BT-Drucksache 16/12910

Entwurf eines Gesetzes zur (...) Änderung des Strafgesetzbuches - Strafbarkeit bei Genitalverstümmelung

Vom 6. Mai 2009


Deutscher Bundestag Drucksache 16/12910
16. Wahlperiode 06. 05. 2009

Gesetzentwurf
der Abgeordneten Sibylle Laurischk, Irmingard Schewe-Gerigk, Dr. Konrad Schily,
Dr. Karl Addicks, Mechthild Dyckmans, Hartfrid Wolff (Rems-Murr), Jens
Ackermann, Kerstin Andreae, Ingrid Arndt-Brauer, Sabine Bätzing, Daniel Bahr
(Münster), Uwe Barth, Marieluise Beck (Bremen), Cornelia Behm, Birgitt Bender,
Alexander Bonde, Angelika Brunkhorst, Ernst Burgbacher, Ekin Deligöz, Dr. Thea
Dückert, Dr. Uschi Eid, Ulrike Flach, Paul K. Friedhoff, Kai Gehring, Norbert Geis,
Dr. Edmund Peter Geisen, Dr. Wolfgang Gerhardt, Hans-Michael Goldmann,
Miriam Gruß, Britta Haßelmann, Heinz-Peter Haustein, Bettina Herlitzius, Winfried
Hermann, Priska Hinz (Herborn), Dr. Anton Hofreiter, Birgit Homburger, Eike
Hovermann, Michael Kauch, Ute Koczy, Hellmut Königshaus, Dr. Heinrich L. Kolb,
Gudrun Kopp, Dr. h. c. Jürgen Koppelin, Sylvia Kotting-Uhl, Volker Kröning,
Renate Künast, Markus Kurth, Undine Kurth (Quedlinburg), Heinz Lanfermann,
Monika Lazar, Harald Leibrecht, Ina Lenke, Michael Link (Heilbronn), Markus
Löning, Dr. Erwin Lotter, Nicole Maisch, Horst Meierhofer, Patrick Meinhardt,
Kerstin Müller (Köln), Burkhardt Müller-Sönksen, Dirk Niebel, Omid Nouripour,
Detlef Parr, Cornelia Pieper, Gisela Piltz, Brigitte Pothmer, Claudia Roth
(Augsburg), Krista Sager, Frank Schäffler, Elisabeth Scharfenberg, Christine
Scheel, Dr. Gerhard Schick, Marina Schuster, Dr. Hermann Otto Solms, Dr. Margrit
Spielmann, Dr. Max Stadler, Grietje Staffelt, Rainder Steenblock, Dr. Rainer
Stinner, Rolf Stöckel, Silke Stokar von Neuforn, Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn,
Hans-Christian Ströbele, Dr. Harald Terpe, Jürgen Trittin, Dr. Daniel Volk,
Christoph Waitz, Wolfgang Wieland, Josef Philip Winkler, Dr. Claudia Winterstein,
Dr. Volker Wissing

Entwurf eines … Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuches – Strafbarkeit der
Genitalverstümmelung

A. Problem

Ziel der Gesetzesänderung ist es, rechtliche Schutzlücken der aktuellen Gefähr-
dungslage für Mädchen und Frauen bezüglich der weiblichen Genitalverstüm-
melung in Deutschland zu schließen.

Nach Schätzungen der Frauenrechtsorganisation TERRE DES FEMMES leben
rund 20 000 von Genitalverstümmelungen betroffene und rund 4 000 bis 5 000
gefährdete Mädchen und Frauen mit Migrationshintergrund in Deutschland
(Stand: Mai 2008).

Drucksache 16/12910 – 2 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

Mit der Gesetzesänderung sollen Rechtsklarheit und Transparenz für alle Betei-
ligten wie beispielsweise medizinisches Fachpersonal, Migranten, Juristen,
Lehrer, Erzieher, Polizisten und Sozialarbeiter geschaffen werden. Eine allge-
meingültige Rechtsnorm ist für einen Schutz vor weiblicher Genitalverstümme-
lung zwingend notwendig.

Der Staat hat die Pflicht, die gefährdeten Mädchen und Frauen vor einem Ein-
griff in das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit zu schützen. Somit
fällt auch die Genitalverstümmelung (englisch Female Genital Mutilation, kurz
FGM) in den Schutzbereich des Artikels 2 Absatz 2 Satz 1 des Grundgesetzes
(GG) und ist auch unter das aus Artikel 2 Absatz 1 GG (in Verbindung mit
Artikel 1 Absatz 1 GG) resultierende Grundrecht auf selbstbestimmte Sexualität
zu fassen.

Maßnahmen zur Eindämmung der Gefahr vor Genitalverstümmelungen sind
verfassungsrechtlich angezeigt: Genitalverstümmelungen sind schwerwiegende
Grundrechtsverletzungen. Sie gelten auch international seit 1995 als Menschen-
rechtsverletzung. Sie betreffen mehrheitlich minderjährige Mädchen. Die erlit-
tenen Verletzungen sind niemals revidierbar. Der Eingriff ist weder mit Religion
noch mit Tradition zu rechtfertigen. Deutschland hat sich rechtsverbindlich
internationalen Verträgen wie beispielsweise der Kinderrechtskonvention der
Vereinten Nationen (VN) und der VN-Frauenrechtskonvention zum Schutz der
Menschenrechte unterworfen. Auf dieser Grundlage liegt eine rechtliche und
nicht nur eine moralische oder ethische Verpflichtung vor, aktiv gegen die weib-
liche Genitalverstümmelung in Deutschland vorzugehen.

Großen Teilen der Öffentlichkeit fehlt das Bewusstsein für die Strafbarkeit von
Genitalverstümmelungen. Daneben bestehen rechtliche Unklarheiten bei der
exakten strafrechtlichen Einordnung. Es muss deutlich gemacht werden, dass es
sich um ein Verbrechen handelt. Aus diesen Gründen ist eine ausdrückliche
Strafbewehrung als schwere Körperverletzung dringend notwendig.

Außerdem muss eine Sanktionslosigkeit wegen zu früher Verjährung vermieden
werden. Ein Ruhen der Verjährung bis zum Erreichen der Volljährigkeit der Be-
troffenen ist ohne ausdrücklichen Anknüpfungspunkt im materiellen Strafrecht
nicht regelbar.

Grundsätzlich gilt gemäß § 3 des Strafgesetzbuches (StGB) das deutsche Straf-
recht für im Inland begangene Taten. Wie Erfahrungen aus Frankreich zeigen,
unterliegen Mädchen bei sogenannten Ferienbeschneidungen im Ausland einem
deutlich höheren Risiko, Opfer der Genitalverstümmelung zu werden als in
Deutschland. Problematisch ist, dass eine solche Genitalverstümmelung, die im
Ausland an Mädchen und Frauen vorgenommen wird, sofern sie nicht bereits
über § 7 oder die Grundsätze des § 9 in Verbindung mit § 3 StGB erfasst wird,
nur dann in Deutschland strafrechtlich verfolgt werden kann, wenn sie im Kata-
log der Auslandsstraftaten gemäß § 5 aufgeführt ist. Es ist daher erforderlich, die
Genitalverstümmelung ausdrücklich mit in diesen Katalog aufzunehmen.

B. Lösung

Genitalverstümmelung wird ausdrücklich als schwere Körperverletzung im
Strafgesetzbuch geregelt, indem eine entsprechende eigenständige Nummer in
§ 226 StGB eingeführt wird. Damit gilt ein Strafrahmen von einem bis zehn Jah-
ren Freiheitsstrafe. Zudem ist es für die Genitalverstümmelung ebenso wie bei
der gesetzlichen Regelung des sexuellen Missbrauchs, wegen der Minderjährig-
keit der Betroffenen sinnvoll, wenn die Verjährungsfrist erst mit dem 18. Le-
bensjahr des Mädchens einsetzt. Insofern wird § 78b StGB entsprechend geän-
dert. Damit wird zudem ein Beschluss des Deutschen Bundestages, die
Verlängerung der Verjährungsfrist für Taten an Betroffenen, die zum Tatzeit-

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/12910

punkt noch nicht volljährig waren, sicherzustellen, umgesetzt (Bundestagsdruck-
sachen 16/9420, 16/9694, Plenarprotokoll vom 26. Juni 2008, S. 18331 D). Die
Anwendbarkeit des deutschen Strafrechts auf Genitalverstümmelungen bei
vorübergehenden Aufenthalten im Ausland wird durch eine Ergänzung der
Auslandsstrafbarkeit ausgeweitet. Ansatzpunkt für die Aufnahme von Genital-
verstümmelung in den Katalog der Auslandsstraftaten ist der Schutz von inlän-
dischen Rechtsgütern.

C. Alternativen

Keine

D. Kosten

Zum jetzigen Zeitpunkt sind keine finanziellen Auswirkungen zu erwarten. Im
Umsetzungsprozess sollte dies nochmals untersucht werden.

Drucksache 16/12910 – 4 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

Entwurf eines … Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuches – Strafbarkeit der
Genitalverstümmelung

Der Bundestag hat das folgende Gesetz beschlossen:

Artikel 1

Änderung des Strafgesetzbuches

Das Strafgesetzbuch in der Fassung der Bekanntmachung
vom 13. November 1998 (BGBl. I S. 3322), zuletzt geändert
durch…, wird wie folgt geändert:

1. § 5 wird wie folgt geändert:

Nach Nummer 8 wird folgende Nummer 8a eingefügt:

„8a. Schwere Körperverletzung im Fall des § 226 Ab-
satz 1 Nummer 3, wenn der Täter Deutscher oder die
Person, gegen die die Tat begangen wird, zur Zeit der
Tat ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Inland hat;“.

2. § 78b Absatz 1 Nummer 1 wird wie folgt gefasst:

„1. bis zur Vollendung des achtzehnten Lebensjahres
des Opfers bei Straftaten nach den §§ 174 bis 174c,
176 bis 179 und 226 Absatz 1 Nummer 3,“.

3. § 226 Absatz 1 wird wie folgt geändert:

a) In Nummer 2 wird das Wort „oder“ durch ein Komma
ersetzt.

b) Nach Nummer 2 wird folgende Nummer 3 eingefügt:

„3. die weiblichen Genitalien teilweise oder ganz
verliert oder diese auf andere Art verstümmelt
werden oder“.

c) Die bisherige Nummer 3 wird die neue Nummer 4.

Artikel 2

Inkrafttreten

Dieses Gesetz tritt am Tage nach der Verkündung in Kraft.

Berlin, den 6. Mai 2009

Sibylle Laurischk
Irmingard Schewe-Gerigk
Dr. Konrad Schily
Dr. Karl Addicks
Mechthild Dyckmans
Hartfrid Wolff (Rems-Murr)
Jens Ackermann
Kerstin Andreae
Ingrid Arndt-Brauer
Sabine Bätzing
Daniel Bahr (Münster)
Uwe Barth
Marieluise Beck (Bremen)
Cornelia Behm
Birgitt Bender

Alexander Bonde
Angelika Brunkhorst
Ernst Burgbacher
Ekin Deligöz
Dr. Thea Dückert
Dr. Uschi Eid
Ulrike Flach
Paul K. Friedhoff
Kai Gehring
Norbert Geis
Dr. Edmund Peter Geisen
Dr. Wolfgang Gerhardt
Hans-Michael Goldmann
Miriam Gruß
Britta Haßelmann

Heinz-Peter Haustein
Bettina Herlitzius
Winfried Hermann
Priska Hinz (Herborn)
Dr. Anton Hofreiter
Birgit Homburger
Eike Hovermann
Michael Kauch
Ute Koczy
Hellmut Königshaus
Dr. Heinrich L. Kolb
Gudrun Kopp
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
Sylvia Kotting-Uhl
Volker Kröning

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 5 – Drucksache 16/12910

Renate Künast
Markus Kurth
Undine Kurth (Quedlinburg)
Heinz Lanfermann
Monika Lazar
Harald Leibrecht
Ina Lenke
Michael Link (Heilbronn)
Markus Löning
Dr. Erwin Lotter
Nicole Maisch
Horst Meierhofer
Patrick Meinhardt
Kerstin Müller (Köln)
Burkhardt Müller-Sönksen
Dirk Niebel

Omid Nouripour
Detlef Parr
Cornelia Pieper
Gisela Piltz
Brigitte Pothmer
Claudia Roth (Augsburg)
Krista Sager
Frank Schäffler
Elisabeth Scharfenberg
Christine Scheel
Dr. Gerhard Schick
Marina Schuster
Dr. Hermann Otto Solms
Dr. Margrit Spielmann
Dr. Max Stadler
Grietje Staffelt

Rainder Steenblock
Dr. Rainer Stinner
Rolf Stöckel
Silke Stokar von Neuforn
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn
Hans-Christian Ströbele
Dr. Harald Terpe
Jürgen Trittin
Dr. Daniel Volk
Christoph Waitz
Wolfgang Wieland
Josef Philip Winkler
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Volker Wissing

Drucksache 16/12910 – 6 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

Begründung

Allgemeine Begründung

Laut Schätzungen der Frauenrechtsorganisation TERRE
DES FEMMES leben rund 20 000 von Genitalverstümme-
lungen betroffene und 4 000 bis 5 000 gefährdete Mädchen
und Frauen mit Migrationshintergrund in Deutschland
(Stand: Mai 2008).

Der Staat hat die Pflicht, die gefährdeten Mädchen und Frau-
en vor einem Eingriff in das Recht auf Leben und körperliche
Unversehrtheit zu schützen. Somit fällt auch die Genitalver-
stümmelung (FGM) in den Schutzbereich des Artikels 2 Ab-
satz 2 Satz 1 des Grundgesetzes (GG) und ist auch unter das
aus Artikel 2 Absatz 1 GG (in Verbindung mit Artikel 1 Ab-
satz 1 GG) resultierende Grundrecht auf selbstbestimmte
Sexualität zu fassen.

Die Grundrechte sind nicht nur Abwehrrechte des Einzelnen
gegen den Staat, sondern bedeuten auch die Verpflichtung
des Staates gegenüber dem Einzelnen, sich ab einer gewissen
Intensität des Grundrechtseingriffs um die Gewährleistung
von dessen Freiheiten zu kümmern (BVerfG 39, 1, 42). Dies
ist Ausdruck der verfassungsrechtlichen Werteordnung, an
welche die Staatsgewalten gebunden sind (Artikel 20 Ab-
satz 3, Artikel 1 Absatz 3 GG).

Die staatliche Schutzpflicht gilt im Hinblick auf die körper-
liche Unversehrtheit, sowohl im biologisch-physiologischen
als auch im geistig-seelischen Bereich, und beginnt wegen
der Notwendigkeit des umfassenden Grundrechtsschutzes
bei nicht unerheblicher Gefährdung bereits ab dem Zeit-
punkt des Eintritts eines konkreten, grundrechtsbezogenen
Risikos.

Nach der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der
Vereinten Nationen von 1948 haben Frauen und Mädchen
das Recht, selbstbestimmt, frei und in Würde zu leben. Hin-
zukommen die Konvention über die Rechte der Kinder der
Vereinten Nationen von 1989 und die Konvention zur Elimi-
nierung aller Formen der Diskriminierung gegen Frauen
(Frauenrechtskonvention) der Vereinten Nationen von 1979
sowie die Allgemeine Empfehlung Nr. 14 der Frauenrechts-
konvention von 1990.

Bei der weiblichen Genitalverstümmelung handelt es sich
um Eingriffe an den weiblichen Genitalien, die meistens an
Mädchen zwischen dem 7. Lebenstag und dem 18. Lebens-
jahr erfolgen. Dabei werden wesentliche Teile der weib-
lichen Sexualorgane beschädigt, in der Regel sogar entfernt.
Der Eingriff ist weder mit Religionen noch mit Traditionen
zu legitimieren. Das in Artikel 4 Absatz 1, 2 GG geschützte
Grundrecht der Glaubensfreiheit bzw. der ungestörten Reli-
gionsausübung der Eltern muss in diesen Fällen gegenüber
dem in Artikel 2 Absatz 1 GG verankerten Grundrecht auf
körperliche Unversehrtheit des Kindes zurückstehen.

Genitalverstümmelung ist strafbar. Sie ist aufgrund der ge-
nutzten Instrumente und der Art ihrer Verwendung in der
Regel zumindest als gefährliche Körperverletzung gemäß
den §§ 223, 224 Absatz 1 Nummer 2 sowie gegebenenfalls
Nummer 4 und 5 StGB einzuordnen. Selbst bei einer Einwil-
ligung der Betroffenen oder ihrer gesetzlichen Vertreter (El-
tern) ist eine strafrechtliche Rechtfertigung ausgeschlossen.

Denn die Tat würde dennoch gegen die guten Sitten im Sinne
des § 228 StGB verstoßen. Sie zielt auf die Kontrolle über
die Sexualität der minderjährigen und später erwachsenen
Frauen, die Verhinderung ihrer sexuellen Selbstbestimmung
und ihrer freien Entwicklung.

Großen Teilen der Öffentlichkeit fehlt jedoch das Bewusst-
sein für die Strafbarkeit von Genitalverstümmelungen. Da-
rüber hinaus besteht eine rechtliche Unklarheit, ob Genital-
verstümmelung über die gefährliche Körperverletzung hinaus
unter den Verbrechenstatbestand der schweren Körperverlet-
zung (§ 226 StGB) fällt. In der juristischen Fachliteratur ist
umstritten, ob auch Teile des Körpers als dessen „Glied“ im
Sinne des § 226 Absatz 1 Nummer 2 StGB angesehen wer-
den können, die nicht durch Gelenke mit dem Körper ver-
bunden sind und andererseits auch nicht zu den inneren
Organen zählen. Im Unrechtsgehalt steht Genitalverstümme-
lung jedoch unabhängig davon den Fällen des Verlustes oder
der Gebrauchsunfähigkeit eines Körpergliedes in nichts
nach. Aus diesen Gründen ist eine ausdrückliche Straf-
bewehrung in Form der Einführung in § 226 StGB mit dessen
erhöhter Strafdrohung dringend notwendig. Eine Einord-
nung als Vergehen der gefährlichen Körperverletzung gemäß
§ 224 Absatz 1 Nummer 2 würde der Bedeutung des unum-
kehrbaren Verlustes der medizinisch und psychologisch un-
verzichtbaren Teile der weiblichen Genitalien sowie gravie-
renden lebenslangen Folgen für die Gesundheit und die
sexuelle Entfaltung nicht gerecht.

Zudem ist es notwendig, die Verjährungsfrist erst mit dem
18. Lebensjahr des Mädchens einsetzen zu lassen. Daher ist
§ 78b entsprechend zu ändern. Der Bundestag hat bereits am
26. Juni 2008 beschlossen, dass sichergestellt werden soll,
dass die Betroffenen nach Erreichen der Volljährigkeit die
Strafverfolgung in Gang setzen können (Bundestagsdruck-
sachen 16/9420, 16/9694, Plenarprotokoll vom 26. Juni 2008,
S. 18331 D).

Grundsätzlich gilt gemäß § 3 das deutsche Strafrecht für im
Inland begangene Taten. Um sicherzustellen, dass eine Geni-
talverstümmelung auch dann in Deutschland strafrechtlich
verfolgt werden kann, wenn sie bei einem vorübergehenden
Aufenthalt im Ausland vorgenommen wird, ist es erforder-
lich, die Tat in den Katalog der Auslandsstraftaten gegen in-
ländische Rechtsgüter aufzunehmen. In diesem sind unter
anderem bereits Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestim-
mung enthalten. Weiterhin forderte das Europäische Parla-
ment bereits 2001 die Mitgliedstaaten der Europäischen
Union auf, bei der Ausarbeitung spezifischer Rechts-
vorschriften zusammenzuarbeiten, um Genitalverstümme-
lung im Namen des Rechts der Person auf Unversehrtheit,
Gewissensfreiheit und Gesundheit zu unterbinden. Diese
Forderung wurde am 24. März 2009 mit dem Initiativ-
bericht des Europäischen Parlaments erneut bekräftigt
(P6_TA-PROV(2009)0161).

Bislang bestehen in folgenden europäischen Ländern spe-
zialgesetzliche Regelungen gegen Genitalverstümmelung:
Belgien, Dänemark, Frankreich, Großbritannien, Italien,
Norwegen, Österreich, Schweden und Spanien.

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 7 – Drucksache 16/12910

In Frankreich ist die weibliche Genitalverstümmelung unter
den Artikeln 222-9 und 222-10 des Code Pénal als Verstüm-
melung strafbar und wurde seit 1983 in über 36 Prozessen
strafrechtlich verfolgt. Es droht unter erschwerenden Um-
ständen (Straftat gegenüber Minderjährigen und von Eltern
oder Aufsichtsperson begangen) ein Freiheitsentzug von bis
zu 20 Jahren. Positive Erfahrungen mit der rechtlichen Sig-
nalwirkung sind unter anderem aus Frankreich bekannt, wo
bereits vor zehn Jahren Eltern und eine Beschneiderin zu
Haftstrafen verurteilt wurden.

Die Bedeutung, die Genitalverstümmelung in Deutschland
in den Straftatbestand des § 226 mit aufzunehmen, geht so-
mit weit über eine rein symbolische Wirkung hinaus. Das
Ziel der Gesetzesänderung ist es, rechtliche Schutzlücken
der aktuellen Gefährdungslage für Mädchen und Frauen be-
züglich der weiblichen Genitalverstümmelung zu schließen.

Einzelbegründung

Zu Artikel 1

Zu § 5 Nummer 8a

Die Genitalverstümmelung ist bisher nicht im Katalog des
§ 5 aufgeführt, der die Auslandstaten gegen inländische
Rechtsgüter betrifft. Die entsprechende Ergänzung der Vor-
schrift stellt sicher, dass auch über den von den §§ 3, 7, 9 er-
fassten Bereich der Geltung des deutschen Strafrechts hinaus
Genitalverstümmelungen und ihre Veranlassung in Deutsch-
land verfolgt werden können, wenn die Mädchen und jungen
Frauen ins Ausland gebracht werden und dort diesen bruta-
len Eingriff erleiden.

Strafrechtlich geschützt sind Betroffene, wenn sie ihren ge-
wöhnlichen Aufenthalt in Deutschland haben. Für diese rein
strafrechtlich auszulegende Voraussetzung kommt es nicht
auf einen besonderen ausländerrechtlichen Rechtsstatus an.
Der strafrechtliche Schutz kann insbesondere nicht von ei-
nem legalen Aufenthalt abhängen. Entscheidend sind allein
die faktischen Umstände.

Zu § 78b

Lässt sich die Tat als schwere Körperverletzung qualifizie-
ren, wie der Gesetzentwurf ausdrücklich vorsieht, beträgt die
Verjährungsfrist zehn Jahre (§ 78 Absatz 3 Nummer 3). Da
die Verjährungsfrist mit der Genitalverstümmelung selbst
beginnt, regelmäßig Kinder betroffen sind, kein Familien-
mitglied Anzeige erstattet und die ärztliche Verschwiegen-
heitspflicht besteht, kommt es meist nicht zu einer rechtzei-
tigen Aufdeckung begangener Taten. Dies trägt wesentlich
zur Sanktionslosigkeit der Genitalverstümmelung bei. Die
meist sehr jungen Opfer werden erst im Erwachsenenalter
– nach Abnabelung von Familie und Tradition – an den
Schritt der Strafverfolgung der erlittenen Verletzungen den-
ken. In vielen Fällen sind die Genitalverstümmelungen dann
bereits verjährt und somit nicht mehr verfolgbar. Aufgrund
dieser Sachlage ist eine Veränderung des Beginns der Ver-
jährungsfrist erforderlich. Daher wird § 78b Absatz 1 Num-
mer 1 um den Fall der Genitalverstümmelung ergänzt. Damit
wird ein Ruhen der Verjährung während der Minderjährig-

keit festgelegt. Die Verjährungsfrist beginnt also erst mit
dem Zeitpunkt der Vollendung des 18. Lebensjahres. Geni-
talverstümmelung wird insoweit den bereits in § 78b Ab-
satz 1 Nummer 1 genannten Sexualdelikten gleichgestellt.

Zu § 226 Absatz 1 Nummer 3

Eine explizite Nennung der weiblichen Genitalverstümme-
lung unter § 226 Absatz 1 Nummer 3 entspricht den nationa-
len und internationalen Schutzverpflichtungen und den
schweren Folgen der Tat, die die Betroffenen in ihrer
Lebensqualität dauernd empfindlich beeinträchtigen.

Die Genitalverstümmelung erhält damit den Status als Ver-
brechen mit einem Strafrahmen von einem bis zu zehn Jah-
ren Freiheitsstrafe. Bei der gefährlichen Körperverletzung
wäre der Strafrahmen stattdessen grundsätzlich sechs Mona-
te bis zu zehn Jahre, wobei auch die Annahme eines minder
schweren Falles mit einer Strafdrohung von drei Monten bis
fünf Jahren Freiheitsstrafe möglich wäre.

Weil die Folgen typischerweise absichtlich oder wissentlich
verursacht werden, beträgt die Mindeststrafe für diejenigen,
die die Genitalverstümmelung selbst durchgeführt haben, in
der Regel mindestens drei Jahre (§ 226 Absatz 2). Wird hier-
bei ein minder schwerer Fall angenommen, gilt wiederum
ein Strafrahmen von einem bis zehn Jahren Freiheitsstrafe
(§ 226 Absatz 3 Alternative 2). In minder schweren Fällen
ohne Absicht oder Wissentlichkeit ist der Strafrahmen auf
sechs Monate bis fünf Jahre begrenzt (§ 226 Absatz 3 Alter-
native 1). Soweit Anstiftung oder Beihilfe, etwa durch An-
gehörige, begangen wird, gelten die allgemeinen Regelun-
gen über Strafmilderung (§§ 26, 27, 28, 49).

Unter die beschriebene Strafdrohung des § 226 fällt eine
Körperverletzung im Sinne von § 223 f., wenn sie zur Folge
hat, dass die verletzte Person die weiblichen Genitalien teil-
weise oder ganz verliert oder diese auf andere Art verstüm-
melt werden. Damit sollen alle in der Praxis vorkommenden
Formen der Genitalverstümmelung erfasst werden, wie sie
auch von der Weltgesundheitsorganisation klassifiziert wur-
de. Hierzu gehören vier Formen: Fast ausnahmslos wird die
Klitoris zum Teil oder vollständig amputiert (Klitoridekto-
mie). Bei der Exzision werden über eine teilweise oder
vollständige Entfernung der Klitoris hinaus auch die inneren
Labien (Schamlippen) teilweise oder vollständig heraus-
geschnitten. Es kommt vor, dass zusätzlich Haut und Gewe-
be aus der Vagina ausgeschabt werden (Introcision). In etwa
15 Prozent aller Fälle werden außerdem die äußeren Labien
teilamputiert und über der Vagina so miteinander vernäht,
dass lediglich eine reiskorngroße Öffnung für Urin und
Menstruationsblut verbleibt (Infibulation). Als akute Folgen
der Prozedur sind Schmerzen, hoher Blutverlust, Schock und
mögliche Todesfolge zu nennen. Das Spektrum der Lang-
zeitfolgen umfasst unter anderem eine lebenslange Trauma-
tisierung, chronische Infekte und Schmerzen sowie Un-
fruchtbarkeit, Inkontinenz und eine erhöhte Mortalität für
Schwangere und Säuglinge.

Zu Artikel 2

Die Vorschrift regelt das Inkrafttreten.

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