Bürger von
der Wahl dieser Partei ab, was ebenfalls die Chancengleichheit der Parteien
verletzt.

10. Das Bundesamt und die Landesämter für Verfassungsschutz verwenden die
ihnen zur Verfügung gestellten steuerlichen Mittel entgegen den Artikeln
104a ff. GG, wenn sie Abgeordnete der Fraktion DIE LINKE. und die Links-
partei.PDS verfassungswidrig und entgegen dem Bundesverfassungsschutz-
gesetz überwachen. Wenn – wie die Bundesregierung behauptet – nur öffent-
lich zugängliche Informationen verwendet werden, ist darüber hinaus
festzustellen, dass dem Bundesamt für Verfassungsschutz finanzielle Mittel
für geheimdienstliche Tätigkeit, nicht für die Tätigkeit einer Pressestelle zur
Verfügung gestellt werden. Auch das widerspräche den Artikeln 104a ff. GG.

III. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. die Überwachung von Abgeordneten, insbesondere derjenigen der Fraktion
DIE LINKE., durch das Bundesamt für Verfassungsschutz unverzüglich
einzustellen und sämtliche bislang angelegten Akten und/oder Dateien zu
löschen bzw. zu vernichten, nachdem den Betroffenen umgehend umfas-
sende und vollständige Auskunft über deren Inhalt erteilt wurde;

2. auf die Landesregierungen dahingehend einzuwirken, dass die Landesämter
für Verfassungsschutz ebenfalls die Beobachtung von Angehörigen der
Bundestagsfraktion DIE LINKE. unverzüglich einstellen und die Akten und
Dateien löschen bzw. vernichten, nachdem die Betroffenen umgehend um-
fassende und vollständige Auskunft über deren Inhalt erteilt wurde.

Berlin, den 23. Mai 2007

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

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Begründung

Mehr als 10 Angehörige der Fraktion DIE LINKE. werden nachweislich vom
Verfassungsschutz beobachtet und ausgeforscht. Dies ergibt sich aus den bislang
vorliegenden Auskünften der Verfassungsschutzbehörden von Bund und Län-
dern, die von den Abgeordneten der Fraktion beantragt worden sind. Da eine
ganze Reihe von Auskunftsersuchen noch unbearbeitet ist, wird sich die Zahl
der betroffenen Parlamentarier voraussichtlich noch erhöhen.

Bei der Beobachtung der Abgeordneten werden zum Teil öffentlich zugängliche
Informationen gesammelt, zum Teil aber auch nachrichtendienstliche Mittel ein-
gesetzt. Die parlamentarische Tätigkeit und die parlamentarischen Funktionen
der Abgeordneten werden „sach- und personenbezogen in einer diesbezüglichen
Sachakte festgehalten“. Dies hat die Bundesregierung in ihrer Antwort auf die
Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE. „Überwachung von Mitgliedern des
Deutschen Bundestages durch den Verfassungsschutz“ vom 22. Dezember 2006
(Bundestagsdrucksache 16/3964) eingeräumt. Als Hintergrund für diese Beob-
achtung nennt die Bundesregierung, die „Bewertung der Partei“ zu ermöglichen.

Die Argumentation der Bundesregierung, das Bundesverfassungsschutzgesetz
kenne keine „privilegierende Sonderbehandlung von Mitgliedern parlamentari-
scher Körperschaften“, ist so nicht haltbar. Einschränkungen bzw. Verbote der
Überwachung von Abgeordneten ergeben sich aus deren verfassungsrechtlich
geschützten Statusrechten, insbesondere der Gewährleistung der Immunität, der
Indemnität und dem Grundsatz des freien Mandats.

Diese Statusrechte dienen keinem Selbstzweck, sondern sind unverzichtbar,
um die Unabhängigkeit der Abgeordneten und die Funktionsfähigkeit des
Parlaments zu garantieren. Sofern eine Überwachung von Angehörigen des
Deutschen Bundestages überhaupt verfassungsrechtlich vertretbar sein sollte,
bedürfte sie zumindest einer sorgfältig vorgenommenen Einzelfallabwägung
zwischen der angenommenen Gefährdung der demokratischen Grundordnung
und dem verfassungsrechtlichen Statusschutz der Abgeordneten. Die pauschale
Überwachung einer ganzen Fraktion ist mit dem Verfassungsgebot, in jedem
Einzelfall eine Verhältnismäßigkeitsprüfung vorzunehmen, in keiner Weise ver-
einbar.

Der Hinweis der Bundesregierung, das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV)
setze gegen die Abgeordneten keine nachrichtendienstlichen Mittel ein, sondern
sammle lediglich öffentlich zugängliche Informationen, vermag die verfas-
sungsrechtlichen Zweifel nicht auszuräumen: Zum einen setzen verschiedene
Landesämter sehr wohl nachrichtendienstliche Mittel gegen Bundestags-
abgeordnete der Fraktion DIE LINKE. ein, weshalb sich dieser Schluss auch im
Hinblick auf das Bundesamt aufdrängt. Dies umso mehr, als auch in den der
Fraktion DIE LINKE. zur Verfügung stehenden Auskünften des Bundesamtes
für Verfassungsschutz zu einzelnen Abgeordneten mitgeteilt wird, dass eine
weitere Auskunft zu unterbleiben habe, da bei einer betreffenden Mitteilung der
Daten Rückschlüsse auf den Erkenntnisstand und die Arbeitsweise des BfV ge-
zogen werden könnten. Diese Argumentation wäre nicht nachvollziehbar, wenn
nur öffentliche Daten gesammelt werden würden. Zum anderen ist die entschei-
dende Frage zunächst nicht, mit welchen Methoden der Verfassungsschutz ge-
gen Abgeordnete vorgeht, sondern ob er dies überhaupt darf bzw. unter welchen
Umständen. Die Wahl der Methoden, Gegenstände und Instrumente zur Infor-
mationsbeschaffung obliegt dann der Entscheidung des Amtes, wobei dieses
stets beachten muss, ob die rechtlichen Voraussetzungen gegeben sind.

Tatsächlich deutet die Tatsache, dass mehrere Abgeordnete der Fraktion nach-
richtendienstlich beobachtet werden, darauf hin, dass die „Sachakte“ über die
Fraktion im Wesentlichen dazu dient, bereits geführte Personen-Dossiers zu er-

gänzen. Eine reine Presse-Auswertung könnte schließlich genauso gut von der

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 5 – Drucksache 16/5455

Pressestelle des Innenministeriums vorgenommen werden. Dass sich die Bun-
desregierung weigert, Auskünfte über den Inhalt der Sachakte zu geben, lässt
ebenfalls den Rückschluss zu, dass es um mehr geht als um die Sammlung von
Presseerklärungen. Die Anwendung nachrichtendienstlicher Methoden und die
Auswertung öffentlich zugänglichen Materials sind daher allem Anschein nach
als kombinierte Vorgehensweise des Verfassungsschutzes zu betrachten.

Ob mit „Sachakte“ oder in Form einer heimlichen Informationsbeschaffung: Der
Verfassungsschutz darf nur tätig werden, wenn „tatsächliche Anhaltspunkte“ für
verfassungsfeindliche Bestrebungen vorliegen. Dafür gibt es keinerlei Belege.
Weder die Tätigkeit der Angehörigen der Fraktion DIE LINKE. im Deutschen
Bundestag, noch ihre Tätigkeit im Rahmen von Linkspartei.PDS sowie der
WASG oder als Parteilose liefern tatsächliche Anhaltspunkte für solche Bestre-
bungen. Die anderslautenden Behauptungen, die die Verfassungsschutzbehör-
den seit Jahren aufstellen, sind unbegründet und diskreditierend und sie zeugen
von einem falschen Demokratie- und Verfassungsverständnis.

Den vermeintlich wichtigsten Beleg sieht etwa das Bundesamt für Verfassungs-
schutz in dem programmatischen Ziel der Linkspartei.PDS einer „über die Gren-
zen der bestehenden Gesellschaft hinausweisenden sozialistischen Ordnung“
(VS-Bericht 2005, S. 161). Nun gibt es zum einen ähnliche Forderungen auch
im Programm der SPD, ohne dass diese deshalb unter Beobachtung stünde. Zum
anderen enthält das Grundgesetz keine Festlegung einer Wirtschaftsordnung,
schon gar keine Ewigkeitsgarantie für die profitorientierte kapitalistische Wirt-
schaftsweise.

Die Bundesregierung nimmt eine unzulässige Verknüpfung der freiheitlich-
demokratischen Grundordnung mit einem bestimmten, ausschließlich auf pri-
vatkapitalistischen Eigentumsformen basierenden Wirtschaftssystem vor. Diese
Verknüpfung ist in der politikwissenschaftlichen und juristischen Fachwelt bis
heute umstritten. In den gegensätzlichen Interpretationen des Sozialstaatsgebots
des Grundgesetzes bei Wolfgang Abendroth und Ernst Forsthoff zeigen sich
diese Differenzen idealtypisch. Auch das Bundesverfassungsgericht hat festge-
stellt: „der Verfassungsgeber [hat sich] nicht ausdrücklich für ein bestimmtes
Wirtschaftssystem entschieden.“ (BVerfGe 4, 17 f.). Das Amt für Verfassungs-
schutz ist an die Verfassung gebunden und darf diese Frage daher nicht eigen-
mächtig anders entscheiden als das Bundesverfassungsgericht.

Weiter unterstellt der Verfassungsschutz der Linkspartei.PDS ein „ambivalentes
Verhältnis zum Parlamentarismus“. Verwiesen wird dabei auf die für die Partei
wichtige Bedeutung des „außerparlamentarischen Widerstands“. Damit wird
eine Selbstverständlichkeit in demokratischen Gesellschaften, nämlich die Ein-
beziehung von außerparlamentarischen sozialen und politischen Bewegungen in
parteipolitische und parlamentarische Entscheidungsprozesse, zu einer Begrün-
dung für die nachrichtendienstliche Beobachtung einer Partei und einer Par-
lamentsfraktion, die es sich gerade zur Aufgabe gemacht haben, diesen für eine
lebendige Demokratie so wichtigen gesellschaftlichen Bewegungen Aufmerk-
samkeit zu schenken und Gehör zu verschaffen. Dabei gebraucht die Linkspar-
tei.PDS bewusst das Wort „Einbeziehung“ der außerparlamentarischen Bewe-
gungen, wie sie auch im Programm von der Verbindung der Formen direkter
Beteiligung der Bürgerschaft mit der repräsentativen Demokratie spricht.

Die Linkspartei.PDS bejaht die repräsentative Demokratie und will sie durch das
Eintreten für mehr direkte Mitsprache der Bürger komplementär ergänzen, in
keiner Weise schwächen.

Laut Artikel 21 Abs. 1 Satz 1 Grundgesetz wirken die Parteien bei der politi-
schen Willensbildung des Volkes mit, sie sind also nicht der einzige Ausdruck
dieser Willensbildung. Vor allem findet aber diese Willensbildung auch nicht

nur in den Parlamenten statt. Sich bestimmter Aktionsformen zu bedienen, um

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Stimmungen in der Bevölkerung aufzunehmen und politisch zu kanalisieren, ist
ein Mittel der politischen Willensbildung, das auch von anderen politischen
Kräften genutzt wird. Mit dem Verweis auf außerparlamentarische Bewegungen
ist inhaltlich noch gar nichts ausgesagt, erst recht sind damit keine verfassungs-
feindlichen Bestrebungen verbunden noch zu belegen. Die Kontaktaufnahme,
Unterstützung und Zusammenarbeit von Abgeordneten zu Bürgerinnen und
Bürgern, aber auch zu Vereinen oder wie weitverbreitet zu Interessengruppen,
kann nicht unter dem Vorbehalt deren Verfassungstreue stehen, da dies für den
einzelnen Abgeordneten weder erkennbar noch beeinflussbar ist. Die Abgeord-
neten können nicht Vertreterinnen/Vertreter des ganzen Volkes sein, wenn sie die
Ansichten und Meinungen bestimmter Personen infolge der Verfassungsschutz-
praxis nicht einmal zur Kenntnis nehmen dürften – ganz abgesehen davon, wie
sie mit den erlangten Meinungen umgehen. Wenn der Verfassungsschutz be-
hauptet, die Orientierung an den Ansichten außerparlamentarischer Gruppen
belege ein ambivalentes Verhältnis zum Parlamentarismus, zeugt dies von einem
sehr eingeschränkten und unzulässigen Verständnis von Demokratie durch das
Bundesamt für Verfassungsschutz. Die Behauptung ist als Hinweis zu interpre-
tieren, dass das Bundesamt mittels seiner Jahresberichte versucht, politische
Stimmungen zu erzeugen und die Auseinandersetzung mit den inhaltlichen
Positionen der Linkspartei.PDS dadurch zu erschweren oder zu verhindern, dass
sie als „Verfassungsfeindin“ diskreditiert wird.

Das Bundesamt für Verfassungsschutz verkennt auch die Breite außerparlamen-
tarischer Bewegungen, wie z. B. der Kirchen und Unternehmen. Weshalb Bezie-
hungen zu außerparlamentarischen Bewegungen verfassungsfeindlich sein sol-
len, bleibt demzufolge unerklärlich.

Für die Mitwirkung am Willensbildungsprozess ist die Chancengleichheit der
Parteien wichtig. Die Parteien brauchen gleiche Chancen auf Mitgliedschaft, auf
finanzielle Mittel, auf Stimmen der Bürgerinnen und Bürger bei Wahlen. Die
Unterschiede sollen sich ausschließlich danach richten, in welchem Umfang
eine Partei mit ihren politischen Aussagen auf Akzeptanz in der Bevölkerung
stößt. Artikel 21 GG wird deshalb verletzt, wenn über eine Partei öffentlich feh-
lerhaft verbreitet wird, dass sie als verfassungsfeindlich gilt im Unterschied zu
anderen Parteien. Diese eine Partei ist dann im Vergleich zu den anderen Par-
teien benachteiligt. Eine Vielzahl von Bürgerinnen und Bürger in bestimmten
Berufen und in bestimmen Situationen wagt sich nicht, in eine Partei einzu-
treten, die vom Verfassungsschutz überwacht wird. Durch einen unzulässigen
Faktor wird deshalb die Möglichkeit dieser Partei, bei der Willensbildung
mitzuwirken, eingeschränkt. Auch die Mitgliedsbeiträge und die staatlichen
Zuwendungen werden dadurch unzulässig reduziert. Artikel 21 GG wird auch
dadurch verletzt, dass Bürgerinnen und Bürger Hemmungen bekommen, einer
Partei, der sie politisch zustimmen würden, bei Wahlen ihre Stimme zu geben,
weil wahrheitswidrig verbreitet wird, dass sie verfassungsfeindlich sei.

Die Verwendung von Steuermitteln muss gemäß den Artikel 104a ff. GG ent-
sprechend dem gesetzliche festgelegten Zweck erfolgen. Die unzulässige Beob-
achtung einer Partei und ihrer Abgeordneten führt mithin zu einer fehlerhaften
Verwendung der Ressourcen des Bundesamtes und der Landesämter für Verfas-
sungsschutz. Wenn – wie behauptet – nur öffentlich zugängliche Informationen
verwendet werden, ist auch dies eine unzulässige Verwendung von steuerlichen
Mitteln. Die Aufgabe des Bundesamtes und der Landesämter für Verfassungs-
schutz besteht nicht in der Arbeit einer Pressestelle.

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