Bundesgerichtshof, Beschluss vom 18.02.2016, Az. V ZB 23/15

5. Zivilsenat | REWIS RS 2016, 15988

© REWIS UG (haftungsbeschränkt)

Tags hinzufügen

Sie können dem Inhalt selbst Schlagworten zuordnen. Geben Sie hierfür jeweils ein Schlagwort ein und drücken danach auf sichern, bevor Sie ggf. ein neues Schlagwort eingeben.

Beispiele: "Befangenheit", "Revision", "Ablehnung eines Richters"

QR-Code

Gegenstand

Abschiebungshaftsache: Haftgrunds der Fluchtgefahr nach Ablauf der Frist zur Umsetzung der Rückführungsrichtlinie; Verfahrensfehler bei der Durchführung der Anhörung; unterlassene Aushändigung des Haftantrags


Leitsatz

1. Der Haftgrund der Fluchtgefahr nach § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 AufenthG in der bis zum 31. Juli 2015 geltenden Fassung war auch nach dem Ablauf der Frist zur Umsetzung der Richtlinie 2008/115/EG (sog. Rückführungsrichtlinie) am 24. Dezember 2011 weiter anzuwenden.

2a. Verfahrensfehler bei der Durchführung der persönlichen Anhörung des Betroffenen verletzen § 420 FamFG und damit Art. 104 Abs. 1 GG nur, wenn sie nicht nur den formal ordnungsmäßigen Ablauf der Anhörung, sondern deren Grundlagen betreffen.

2b. Die Grundlagen der Anhörung sind nicht schon betroffen, wenn dem Betroffenen eine Kopie des Haftantrags oder von dessen Übersetzung nicht ausgehändigt wird, sondern erst, wenn der Anhörung ein unzulässiger oder ein unvollständiger Haftantrag zugrunde liegt, oder wenn der zulässige Haftantrag bei der Anhörung nicht zumindest in den wesentlichen Grundzügen sinngemäß mündlich in eine Sprache übersetzt wird, die der Betroffene beherrscht.

Tenor

Die Rechtsbeschwerde des Betroffenen gegen den Beschluss der 19. Zivilkammer des [X.] vom 16. Februar 2015 wird auf Kosten des Betroffenen zurückgewiesen.

Der Gegenstandswert des [X.] beträgt 5.000 €.

Gründe

I.

1

Der Betroffene ist kosovarischer Staatsangehöriger. Er wurde am 6. Dezember 2014 in [X.] bei einer Polizeikontrolle festgenommen, weil er keine gültigen Papiere bei sich führte, und am 12. Dezember 2014 unter Befristung des Einreiseverbots auf zwei Jahre in den [X.] abgeschoben. Am 15. Januar 2015 wurde er erneut in [X.] bei einer Polizeikontrolle ohne gültige Einreise- und Aufenthaltspapiere angetroffen und festgenommen. Bei seiner Anhörung durch das Amtsgericht erklärte er, er beabsichtige, Asyl zu beantragen.

2

Auf Antrag der beteiligten Behörde hat das Amtsgericht am Folgetag gegen den Betroffenen Haft zur Sicherung seiner Abschiebung in den [X.] bis zum 26. Februar 2015 angeordnet. Die mit einem Antrag auf Feststellung der Rechtswidrigkeit dieser Haft verbundene Beschwerde hat das [X.] zurückgewiesen. Dagegen wendet sich der Betroffene mit der Rechtsbeschwerde, nach seiner Abschiebung in den [X.] am 26. Februar 2015 mit dem Antrag, die Rechtswidrigkeit der Haftanordnung festzustellen.

II.

3

Das [X.] ([X.], Beschluss vom 16. Februar 2015 - 19 T 43/15, juris) hält die Haftanordnung des Amtsgerichts im Ergebnis für rechtmäßig. Zwar könne sie mit Rücksicht auf den Asylantrag nicht mehr auf den Tatbestand der unerlaubten Einreise gestützt werden. Gegeben sei aber der von dem Amtsgericht ebenfalls angenommene Haftgrund der Fluchtgefahr gemäß § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 [X.] aF. Der Anwendung dieses Haftgrunds stehe die Richtlinie 2008/115/EG (des [X.] und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedsstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger, [X.]. EG Nr. L 348 S. 98 - sog. Rückführungsrichtlinie) nicht entgegen. Der [X.] habe zwar entschieden, dass Haft zur Sicherung einer Rücküberstellung nach Maßgabe der Dublin-III-Verordnung nicht mehr auf diesen Haftgrund gestützt werden könne, weil er durch nationale gesetzliche Vorschriften näher ausgeformt werden müsse. Für die Abschiebungshaft gelte diese Rechtsfolge aber nicht. Zwar sehe die Rückführungsrichtlinie eine ähnliche Regelung für den dort bestimmten Haftgrund der Fluchtgefahr vor. Dieser sei aber, anders als der Haftgrund der Fluchtgefahr nach Art. 28 Abs. 2 der Dublin-III-Verordnung, nicht abschließend, sondern nur einer von mehreren möglichen [X.].

III.

4

Diese Erwägungen halten einer rechtlichen Prüfung stand.

5

1. Gegen die Anordnung der Haft durch das Amtsgericht wendet der Betroffene zu Unrecht ein, sie habe wegen der unmittelbaren Wirkung der Rückführungsrichtlinie nicht auf den Haftgrund der Fluchtgefahr nach dem hier noch maßgeblichen § 62 Abs. 1 Satz 3 Nr. 5 [X.] in der bis zum Inkrafttreten des [X.] und der Aufenthaltsbeendigung vom 27. Juli 2015 ([X.]) am 1. August 2015 geltenden Fassung gestützt werden können. Dieser Haftgrund war auch nach dem Ablauf der Frist zur Umsetzung der Rückführungsrichtlinie am 24. Dezember 2011 weiter anzuwenden.

6

a) Richtig ist allerdings der Ausgangspunkt des Betroffenen.

7

aa) § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 [X.] genügte in der bis zum 31. Juli 2015 geltenden Fassung nicht den Anforderungen der Rückführungsrichtlinie. Diese Richtlinie lässt in Art. 15 Abs. 1 Satz 1 Buchst. a unter näheren Voraussetzungen eine Inhaftierung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger zur Sicherung der Abschiebung unter anderem wegen Fluchtgefahr zu. Zur Umsetzung dieses Haftgrunds reichte es allerdings nicht aus, in den [X.] Umsetzungsvorschriften lediglich den Haftgrund der Fluchtgefahr zu wiederholen.

8

bb) Art. 3 Nr. 7 der Richtlinie bestimmt nämlich, dass unter Fluchtgefahr im Sinne der Richtlinie „das Vorliegen von Gründen im Einzelfall [zu verstehen ist], die auf objektiven, gesetzlich festgelegten Kriterien beruhen und zu der Annahme Anlass geben, dass sich Drittstaatsangehörige einem Rückkehrverfahren durch Flucht entziehen könnten“. Die Vorschrift verlangt somit gesetzlich festgelegte Kriterien zur Konkretisierung der im Gemeinschaftsrecht bestimmten Voraussetzung der „Fluchtgefahr“. Solche Kriterien sah das [X.] in der bis zum 31. Juli 2015 geltenden Fassung nicht vor. Es genügte deshalb in diesem Punkt nicht den Umsetzungsverpflichtungen der Richtlinie. Der [X.] hat das für die wortgleiche Regelungsverpflichtung der Mitgliedstaaten zur Ausfüllung des Begriffs der Fluchtgefahr in Art. 28 Abs. 2 der Dublin-III-Verordnung gemäß deren Art. 2 Buchst. n entschieden (Beschluss vom 26. Juni 2014 - [X.] 31/14 NVwZ 2014, 1397 Rn. 14 und Beschluss vom 22. Oktober 2014 - [X.], NVwZ 2015, 607 Rn. 10). Für Art. 3 Nr. 7 der Rückführungsrichtlinie gilt nichts anderes.

9

cc) Es trifft schließlich auch zu, dass sich Betroffene in Mitgliedstaaten der [X.], die die Rückkehrrichtlinie nicht bis zum Ablauf der in Art. 20 Abs. 1 der Richtlinie geregelten Umsetzungsfrist am 24. Dezember 2011 fristgemäß und vollständig umgesetzt haben, auf inhaltlich unbedingte und hinreichend genaue Bestimmungen dieser Richtlinie berufen können, und dass Art. 15 (und 16) der Rückführungsrichtlinie solche unbedingten und hinreichend genauen Vorschriften enthält ([X.], Urteil vom 28. April 2011, [X.]. [X.]/11 [X.] - [X.], [X.]:[X.]:C:2011:268 Rn. 46 f).

b) Folge dessen ist aber nicht, dass die Anordnung von Abschiebungshaft in dem Zeitraum von dem Ablauf der Frist zur Umsetzung der Rückkehrrichtlinie bis zur Behebung des [X.]s mit dem Gesetz zur Neubestimmung des Bleiberechts und der Aufenthaltsbeendigung vom 27. Juli 2015 ([X.]) am 1. August 2015 nicht auf den Haftgrund der Fluchtgefahr nach § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 [X.] in der bis dahin geltenden Fassung gestützt werden durfte.

aa) Das ergibt sich entgegen der Ansicht des [X.] (ebenso [X.], Beschluss vom 30. April 2015 - 8 T 16/15, juris Rn. 15) allerdings nicht schon daraus, dass Art. 15 Abs. 1 Satz 1 der Rückführungsrichtlinie die Anordnung von Haft zur Sicherung der Abschiebung auch aus anderen Gründen als der Fluchtgefahr zulässt. Dadurch wird der nationale Gesetzgeber der Mitgliedstaaten nur dazu ermächtigt, neben der Fluchtgefahr noch andere Haftgründe vorzusehen. An der Verpflichtung, den an sich zulässigen Haftgrund der Fluchtgefahr durch Kriterien gesetzlich näher auszuformen, anhand derer eben diese Fluchtgefahr festgestellt werden soll, ändert diese Ermächtigung indessen nichts.

bb) Der Haftgrund der Fluchtgefahr nach § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 [X.] in der bis zum 31. Juli 2015 geltenden Fassung war vielmehr deshalb nach dem Ablauf der Umsetzungsfrist weiterhin anwendbar, weil der [X.] Gesetzgeber eine Vorschrift der Richtlinie unzureichend umgesetzt hat, die keine unmittelbare Wirkung entfaltet.

(1) Die Kriterien, anhand derer Fluchtgefahr festzustellen ist, müssen zwar sowohl für die Rücküberstellungs- als auch für die Abschiebungshaft gesetzlich festgelegt werden. Insofern besteht zwischen den [X.] nach Art. 2 Buchstabe n der Dublin-III-Verordnung einerseits und nach Art. 3 Nr. 7 der Rückführungsrichtlinie andererseits kein Unterschied. Unterschiedlich sind aber die Folgen, die das Versäumnis des [X.] Gesetzgebers hatte.

(a) Die Voraussetzungen für die Anordnung von Haft zur Sicherung der Rücküberstellung nach der Dublin-III-Verordnung sind in deren Art. 28 abschließend und mit unmittelbarer Geltung in allen Mitgliedstaaten der [X.], ausgenommen [X.], geregelt. Diese unionsrechtliche Regelung sperrt den Rückgriff auf die nationalen Haftgründe. Der unionsrechtliche Haftgrund der erheblichen Fluchtgefahr kann dessen ungeachtet erst angewendet werden, wenn die Mitgliedstaaten ihrer Konkretisierungspflicht nach Art. 2 Buchstabe n der Dublin-III-Verordnung nachgekommen sind. Ohne diese Konkretisierung kann daher Haft zur Sicherung der Rücküberstellung nach dieser Verordnung nicht angeordnet werden. Das war in [X.] in dem Zeitraum vom 1. Januar 2014 bis zum 31. Juli 2015 der Fall.

(b) Die Voraussetzungen für die Anordnung von Haft zur Sicherung der Abschiebung bestimmen sich demgegenüber nicht nach unmittelbar geltenden Unionsvorschriften, sondern nach dem nationalen Recht der Mitgliedstaaten, in [X.] nach § 62 Abs. 3 Satz 1 [X.] in der hier noch maßgeblichen bis zum 31. Juli 2015 geltenden Fassung. Allerdings dürfen sich Betroffene nach dem Ende der Frist zur Umsetzung der Rückführungsrichtlinie am 24. Dezember 2011 auf inhaltlich unbedingte und hinreichende genaue Bestimmungen der Richtlinie berufen, wenn sie in dem betreffenden Mitgliedstaat noch nicht umgesetzt worden sind. Nur insofern kommt der die Rückführungsrichtlinie in [X.] unmittelbare Wirkung zu, die bei der Anordnung von Abschiebungshaft zur berücksichtigen war.

(1) Solche unmittelbare Wirkungen entfalten zwar, wie ausgeführt, die Regelungen in Art. 15 bis 17 der Rückführungsrichtlinie über die Voraussetzungen für die Anordnung von Abschiebungshaft und für ihre Durchführung ([X.], Urt. v. 28. April 2011, [X.]. [X.]/11 [X.] - [X.], [X.]:[X.]:C:2011:268 Rn. 40, 47 für Art. 15, 16 und [X.], Beschluss vom 17. Juni 2010 - [X.], NVwZ 2010, 1318 Rn. 27 für Art. 17). Der [X.] Gesetzgeber hatte aber mit dem Gesetz zur Umsetzung aufenthaltsrechtlicher Richtlinien der [X.] und zur Anpassung nationaler Rechtsvorschriften an den [X.]-Visakodex vom 22. November 2011 ([X.] I S. 2258) nicht Art. 15 der Rückführungsrichtlinie unzureichend umgesetzt. Denn diese Vorschrift sieht gerade vor, dass Abschiebungshaft unter anderem wegen Fluchtgefahr angeordnet werden darf. Nicht umgesetzt hatte der [X.] Gesetzgeber vielmehr Art. 3 Nr. 7 der Rückführungsrichtlinie, wonach Kriterien zur Feststellung von Fluchtgefahr nach Art. 15 Abs. 1 Satz 1 Buchst. a dieser Richtlinie gesetzlich festzulegen sind.

(2) Diese Vorschrift der Richtlinie enthält keine hinreichend genaue Bestimmung, auf die sich ein Betroffener gegenüber dem Mitgliedsstaat berufen könnte, der sie nicht zulänglich umgesetzt hat. Dem nationalen Gesetzgeber der Mitgliedsstaaten wird nämlich mit Art. 3 Nr. 7 der Rückführungsrichtlinie nur vorgeschrieben, Kriterien zur Feststellung der Fluchtgefahr im Sinne von Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie festzulegen. Im Unterschied zu dieser Vorschrift legt Art. 3 Nr. 7 der Richtlinie keine inhaltlichen Vorgaben für solche Kriterien fest, auf die sich ein Betroffener berufen könnte. Damit fehlt dieser Vorschrift der Richtlinie das entscheidende Element, das dem Einzelnen eine Berufung auf die Vorschrift der Richtlinie nach Ablauf der Umsetzungsfrist ermöglicht. Sie entfaltet keine unmittelbare Wirkung (übersehen von [X.], [X.] 2015, 149; [X.], [X.] 2015, 150).

(3) Diese Frage kann der [X.] ohne Vorlage an den Gerichtshof der [X.] nach Art. 267 Abs. 3 A[X.]V entscheiden, weil sie sich anhand der Begründung klar und eindeutig beantworten lässt, die der [X.] einer unmittelbaren Wirkung von Art. 15 derselben Richtlinie gegeben hat (sog. acte claire, [X.], Urteil vom 6. Oktober 1982 - [X.]. 283/81 [X.], [X.]:[X.]:C:1982:335 Rn. 14-16; Einzelheiten bei: [X.], [X.] Methodenlehre, 3. Aufl., § 23 Rn. 27, 29). In seinem oben angesprochenen Urteil vom 28. April 2011 ([X.]. [X.]/11 [X.] - [X.], [X.]:[X.]:C:2011:268 Rn. 40, 47) hat der Gerichtshof die unmittelbare Wirkung von Art. 15 der Rückführungsrichtlinie mit den konkreten Anforderungen begründet, die diese Vorschrift an die Ausgestaltung des nationalen Rechts stellt und die auch zur Änderung des § 62 [X.] etwa durch die Einführung des heutigen Absatzes 1 dieser Vorschrift geführt haben. Solche konkreten Vorgaben enthält Art. 3 Nr. 7 der Richtlinie, wie ausgeführt, nicht. Der Mangel an inhaltlichen Vorgaben zur Ausformung des [X.] legt, anders als der Betroffene meint, eine Vorlage an den Gerichtshof zur Klärung der Frage nach der unmittelbaren Wirkung auch nicht nahe, zumal der [X.] Gesetzgeber das [X.] inzwischen erkannt und durch Erlass der erforderlichen Bestimmungen auch für die Abschiebungshaft vollständig behoben hat.

2. Auch die Beschwerdeentscheidung ist nicht zu beanstanden. Entgegen der Ansicht des Betroffenen musste ihn das Beschwerdegericht nicht erneut anhören.

a) Die Aufrechterhaltung der angeordneten Haft durch das Beschwerdegericht wäre nur rechtsfehlerhaft, wenn das Beschwerdegericht den Betroffenen selbst persönlich anzuhören gehabt hätte. Denn in diesem Fall verletzte die Entscheidung des [X.] dessen Grundrechte aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2, Art. 104 Abs. 1 GG ([X.], Beschluss vom 29. Oktober 2015 - [X.], [X.] 2016, 54 Rn. 6). Nach § 68 Abs. 3 Satz 2 FamFG kann das Beschwerdegericht von einer erneuten Anhörung des Betroffenen absehen, wenn eine ordnungsgemäße persönliche Anhörung in erster Instanz stattgefunden hat und zusätzliche Erkenntnisse durch eine erneute Anhörung nicht zu erwarten sind ([X.]sbeschlüsse vom 17. Juni 2010 - [X.], [X.] 2010, 261 Rn. 8, vom 4. März 2010 - [X.], [X.], 323 Rn. 13 und vom 29. Oktober 2015 - [X.], juris Rn. 6 f.). Diese Voraussetzungen hat das Beschwerdegericht ohne Rechtsfehler angenommen.

b) Das Beschwerdegericht musste den Betroffenen auch nicht deshalb erneut anhören, weil ihm der Haftantrag der beteiligten Behörde bei der Anhörung durch den Haftrichter nicht ausgehändigt worden ist.

aa) Richtig ist allerdings, dass der Haftantrag der beteiligten Behörde einem Betroffenen bei der Anhörung durch den Haftrichter nicht nur „bekannt zu machen“, sondern in Ablichtung auszuhändigen ist und dass dieser Vorgang im Protokoll festgehalten werden muss ([X.], Beschluss vom 5. Dezember 2013 - [X.], [X.] 2014, 150 Rn. 7). Fehlt es an einer entsprechenden Dokumentation im Protokoll über die persönliche Anhörung, ist für das Rechtsbeschwerdeverfahren davon auszugehen, dass der Haftantrag nicht ausgehändigt worden ist. Die fehlende Aushändigung des [X.] führte nach der bisherigen Rechtsprechung des [X.]s dazu, dass die Haftanordnung ohne weiteres rechtswidrig war (vgl. etwa [X.]sbeschlüsse vom 30. März 2012 - [X.], juris Rn. 10 und vom 30. Oktober 2013 - [X.], [X.] 2014, 43 Rn. 10). Der [X.] hat in diesem Zusammenhang ausgeführt, dass sich ohne eine Aushändigung des [X.] die persönliche Anhörung des Betroffenen nicht ordnungsgemäß durchführen lasse (Beschluss vom 11. Oktober 2012 - [X.] 274/11, [X.] 2013, 40 Rn. 7; ähnlich schon [X.]sbeschluss vom 4. März 2010 - [X.], [X.], 323 Rn. 16).

bb) (1) An dieser Rechtsprechung hält der [X.], was der Betroffene nicht verkennt, im Hinblick auf die abweichende Rechtsprechung des [X.]n Gerichtshofs (Urteil vom 10. September 2013, [X.]. [X.]/13 - [X.] - G. and R., [X.]:[X.]:[X.] Rn. 44 f.) nicht mehr uneingeschränkt fest. Die unterbliebene Aushändigung des [X.] führt nur dann zu einer Aufhebung der Haftanordnung oder der Feststellung ihrer Rechtswidrigkeit, wenn das Verfahren ohne diesen Fehler zu einem anderen Ergebnis hätte führen können ([X.], Beschluss vom 16. Juli 2014 - [X.] 80/13, [X.] 2014, 384 Rn. 9). Die Verpflichtung, dem Betroffenen eine Ablichtung des Haftantrages auszuhändigen, ist nicht Teil der persönlichen Anhörung des Betroffenen, die als Verfahrensgarantie nach Art. 104 Abs. 1 GG unbedingt einzuhalten ist und deren Verletzung ohne Rücksicht auf die inhaltliche Richtigkeit der Haftanordnung zu ihrer Rechtswidrigkeit führt. Die Aushändigung des [X.] ist vielmehr Ausfluss der Verpflichtung, dem Betroffenen rechtliches Gehör zu gewähren (Art. 103 GG). Eine Verletzung des Anspruchs auf Gewährung des rechtlichen Gehörs führt nur dann zur Rechtswidrigkeit der Entscheidung, wenn das Verfahren ohne den Verstoß zu einem anderen Ergebnis hätte führen können (zum Ganzen: [X.], Beschluss vom 16. Juli 2014 - [X.] 80/13, [X.] 2014, 384 Rn. 8).

(2) Die unterbliebene Aushändigung des [X.] erforderte keine erneute Anhörung des Betroffenen in der Beschwerdeinstanz.

(a) Verfahrensfehler bei der Durchführung der erstinstanzlichen Anhörung können zwar den Betroffenen nicht nur in seinem Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs aus Art. 103 Abs. 1 GG, sondern auch in seinem grundrechtsgleichen Recht aus Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG verletzen. Ein solcher Fehler kann - mit Wirkung für die Zukunft - nicht schon dadurch geheilt werden, dass dem Betroffenen Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben wird, sondern nur durch eine erneute persönliche Anhörung des Betroffenen nach § 420 FamFG ([X.], Beschluss vom 18. Dezember 2014 - [X.] 192/13, juris Rn. 9 mwN). Daran hat sich durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs der [X.] nichts geändert. Denn die persönliche Anhörung des Betroffenen ist ebenso wie der zulässige Haftantrag eine Voraussetzung für die Anordnung von [X.] im Sinne von Art. 104 Abs. 1 GG, an deren Einführung der [X.] Gesetzgeber unionsrechtlich nicht gehindert ist.

(b) Nicht jeder Verfahrensfehler führt aber dazu, dass die durchgeführte Anhörung gewissermaßen als „Nichtanhörung“ anzusehen ist ([X.], Beschluss vom 17. Juni 2010 - [X.], [X.] 2010, 261 Rn. 22). Verfahrensfehler bei der Durchführung der persönlichen Anhörung des Betroffenen verletzen § 420 FamFG und damit Art. 104 Abs. 1 GG nur, wenn sie nicht nur den formal ordnungsmäßigen Ablauf der Anhörung, sondern deren Grundlagen betreffen ([X.], Beschluss vom 18. Dezember 2014 - [X.] 192/13, juris Rn. 9 mwN; ähnlich [X.], Beschluss vom 2. März 2011 - [X.] 346/10, NJW 2011, 2365 Rn. 14 „zwingende Vorschriften“, in casu die nach § 317 FamFG gebotene, aber unterbliebene Bestellung eines Verfahrenspflegers für die Anhörung im Unterbringungsverfahren, und diese Entscheidung aufgreifend: [X.], Beschluss vom 10. Oktober 2013 - [X.] 127/12, [X.] 2014, 39 Rn. 9 [X.]). Die Grundlagen der Anhörung sind im Zusammenhang mit einem Haftantrag nicht schon betroffen, wenn dem Betroffenen eine Kopie des [X.] oder von dessen Übersetzung nicht ausgehändigt wird, sondern erst, wenn der Anhörung ein unzulässiger ([X.], Beschluss vom 16. Juli 2014 - [X.] 80/13 [X.] 2014, 384 Rn. 19, 22) oder ein unvollständiger ([X.], Beschluss vom 29. April 2010 - [X.] 218/09, [X.] 2010, 210 Rn. 16 f.) Haftantrag zugrunde liegt, oder wenn der zulässige Haftantrag bei der Anhörung nicht zumindest in den wesentlichen Grundzügen sinngemäß mündlich in eine Sprache übersetzt wird, die der Betroffene beherrscht (vgl. [X.], Beschluss vom 12. März 2015 - [X.] 187/14, [X.] 2015, 301 Rn. 5 [X.]). Das Beschwerdegericht muss deshalb einen Betroffenen nicht allein wegen der unterlassenen Aushändigung des [X.] erneut persönlich anhören. Eine Anhörung ist auch nicht zur nachträglichen Gewährung rechtlichen Gehörs erforderlich. Dieses kann, wie hier, etwa dadurch nachgeholt werden, dass dem Verfahrensbevollmächtigten des Betroffenen eine Kopie des Antrags zugeleitet wird.

III.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 84 FamFG. Die Festsetzung des [X.] folgt aus § 36 Abs. 3 GNotKG.

Stresemann                          Schmidt-Räntsch                          Brückner

                        Göbel                                     Haberkamp

Meta

V ZB 23/15

18.02.2016

Bundesgerichtshof 5. Zivilsenat

Beschluss

Sachgebiet: ZB

vorgehend LG Stuttgart, 16. Februar 2015, Az: 19 T 43/15, Beschluss

§ 62 Abs 3 S 1 Nr 5 AufenthG vom 22.11.2011, Art 3 Nr 7 EGRL 115/2008, § 420 FamFG, Art 104 Abs 1 GG

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 18.02.2016, Az. V ZB 23/15 (REWIS RS 2016, 15988)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2016, 15988

Auf dem Handy öffnen Auf Mobilgerät öffnen.


Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

Ähnliche Entscheidungen

V ZB 23/15 (Bundesgerichtshof)


V ZB 80/13 (Bundesgerichtshof)

Zurückschiebungshaftsache: Aufhebung bzw. Rechtswidrigkeitsfeststellung für die Haftanordnung bei unterbliebener Aushändigung des Haftantrags; Behebung von Begründungsmängeln …


XIII ZB 133/19 (Bundesgerichtshof)

Zurückweisung von Drittstaatsangehörigen an einer Binnengrenze der Europäischen Union: Voraussetzungen für die Anordnung der Zurückweisungshaft; …


V ZB 106/15 (Bundesgerichtshof)


V ZB 80/13 (Bundesgerichtshof)


Zitieren mit Quelle:
x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.