Bundesverfassungsgericht, Stattgebender Kammerbeschluss vom 02.07.2013, Az. 1 BvR 1751/12

1. Senat 3. Kammer | REWIS RS 2013, 4573

Foto: © Bundesverfassungsgericht │ foto USW. Uwe Stohrer, Freiburg

ZIVIL- UND ZIVILVERFAHRENSRECHT BUNDESVERFASSUNGSGERICHT (BVERFG) RECHTSANWÄLTE MEINUNGSFREIHEIT ANWALTSBERUF BERUFS- UND STANDESRECHT

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Gegenstand

Teilweise stattgebender Kammerbeschluss: Bezeichnung einer Rechtsanwaltskanzlei als "Winkeladvokatur" ggf durch Meinungsfreiheit (Art 5 Abs 1 S 1 GG) geschützt - Zur Reichweite der Meinungsfreiheit bzgl Äußerungen im gerichtlichen Verfahren - sowie zu den Voraussetzungen der Annahme von Schmähkritik - Gegenstandswertfestsetzung


Tenor

1. Das Urteil des [X.] vom 15. November 2011 - 5 O 344/10 - und das Urteil des [X.] vom 18. Juli 2012 - 16 U 184/11 - verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 5 Absatz 1 Satz 1 des Grundgesetzes. Die Urteile werden aufgehoben. Die Sache wird an das [X.] zurückverwiesen.

Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen.

2. Das [X.] hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten.

3. Der Wert des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit für das Verfassungsbeschwerdeverfahren wird auf 25.000 € (in Worten: fünfundzwanzigtausend Euro) festgesetzt.

Gründe

1

Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen zivilgerichtliche Entscheidungen, die dem Beschwerdeführer eine Äußerung untersagen. Der Beschwerdeführer rügt die Verletzung seiner Meinungsfreiheit, seiner Berufsfreiheit und seines Rechts auf rechtliches Gehör.

2

1. Der Beschwerdeführer ist Rechtsanwalt. In einem Verfahren vor dem [X.] vertrat er die Interessen einer Patientin gegen mehrere Zahnärzte. Für zwei dieser Zahnärzte war der Kläger des Ausgangsverfahrens als Rechtsanwalt tätig. Der Beschwerdeführer warf dem Kläger Parteiverrat und widerstreitende Interessen vor, weil dieser nur für einen seiner Mandanten habe günstig vortragen und ihn effektiv gegen [X.] verteidigen können, aber nicht für beide. Der Beschwerdeführer zeigte den Kläger bei der Staatsanwaltschaft und bei der Rechtsanwaltskammer an; beide Verfahren wurden eingestellt.

3

In einem weiteren Rechtsstreit vor dem [X.] vertrat der Beschwerdeführer erneut dieselbe Patientin, und der Kläger wieder zwei Zahnärzte. In diesem Verfahren monierte der Beschwerdeführer in einem Schriftsatz einen widersprüchlichen Außenauftritt des [X.], denn es sei nicht klar, ob dieser mit zwei Rechtsanwälten in einer Sozietät oder in einer Bürogemeinschaft zusammenarbeite. Hier zeige sich eine Parallele zu den von dem Kläger vertretenen Zahnärzten, bei denen auch nicht klar sei, ob sie eine Praxisgemeinschaft oder eine Gemeinschaftspraxis bildeten. Dem Schriftsatz fügte der Beschwerdeführer eine E-Mail an die [X.]bei, in der er auf die Erledigung des berufsständischen Verfahrens geantwortet hatte. Dort heißt es unter anderem:

4

[X.] persönlich erscheint es daher fragwürdig, wie es die Rechtsanwälte … mit ihrer prozessualen Wahrheitspflicht halten, wenn sie dem Gericht gegenüber eine "Kooperation" behaupten, wo sonst von ihnen allenthalben der Eindruck einer Sozietät zu vermitteln versucht wird.

Ich gehe davon aus, dass es nicht unsachlich ist, eine solche geschickte Verpackung der eigenen Kanzlei - mal als Kooperation, mal als Sozietät (wie es gerade günstig ist) - als "Winkeladvokatur" zu apostrophieren."

5

2. Das [X.] verurteilte den Beschwerdeführer mit angegriffenem Urteil, es zu unterlassen,

6

"den Kläger als [X.] zu bezeichnen und/oder ihn oder das von ihm geführte Büro als Winkeladvokatur zu bezeichnen."

7

Es ordnete die Äußerung als Schmähkritik ein, weil die Bezeichnung "Winkeladvokatur" des erforderlichen Sachbezugs entbehre und als bloße Diffamierung angesehen werden müsse.

8

3. Das [X.] wies die Berufung des Beschwerdeführers mit an-gegriffenem Urteil zurück. Es lässt offen, ob die streitige Äußerung als Schmähkritik einzustufen sei, weil die Interessenabwägung zum Nachteil des Beschwerdeführers ausgehe. Unter einem [X.] sei derjenige zu verstehen, der eine Sache entsprechend seinem Berufsstand nicht verantwortungsbewusst zu vertreten befähigt sei. Die Äußerung sei für den Anlass vollkommen unangemessen und unnötig.

9

4. In seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer die Verletzung seiner Meinungsfreiheit, seiner Berufsfreiheit und seines Rechts auf rechtliches Gehör.

5. Der Kläger des Ausgangsverfahrens hat sich zu der Verfassungsbeschwerde geäußert und hält sie für unbegründet und nicht annahmefähig. Die Landesregierung [X.] hat keine Stellungnahme abgegeben. Die Akten des Ausgangsverfahrens haben dem [X.] vorgelegen.

Die Verfassungsbeschwerde wird gemäß § 93a Abs. 2 Buchstabe b [X.] zur Entscheidung angenommen, weil dies zur Durchsetzung der Grundrechte des Beschwerdeführers angezeigt ist. Die Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung liegen vor (§ 93c Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 93a Abs. 2 Buchstabe b [X.]).

1. Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist im Sinne des § 93c Abs. 1 Satz 1 [X.] offensichtlich begründet. Die angegriffenen Urteile verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG.

a) Unter den Schutz der Meinungsfreiheit fallen nach ständiger Rechtsprechung des [X.]s Werturteile und Tatsachenbehauptungen, wenn und soweit sie zur Bildung von Meinungen beitragen (vgl. [X.] 85, 1 <15>). Das Grundrecht auf Meinungsfreiheit ist allerdings nicht vorbehaltlos gewährt. Es findet seine Schranke in den allgemeinen Gesetzen, zu denen die hier von den Gerichten angewandten Vorschriften der § 823 Abs. 1, Abs. 2, § 1004 Abs. 1 Satz 2 BGB analog in Verbindung mit Art. 2 Abs. 1, Art. 1 Abs. 1 GG, § 185 StGB gehören. Auslegung und Anwendung dieser Vorschriften sind Sache der Fachgerichte, die hierbei jedoch das eingeschränkte Grundrecht interpretationsleitend berücksichtigen müssen, damit dessen wertsetzender Gehalt auch auf der [X.] gewahrt bleibt (vgl. [X.] 7, 198 <205 ff.>; 120, 180 <199 f.>; stRspr). Dies verlangt in der Regel eine Abwägung zwischen der Schwere der Persönlichkeitsbeeinträchtigung durch die Äußerung einerseits und der Einbuße an Meinungsfreiheit durch ihr Verbot andererseits (vgl. [X.] 99, 185 <196 f.>; 114, 339 <348>). Das Ergebnis der Abwägung ist verfassungsrechtlich nicht vorgegeben und hängt von den Umständen des Einzelfalls ab (vgl. [X.] 85, 1 <16>; 99, 185 <196>). Das [X.] ist auf eine Nachprüfung begrenzt, ob die Zivilgerichte den Grundrechtseinfluss ausreichend beachtet haben (vgl. [X.] 101, 361 <388>).

Bedeutung und Tragweite der Meinungsfreiheit sind verkannt, wenn eine Äußerung unzutreffend als Tatsachenbehauptung, Formalbeleidigung oder Schmähkritik eingestuft wird mit der Folge, dass sie dann nicht im selben Maß am Schutz des Grundrechts teilnimmt wie Äußerungen, die als Werturteil ohne beleidigenden oder [X.] Charakter anzusehen sind (vgl. [X.] 85, 1 <14>).

Verfassungsrechtlich ist die Schmähung eng definiert. Sie liegt bei einer die Öffentlichkeit wesentlich berührenden Frage nur ausnahmsweise vor und ist eher auf die Privatfehde beschränkt (vgl. [X.] 93, 266 <294>). Eine Schmähkritik ist dadurch gekennzeichnet, dass nicht mehr die Auseinandersetzung in der Sache, sondern die Diffamierung der Person im Vordergrund steht (vgl. [X.] 82, 272 <284>).

b) Nach diesen Maßstäben haben die angegriffenen Entscheidungen verfassungsrechtlich keinen Bestand.

aa) Die von dem [X.] vorgenommene Einordnung der streitgegenständlichen Äußerung als Schmähkritik begegnet durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken. Das [X.] räumt selbst ein, dass die Äußerung anlässlich einer sachthemenbezogenen Auseinandersetzung getätigt worden sei. Die Äußerung stellt eine etwaige Diffamierung des [X.] nicht in den Vordergrund, sondern weist Sachbezug auf, indem der Beschwerdeführer den Außenauftritt des [X.] moniert. Dies wiederum steht in sachlichem Bezug zu dem [X.], in den der Beschwerdeführer die E-Mail eingeführt hat, denn er wollte auf die Parallelität der gesellschaftsrechtlichen Formen der Rechtsanwaltskanzlei des [X.] einerseits und der Arztpraxis von dessen Mandantschaft andererseits und auf einen möglichen Interessenkonflikt hinweisen.

bb) Das [X.] lässt die Frage der Schmähkritik offen und führt die gebotene Interessenabwägung zwar durch, berücksichtigt dabei aber wesentliche Aspekte nicht und verkennt deshalb das Gewicht der Meinungsfreiheit.

Zutreffend ist allerdings die Einschätzung des [X.]s, dass durch den Begriff "Winkeladvokatur" in das allgemeine Persönlichkeitsrecht des [X.] eingegriffen wird. Denn er insinuiert, dass der Kläger ein Rechtsanwalt sei, der eine geringe fachliche Eignung aufweist und dessen Seriosität zweifelhaft ist. Dies setzt ihn in seiner Persönlichkeit herab.

Das [X.] gewichtet indes nicht stark genug, dass die Äußerung zunächst nur gegenüber der [X.]getätigt und dann in einen Zivilprozess eingeführt wurde, in dem nur die Prozessbeteiligten und das Gericht von ihr Kenntnis nehmen konnten. Das [X.] befasst sich zwar recht ausführlich mit der Frage der Privilegierung der Äußerung, wird aber dem Ausnahmecharakter der Unzulässigkeit von Äußerungen in einem gerichtlichen Verfahren nicht gerecht. Denn Rechtsschutz gegenüber Prozessbehauptungen ist nur gegeben, wenn die Unhaltbarkeit der Äußerung auf der Hand liegt oder sich ihre Mitteilung als missbräuchlich darstellt (vgl. [X.], Beschluss der [X.] des Zweiten Senats vom 28. März 2000 - 2 BvR 1392/96 -, NJW 2000, S. 3196 <3198>). Die bloße "Unangemessenheit" und "Unnötigkeit" der Äußerung, auf die das [X.] rekurriert, reichen dafür nicht aus.

Das [X.] räumt dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht des [X.] ein übermäßiges Gewicht ein, indem es schon in der internen Verwendung eines ehrenrührigen Begriffs den Grund für ein Überwiegen seiner grundrechtlich geschützten Interessen sieht. Das [X.] hat nicht hinreichend in seine Erwägungen eingestellt, dass der Vorwurf des [X.] nur eine begrenzt gewichtige Herabsetzung allein in der beruflichen Ehre bedeutet und den Kläger damit lediglich in seiner Sozialsphäre betrifft, zumal der Beschwerdeführer sich wörtlich allein auf die Kanzlei und nicht auf die Person bezogen und den Begriff Winkeladvokatur in Anführungszeichen gesetzt hat. Insgesamt haben die Fachgerichte verkannt, dass die Verurteilung zur Unterlassung einer Äußerung im Interesse des Schutzes der Meinungsfreiheit auf das zum Rechtsgüterschutz unbedingt Erforderliche beschränkt werden muss (vgl. [X.]K 2, 325 <329>), nicht aber den Zweck hat, die sachliche Richtigkeit oder Angemessenheit der betreffenden Meinungsäußerung in dem Sinne zu gewährleisten, dass zur Wahrung allgemeiner Höflichkeitsformen überspitzte Formulierungen ausgeschlossen werden.

2. Bezüglich der übrigen Grundrechtsrügen des Beschwerdeführers wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen. Von einer Begründung wird insoweit abgesehen (§ 93d Abs. 1 Satz 3 [X.]).

3. Die angegriffenen Urteile beruhen auf den aufgezeigten verfassungsrechtlichen Fehlern. Es ist nicht auszuschließen, dass das [X.] bei erneuter Befassung zu einer anderen Entscheidung in der Sache kommen wird.

4. Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen des Beschwerdeführers folgt aus § 34a Abs. 2 und 3 [X.].

5. Die Festsetzung des Gegenstandswerts der anwaltlichen Tätigkeit für das Verfassungsbeschwerdeverfahren beruht auf § 37 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit § 14 Abs. 1 [X.].

Meta

1 BvR 1751/12

02.07.2013

Bundesverfassungsgericht 1. Senat 3. Kammer

Stattgebender Kammerbeschluss

Sachgebiet: BvR

vorgehend OLG Köln, 18. Juli 2012, Az: 16 U 184/11, Urteil

Art 5 Abs 1 S 1 GG, § 93c Abs 1 S 1 BVerfGG, § 823 Abs 1 Alt 6 BGB, § 823 Abs 2 BGB, § 1004 Abs 1 S 2 BGB

Zitier­vorschlag: Bundesverfassungsgericht, Stattgebender Kammerbeschluss vom 02.07.2013, Az. 1 BvR 1751/12 (REWIS RS 2013, 4573)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2013, 4573

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