Bundesverfassungsgericht, Stattgebender Kammerbeschluss vom 17.07.2013, Az. 1 BvR 3167/08

1. Senat 3. Kammer | REWIS RS 2013, 4099

Foto: © Bundesverfassungsgericht │ foto USW. Uwe Stohrer, Freiburg

BUNDESVERFASSUNGSGERICHT (BVERFG) DATENSCHUTZ PERSÖNLICHKEITSRECHT AUSKUNFTSRECHT AUSKUNFT VERSICHERUNGSRECHT VERSICHERUNGEN PATIENTENDATEN

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Gegenstand

Stattgebender Kammerbeschluss: Zum Ausgleich zwischen dem Anspruch auf informationelle Selbstbestimmung des Versicherungsnehmers einerseits und des Offenbarungsinteresses des Versicherungsunternehmens andererseits - hier: Berufsunfähigkeitsversicherung - Obliegenheit des Versicherungsnehmers zu Schweigepflichtentbindungen im Leistungsfall - Gegenstandswertfestsetzung


Tenor

1. Das Endurteil des [X.] vom 26. Mai 2008 - 11 O 9725/07 - und der Beschluss des [X.] vom 2. Oktober 2008 - 8 U 1300/08 - verletzen die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 1 Absatz 1 des Grundgesetzes.

Die Entscheidungen werden aufgehoben.

Die Sache wird an das [X.] zurückverwiesen.

2. Der [X.] hat der Beschwerdeführerin die im Verfassungsbeschwerdeverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu erstatten.

3. Der Wert des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit für das Verfassungsbeschwerdeverfahren wird auf 25.000 € (in Worten: fünfundzwanzigtausend [X.]) festgesetzt.

Gründe

1

Die Verfassungsbeschwerde betrifft den Datenschutz im privaten Versicherungsrecht. Sie wendet sich gegen versicherungsvertragliche Obliegenheiten bei der Feststellung des Versicherungsfalls.

2

1. Die Beschwerdeführerin schloss mit der [X.]n des Ausgangsverfahrens, einem Lebensversicherungsunternehmen, einen Vertrag über eine Berufsunfähigkeitsversicherung. Die dem Vertrag zugrunde liegenden Tarifbedingungen enthielten unter anderem die folgende Bestimmung:

3

"§ 5 Welche Mitwirkungspflichten sind zu beachten, wenn Leistungen verlangt werden?

(1) […]

(3) Bei Berufsunfähigkeit der versicherten Person sind zusätzlich einzureichen: […]

b) ausführliche Berichte der Ärzte, die die versicherte Person gegenwärtig behandeln bzw. behandelt oder untersucht haben, über Ursache, Beginn, Art, Verlauf und voraussichtliche Dauer des Leidens sowie über den Grad der Berufsunfähigkeit bzw. bei Berufsunfähigkeit infolge Pflegebedürftigkeit über Art und Umfang der Pflegebedürftigkeit; […]

(4) Wir können außerdem - allerdings auf unsere Kosten - weitere ärztliche Untersuchungen durch von uns beauftragte Ärzte sowie notwendige Nachweise - auch über die wirtschaftlichen Verhältnisse und ihre Veränderungen - verlangen, insbesondere zusätzliche Auskünfte und Aufklärungen.

Die versicherte Person hat Ärzte, Krankenhäuser und sonstige Krankenanstalten sowie Alten- und Pflegeheime, bei denen sie in Behandlung oder Pflege war oder sein wird, sowie Pflegepersonen, andere Personenversicherer und Behörden zu ermächtigen, uns auf Verlangen Auskunft zu erteilen."

4

Die Beschwerdeführerin machte gegenüber der [X.]n Ansprüche wegen eingetretener Berufsunfähigkeit aufgrund von Depressionen geltend. Die auf dem Antragsformular der [X.]n vorgedruckte [X.]serklärung, die eine Ermächtigung zur Einholung sachdienlicher Auskünfte bei einem weiten Kreis von [X.]enthielt, strich die Beschwerdeführerin durch und unterschrieb das Antragsformular nur im Übrigen. Anschließend korrespondierten die [X.] und die Beschwerdeführerin mehrfach über eine [X.]. Die Beschwerdeführerin erklärte sich durch ihren damaligen Rechtsanwalt zur Erteilung von [X.] bereit. Daraufhin übersandte die [X.] ihr folgende, vorformulierte Erklärungen zur [X.] ihrer Krankenkasse, zweier Ärztinnen sowie der [X.]:

5

"Im Zusammenhang mit meinem Antrag auf Berufsunfähigkeitsleistungen gebe ich ausdrücklich mein Einverständnis, dass [die Krankenkasse beziehungsweise die jeweilige Ärztin] der [[X.]n] umfassend anhand der vorliegenden Unterlagen über meine Gesundheitsverhältnisse, [X.] und Behandlungsdaten Auskunft erteilt. […]"

6

Die Erklärung hinsichtlich der [X.] lautete:

7

"Im Zusammenhang mit meinem Antrag auf Berufsunfähigkeitsleistungen gebe ich ausdrücklich mein Einverständnis, dass die [X.] […] der [[X.]n] umfassend über meine Gesundheitsverhältnisse, bzw. über meine berufliche Situation Auskunft erteilt.

Ich ermächtige den o.g. Sozialversicherungsträger, gemäß § 67 b SGB X  alle vorliegenden medizinischen Gutachten und Berichte der [[X.]n] in Kopie zur Verfügung zu stellen. […]" (Hervorhebung im Original)

8

Die [X.] forderte von der Beschwerdeführerin für die Mehrkosten im Zusammenhang mit den [X.] eine Kostenbeteiligung in Höhe von 20 Euro je Ermächtigung. Der Leistungsantrag werde nach Eingang der Ermächtigungen und des Gesamtbetrages weiter bearbeitet. Die Beschwerdeführerin bat um Konkretisierung der gewünschten Auskünfte. Dem kam die [X.] nicht nach; der Leistungsantrag könne erst nach Erhalt der unterschriebenen [X.]en sowie des geforderten Betrages weiter bearbeitet werden.

9

Die Beschwerdeführerin klagte auf Zahlung der monatlichen Rente aus der Versicherung.

2. Das [X.] wies die Klage ab. Die Beschwerdeführerin sei der ihr zumutbaren Obliegenheit der Vorlage beziehungsweise der Ermöglichung der Vorlage im Hinblick auf ärztliche Unterlagen zum behaupteten Versicherungsfall schuldhaft nicht nachgekommen. Daher sei die [X.] leistungsfrei. Der Beschwerdeführerin habe das Recht zugestanden, die allgemeine [X.] im Rahmen des schriftlichen [X.] nicht zu unterzeichnen. Spätestens durch Zusendung der Einzelermächtigungsformulare sei klar gewesen, dass die [X.] weitere Auskünfte für erforderlich hielt. Selbst wenn der inhaltliche Umfang der [X.] zu weit gefasst sein sollte, habe es gleichwohl der Beschwerdeführerin oblegen, dem von ihr erkannten Interesse der [X.]n an Auskünften nachzukommen.

3. Das [X.] wies die Berufung mit angegriffenem Beschluss zurück. Richtigerweise habe das [X.] offengelassen, ob die Beschwerdeführerin zur Zahlung der von der [X.]n für die Bearbeitung geforderten Kostenpauschale und zur uneingeschränkten Abgabe der [X.] verpflichtet gewesen sei.

Die [X.] habe der Beschwerdeführerin mit der Übersendung der vorbereiteten [X.] eine Möglichkeit geboten, ihre informationelle Selbstbestimmung zu wahren und zugleich ihrer Mitwirkungspflicht nachzukommen. Es sei zumutbar gewesen, zur Erhaltung ihres Leistungsanspruchs die [X.], wenn sie ihr noch zu weitgehend erschienen seien, entsprechend - etwa durch Streichung des Wortes "umfassend" oder auch in zeitlicher Hinsicht - einzuschränken und dann unterzeichnet zurückzusenden, oder die in den [X.] genannten Unterlagen selbst zu beschaffen und der [X.]n in dem Umfang zur Verfügung zu stellen, in dem sie hierzu bereit gewesen wäre. In beiden Fällen wäre die [X.] verpflichtet gewesen, auch mit den auf dieser eingeschränkten Basis zur Verfügung stehenden Unterlagen ihre Leistungsprüfung fortzusetzen, und hätte sich nicht einfach auf eine Verletzung der Mitwirkungspflicht berufen können. Die Beschwerdeführerin habe keinen Anspruch, dass die [X.] immer neue Entwürfe vorlege, solange sie selbst nicht klar mache, in welchen Punkten ihr die erbetene Vollmacht zu weit gehe. An die Konkretisierung des Auskunftsersuchens des Versicherers seien - jedenfalls solange dieser keine Kenntnis habe, welche Unterlagen bei den jeweiligen [X.] vorlägen - keine hohen Anforderungen zu stellen.

4. Mit ihrer Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin die Verletzung ihres Rechts auf informationelle Selbstbestimmung aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG. Der Schutz dieses Grundrechts werde ausgehöhlt, wenn der Versicherungsnehmer zur Beschaffung von Antworten auf ihm nicht bekannte Fragen des Versicherers verpflichtet sei. Dies würde dazu führen, dass der Versicherte vom Versicherer vorgelegte verfassungswidrige Ermächtigungen unterschreiben würde, nur um den Versicherungsschutz nicht zu verlieren. Ein Anspruch auf Abgabe einer umfassenden [X.]serklärung sei nur dann verfassungsgemäß, wenn dem Versicherten zumindest ein weiterer Weg angeboten werde, der die durch die [X.] ermöglichten Auskünfte im Einzelfall konkret beschreibe. Die vier von der [X.]n vorgelegten Erklärungen seien pauschale Entbindungen von der Schweigepflicht ohne Möglichkeit zum Selbstschutz für die Beschwerdeführerin gewesen.

5. Das [X.] und Verbraucherschutz hat von einer Stellungnahme abgesehen. Die [X.] hält die Verfassungsbeschwerde für unbegründet, da der Beschwerdeführerin die Möglichkeit eingeräumt worden sei, nur einzelne Adressaten von der Schweigepflicht zu befreien. Eine weitergehende Einschränkung der [X.] sei nicht möglich, weil sie zum Schutz vor missbräuchlicher Inanspruchnahme von Versicherungsleistungen prüfen müsse, ob die Beschwerdeführerin schon bei Vertragsschluss berufsunfähig gewesen sei und die Gesundheitsfragen richtig beantwortet habe.

II.

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr nach § 93c Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 93a Abs. 2 Buchstabe b [X.] statt. Die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist zur Durchsetzung des Grundrechts der Beschwerdeführerin aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG angezeigt. Die für die Beurteilung maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen der Privatrechtswirkung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung (vgl. [X.] 84, 192 ff.) und der verfassungsrechtlichen Vorgaben für die Inhaltskontrolle von [X.](vgl. [X.] 81, 242 ff.; 89, 214 ff.; 103, 89 ff.) hat das [X.] bereits geklärt. Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist im Sinne des § 93c Abs. 1 Satz 1 [X.] offensichtlich begründet.

1. Die angegriffenen Entscheidungen des [X.]s und des [X.]s verletzen die Beschwerdeführerin in ihrem durch Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG gewährleisteten allgemeinen Persönlichkeitsrecht in seiner Ausprägung als Recht der informationellen Selbstbestimmung.

a) Im [X.] entfalten die Grundrechte ihre Wirkkraft als verfassungsrechtliche Wertentscheidungen durch das Medium der Vorschriften, die das jeweilige Rechtsgebiet unmittelbar beherrschen (vgl. [X.] 7, 198 <205 f.>; 42, 143 <148>; 103, 89 <100>). Den Gerichten obliegt es, diesen grundrechtlichen Schutz durch Auslegung und Anwendung des einfachen Rechts zu gewähren und im Einzelfall zu konkretisieren. Ihrer Beurteilung und Abwägung von [X.] im Verhältnis zueinander kann das [X.] nur dann entgegentreten, wenn eine angegriffene Entscheidung [X.]erkennen lässt, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Auffassung von der Bedeutung eines Grundrechts beruhen (vgl. [X.] 18, 85 <93>; 42, 143 <148 f.>; 54, 148 <151 f.>; [X.], 353 <357 f.>; stRspr).

b) Die angegriffenen Entscheidungen sind an der aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG folgenden Pflicht der staatlichen Gewalt zu messen, dem Individuum eine informationelle Selbstbestimmung im Verhältnis zu [X.] zu ermöglichen.

aa) Das allgemeine Persönlichkeitsrecht umfasst die Befugnis des Individuums, über die Preisgabe und Verwendung seiner persönlichen Daten - hier seiner Gesundheitsdaten - selbst zu bestimmen (vgl. [X.] 65, 1 <43>; 84, 192 <194>). Dieses Recht entfaltet als objektive Norm seinen Rechtsgehalt auch im Privatrecht und strahlt so auf die Auslegung und Anwendung privatrechtlicher Vorschriften aus ([X.] 84, 192 <194 f.>). [X.] ein Gericht, das eine privatrechtliche Streitigkeit entscheidet, in grundsätzlicher Weise den Schutzgehalt des allgemeinen Persönlichkeitsrechts, verletzt es durch sein Urteil das Grundrecht des Bürgers in seiner Funktion als Schutznorm (vgl. [X.] 84, 192 <195>).

Die aus dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung folgende Schutzpflicht gebietet es, dafür Sorge zu tragen, dass informationeller Selbstschutz für Einzelne tatsächlich möglich ist. Zwar steht es dem Individuum frei, Daten anderen gegenüber zu offenbaren oder sich vertraglich dazu zu verpflichten. Hat aber in einem Vertragsverhältnis ein Partner ein solches Gewicht, dass er den Vertragsinhalt faktisch einseitig bestimmen kann, so ist es Aufgabe des Rechts, auf die Wahrung der [X.] der beteiligten Parteien hinzuwirken, um zu verhindern, dass sich für einen Vertragsteil die Selbstbestimmung in eine Fremdbestimmung verkehrt (vgl. [X.] 103, 89 <100 f.>; 114, 1 <34>; [X.], 353 <358 f.>).

bb) Das Grundgesetz gibt eine konkrete Ausgestaltung des Schutzes der informationellen Selbstbestimmung nicht vor. Der Gesetzgeber hat mit dem Gesetz zur Reform des Versicherungsvertragsrechts vom 23. November 2007 ([X.] 2631) in § 213 [X.] den Schutz der informationellen Selbstbestimmung der Versicherungsnehmerinnen und -nehmer geregelt. Diese Regelung findet gemäß Art. 1 Abs. 2 EG[X.] jedoch keine Anwendung, wenn ein Versicherungsfall - wie hier - vor dem 31. Dezember 2008 eingetreten ist. In diesen Fällen obliegt es allein den Gerichten, bei der Gesetzes- und Vertragsauslegung einen wirksamen Schutz der informationellen Selbstbestimmung zu gewährleisten, indem sie prüfen, wie das Interesse der Versicherten an [X.] informationellem Selbstschutz und das in der von Art. 12 GG geschützten Vertragsfreiheit wurzelnde Offenbarungsinteresse des Versicherungsunternehmens, in einen angemessenen Ausgleich gebracht werden können.

Eines Ausgleichs bedarf es hierbei insbesondere hinsichtlich der Frage, wie die für die Beurteilung der Leistungspflicht erforderlichen Informationen eingegrenzt werden können. Das Versicherungsunternehmen muss einerseits den Eintritt des Versicherungsfalls prüfen können, dabei muss anderseits aber die Übermittlung von persönlichen Daten auf das hierfür Erforderliche begrenzt bleiben. Allerdings ist es dem Versicherer oft nicht möglich, im Voraus alle Informationen zu beschreiben, auf die es für die Überprüfung ankommen kann. Auch wenn die für die Prüfung benötigten Auskünfte begrenzt sein können, lassen sich diese zum Teil erst dann bestimmen, wenn der Versicherer zunächst einen Überblick über die insgesamt in Betracht kommenden Informationsquellen und damit weiterreichende Informationen erlangt hat. In einer solchen Situation wird das verfassungsrechtlich gebotene Schutzniveau unterschritten, wenn die Gerichte den Versicherungsvertrag so auslegen, dass die Versicherten eine Obliegenheit trifft, eine umfassende [X.] abzugeben, die es dem Versicherungsunternehmen ermöglicht, "sachdienliche Auskünfte" bei einem nicht konkret bestimmten Personenkreis von Ärzten, Krankenhäusern, Krankenkassen, Versicherungsgesellschaften, Sozialversicherungsträgern, Behörden und Arbeitgebern einzuholen (vgl. [X.], 353 <362 ff.>). Bestehen wie im vorliegenden Fall keine ausdrücklichen gesetzlichen Regelungen über den informationellen Selbstschutz, kann es zur Gewährleistung eines schonenden Ausgleichs der verschiedenen [X.] geboten sein, eine verfahrensrechtliche Lösung zu suchen. Denkbar wäre insoweit die Anerkennung von Kooperationspflichten, die sicherstellen, dass Versicherte und Versicherung im Dialog ermitteln, welche Daten zur Abwicklung des Versicherungsfalls erforderlich sind. Die Anforderungen an diesen Dialog festzulegen und Vorgaben für seine Ausgestaltung zu machen, zählt zu den Aufgaben der Zivilgerichte.

c) Diesen verfassungsrechtlichen Anforderungen an den Schutz der informationellen Selbstbestimmung genügen die angegriffenen Entscheidungen nicht.

aa) Zwischen der Beschwerdeführerin und der [X.]n bestand bei Abschluss des Versicherungsvertrags ein Verhandlungsungleichgewicht, das es der Beschwerdeführerin nicht ermöglichte, ihren informationellen Selbstschutz eigenverantwortlich und selbständig sicherzustellen.

Deshalb oblag hier den Gerichten die Gewährleistung eines wirksamen Schutzes der informationellen Selbstbestimmung. Die Vertragsbedingungen der Versicherer sind - jedenfalls hinsichtlich der datenschutzrechtlichen Konditionen - praktisch nicht verhandelbar ([X.], 353 <360>; vgl. - für die Lebensversicherung - [X.] 114, 73 <95>). Versicherte einer Berufsunfähigkeitsversicherung können nicht auf die Möglichkeit verwiesen werden, um des informationellen Selbstschutzes willen einen Vertragsschluss zu unterlassen oder die Leistungsfreiheit des Versicherers hinzunehmen. Berufstätige sind vielfach darauf angewiesen, für den Fall der Berufsunfähigkeit durch Abschluss eines entsprechenden Versicherungsvertrags vorzusorgen, um ihren Lebensstandard zu sichern.

bb) Den danach sich aus der Verfassung ergebenden Anforderungen an einen hinreichenden Ausgleich zwischen den betroffenen [X.], dem Interesse an informationellem Selbstschutz einerseits und dem in der Berufsfreiheit wurzelnden Interesse an der Offenlegung von Informationen andererseits, werden die angegriffenen Entscheidungen nicht gerecht. Sie tragen den Belangen der Beschwerdeführerin nicht hinreichend Rechnung.

(1) Durch die von den vorformulierten [X.] vorgesehene Entbindung von der Schweigepflicht würde der [X.]n ermöglicht, auch über das für die Abwicklung des Versicherungsfalls erforderliche Maß hinaus in weitem Umfang sensible Informationen über die Beschwerdeführerin einzuholen. Dies trifft die Belange der Beschwerdeführerin erheblich, weil sich die Daten auf detaillierte Angaben zu ihrer Gesundheit und den ärztlichen Behandlungen, also auf Angaben höchstpersönlicher Natur beziehen. Zwar werden in den [X.] vier [X.] benannt. Aus den [X.] war jedoch nicht ansatzweise erkennbar, welche konkreten Informationen die [X.] zur Prüfung des Versicherungsfalls benötigt. Die benannten Auskunftsgegenstände - etwa "Gesundheitsverhältnisse, [X.] und Behandlungsdaten" - sind so allgemein gehalten, dass sie kaum zu einer Begrenzung des Auskunftsumfangs führen. Erfasst werden nahezu alle bei den benannten [X.] über die Beschwerdeführerin vorliegenden Informationen. Die Weite der erfassten Auskunftsgegenstände wird durch die Verwendung des Wortes "umfassend" in den vorformulierten Erklärungen unterstrichen. Die Formulierung der [X.] umfasst damit auch Informationen, die für die Abwicklung des Versicherungsfalles bedeutungslos sind. So liegen schon der Krankenkasse regelmäßig Informationen über praktisch jeden Arztbesuch und Krankenhausaufenthalt der versicherten Person vor, so dass bereits insoweit annähernd alle Angaben über die Gesundheitsverhältnisse und Behandlungsdaten erfasst sind. Dass diese nicht in ihrer Gänze für die Bearbeitung des Versicherungsfalles von Bedeutung sind, liegt auf der Hand.

(2) Die Beschwerdeführerin kann nicht, wie es die angegriffenen Entscheidungen als ausreichend ansehen, auf die Möglichkeit verwiesen werden, die vorformulierten [X.] selbst zu modifizieren oder die erforderlichen Unterlagen eigenständig vorzulegen. Zwar haben die erkennenden Gerichte damit der Beschwerdeführerin eine Mitwirkungsmöglichkeit zuerkannt. Jedoch erlegen sie damit der Beschwerdeführerin auf, die Interessen der Gegenpartei zu erforschen und belasten sie für den Fall, dass die vorgelegten Unterlagen oder die modifizierten Ermächtigungen für unzureichend erachtet würden, in nicht tragbarer Weise mit dem Risiko eines Verlusts des Leistungsanspruchs. Dieser Weg ist nicht geeignet, den informationellen Selbstschutz der Beschwerdeführerin im Dialog mit dem Versicherungsunternehmen zu gewährleisten. Die vorprozessuale anwaltliche Vertretung der Beschwerdeführerin ändert daran nichts, weil auch die Möglichkeit anwaltlicher Beratung nicht das Risiko beseitigt, dem die Beschwerdeführerin ausgesetzt ist.

(3) Die angegriffenen Entscheidungen lassen beim Ausgleich der sich gegenüberstehenden [X.] unberücksichtigt, dass es dem Schutz der Beschwerdeführerin möglicherweise erheblich dienen kann, die [X.] aber nicht unverhältnismäßig belasten muss, wenn von ihr eine weitere Einschränkung der geforderten [X.] verlangt wird. Zwar kann der Umfang der [X.] dabei nicht vornherein schon auf die für die Prüfung des Leistungsanspruchs relevanten Informationen begrenzt werden, weil dem Versicherer zunächst selbst noch nicht bekannt ist, welche dies sind. Jedoch ließe sich in Betracht ziehen, die von den [X.] umfassten Informationen etwa zunächst auf solche weniger weitreichenden und persönlichkeitsrelevanten Vorinformationen zu beschränken, die ausreichen, um festzustellen, welche Informationen tatsächlich für die Prüfung des [X.] relevant sind. Eine zumindest grobe Konkretisierung der Auskunftsgegenstände könnte so den erheblichen Umfang der durch die [X.] zugänglichen, überschießenden Informationen begrenzen und damit dem Recht der Beschwerdeführerin auf informationelle Selbstbestimmung Rechnung tragen. Die Verfahrenseffizienz würde durch eine solche Konkretisierung der Auskunftsgegenstände nur geringfügig beeinträchtigt. Angesichts des Umfangs der bei der Krankenkasse der Beschwerdeführerin und der [X.] vorliegenden Unterlagen ist es ohnehin wahrscheinlich, dass die [X.] den [X.] im Rahmen einer Anfrage an diese präziser formulieren würde als in den [X.].

2. Die angegriffenen Entscheidungen beruhen auf dem Verfassungsverstoß. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass die Gerichte zu einem anderen Ergebnis gelangt wären, wenn sie das durch Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG gewährleistete allgemeine Persönlichkeitsrecht in seiner Ausprägung als Recht der informationellen Selbstbestimmung bei der Auslegung und Anwendung der streitentscheidenden Vorschriften des Privatrechts zutreffend berücksichtigt hätten.

3. Der Verfassungsbeschwerde ist danach stattzugeben und die Grundrechtsverletzung festzustellen (§ 95 Abs. 1 Satz 1 [X.]). Die angegriffenen Entscheidungen sind aufzuheben (§ 95 Abs. 2 [X.]) und die Sache an das [X.] zurückzuverweisen.

4. Der [X.] hat der Beschwerdeführerin die notwendigen Auslagen im Verfassungsbeschwerdeverfahren nach [[X.]-8bce-4010-8022-516537786717]§ 34a Abs. 2 [X.][/ref] zu erstatten.

5. Die Festsetzung des Gegenstandswerts der anwaltlichen Tätigkeit für das Verfassungsbeschwerdeverfahren beruht auf § 37 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit § 14 Abs. 1 RVG (vgl. [X.] 79, 365 <366 ff.>).

Meta

1 BvR 3167/08

17.07.2013

Bundesverfassungsgericht 1. Senat 3. Kammer

Stattgebender Kammerbeschluss

Sachgebiet: BvR

vorgehend OLG Nürnberg, 2. Oktober 2008, Az: 8 U 1300/08, Beschluss

Art 1 Abs 1 GG, Art 2 Abs 1 GG, Art 12 Abs 1 GG, § 93c Abs 1 S 1 BVerfGG, § 213 VVG

Zitier­vorschlag: Bundesverfassungsgericht, Stattgebender Kammerbeschluss vom 17.07.2013, Az. 1 BvR 3167/08 (REWIS RS 2013, 4099)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2013, 4099

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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Referenzen
Wird zitiert von

2 B 69/12

2 B 24/12

1 BvR 99/11 - Vz 1/15

1 BvR 2771/18

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