Bundesverfassungsgericht, Stattgebender Kammerbeschluss vom 09.12.2020, Az. 1 BvR 704/18

1. Senat 2. Kammer | REWIS RS 2020, 3168

Foto: © Bundesverfassungsgericht │ foto USW. Uwe Stohrer, Freiburg

ZIVIL- UND ZIVILVERFAHRENSRECHT PROMINENTE STEUERN BUNDESVERFASSUNGSGERICHT (BVERFG) JOURNALISMUS PRESSE PRESSEFREIHEIT

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Gegenstand

Stattgebender Kammerbeschluss: Zur Abgrenzung zwischen gegendarstellungsfähiger Tatsachenbehauptung und nicht gegendarstellungsfähigem Werturteil im Presserecht - hier: Zubilligung eines Gegendarstellungsanspruchs in Bezug auf ein (nicht gegendarstellungsfähiges) Werturteil verletzt Grundrecht auf Pressefreiheit (Art 5 Abs 1 S 2 GG) der betroffenen Verlegerin


Gründe

1

Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen die zivilgerichtlichen Entscheidungen, die die zu Lasten der Beschwerdeführerin ergangene einstweilige Verfügung zum Abdruck einer Gegendarstellung bestätigen und die Beschwerdeführerin in die Kosten des Verfahrens verurteilen. Die Beschwerdeführerin rügt die Verletzung ihrer Pressefreiheit.

2

1. Die Beschwerdeführerin ist Verlegerin des Magazins "…". Im Frühjahr 2017 recherchierte sie zum Finanzplatz [X.]. In einer Liste, die ihr von einem Journalistennetzwerk zugespielt worden war, tauchte der Name des Antragstellers des [X.] (im Folgenden: Antragsteller), [X.], im Zusammenhang mit der [X.]." auf. Am 9. Mai 2017 übersandte die Beschwerdeführerin dem Antragsteller dazu zehn Fragen. Der Rechtsanwalt des Angeschriebenen antwortete ihr am 11. Mai 2017, er habe seinem Mandanten empfohlen, keine Fragen zu beantworten, es handele sich um private Vermögensfragen. Im Zusammenhang mit den Begriffen "Steueroptimierung" und "Steuerersparnis" würden Sachverhalte unterstellt, die nicht zuträfen. "Eine andere Besteuerung gibt es in [X.] nur beim Leasing von Privatyachten. Da mein Mandant weder Yachten least noch verleast, trifft dieser Sachverhalt auf ihn schlicht nicht zu."

3

Am XX. [X.] veröffentlichte die Beschwerdeführerin in der Ausgabe … des Magazins "…" den streitgegenständlichen Artikel mit dem Titel "…". Der Artikel befasst sich mit [X.] im Zusammenhang mit [X.] Gesellschaften [X.] Unternehmen und Privatpersonen und lautet auszugsweise:

Dass [X.], arm an Rohstoffen, aber reich an fleißigen, gewitzten Menschen, einen irgendwie moralischen Anspruch darauf hat, auch die Firmen aus dem Norden ins Land zu locken. Und mit den Firmen einen kleinen Batzen der großen Steuereinnahmen, die sonst dort oben blieben. […]

Warum aber größte Firmennamen der [X.] Industrie und beste Familiennamen des [X.] Mittelstandes da mitmachen, erklärt das noch nicht. Wo ihr moralischer Anspruch bleibt. Warum […], warum die […] und der [X.], warum ein paar Tausend Namen auf einer [X.]-Liste des [X.] Journalistennetzwerks [X.] offenbar das letzte Quäntchen aus ihren Einnahmen herausquetschen wollen.

Warum riskieren sie dafür ihren guten Ruf und manche noch etwas mehr? Wie eine Recherche des "…" auf [X.] zeigt, […].

4

Der Artikel befasst sich im Folgenden mit der grundsätzlichen Konstruktion eines Steuersparmodells unter Einschaltung einer [X.] Gesellschaft, benennt konkrete Unternehmen und beleuchtet ihre gesellschafts- und steuerrechtlichen Konstruktionen. Auf einer der folgenden Seiten befindet sich in der mittleren Spalte ein Bild des Antragstellers mit einer in einem Kasten abgesetzten Frage "Warum [X.], [X.]? Angeblich alles legal und reine Privatsache."

5

Den Antragsteller betreffend lautet es weiter:

[…] Das [Firmen]Register liegt neben der [X.] Finanzaufsicht [X.] an einer Ausfallstraße ins Landesinnere, und für 20 Euro pro Firma bekommt man tatsächlich Informationen. In diesem Fall über einen [X.] Fernsehstar, [X.] und seine [X.]. Eingetragen am 11. April 2016, Geschäftszweck: Kauf, Betrieb, Verleih, Bau und noch einiges mehr, was mit "Schiffen jeder Art" zu tun hat.

Hauptgesellschafter ist [X.] - soweit aus der Firmenakte ersichtlich bis heute. Auch Direktor war der Moderator anfangs noch; den Posten gab er aber zum 1. Januar 2017 auf. Stattdessen übernahm eine Frau, die auf [X.] dieselbe Adresse hat wie der [X.] [X.]. [X.] hat die Firma für [X.] aufgesetzt.

Warum? "Wir geben keine Interviews", heißt es, dafür redet [X.] auf seiner Homepage recht unverblümt: "Schwerpunkt unserer Tätigkeit ist die Beratung internationaler Klienten zur Reduzierung ihrer Steuerlast, insbesondere durch die Nutzung von [X.] Standortvorteilen." Als [X.] vor ein paar Monaten schon mal nach der [X.] gefragt wurde, wollte er nichts sagen. Privatsache, angeblich. So, wie das vermutlich jeder [X.] sehen möchte, der eine [X.]-Firma hat.

Es gibt zumindest ein paar naheliegende Gründe, nach [X.] zu gehen, wenn die Firma das Wort "Yachting" im Namen trägt. [X.] hat nicht nur das größte Schiffsregister [X.]. Vor allem Jachtbesitzer lockt der [X.] mit Sonderangeboten - bei der Mehrwertsteuer. […]

Hat [X.] die Firma für eine Jacht und ein Steuerschnäppchen gegründet? Er habe keine Jacht geleast; nur beim Leasen bringe [X.] überhaupt einen Steuervorteil, behauptet sein Anwalt. Warum also [X.], [X.]? [X.] es wirklich um ein Schiff? Obwohl [X.] doch bisher nie als Skipper aufgefallen ist? Alles legal, alles privat, mehr sage man dazu nicht.

Andere können sich nicht so leicht verstecken, dazu sind ihre Jachten zu groß. […].

6

2. In der Folge forderte der Antragsteller die Beschwerdeführerin erfolglos zum Abdruck einer Gegendarstellung auf. Er beantragte sodann vor dem [X.] wiederholt den Erlass einer entsprechenden einstweiligen Verfügung. Das [X.] lehnte die Anträge ab, zuletzt mit Beschluss vom 12. September 2017. Auf die sofortige Beschwerde des Antragstellers entschied das [X.] durch Beschluss vom 5. Oktober 2017, dass die Beschwerdeführerin folgende Gegendarstellung in der nächsten für den Druck noch nicht abgeschlossenen Nummer ihres Magazins "…" zu veröffentlichen habe:

Gegendarstellung

In "…" vom [X.] heißt es in einem Artikel mit der Überschrift "…" auf Seite XX:

"… [X.] Gründe, nach [X.] zu gehen, wenn die Firma das Wort 'Yachting' im Namen trägt. … Vor allem Jachtbesitzer lockt der [X.] mit Sonderangeboten - bei der Mehrwertsteuer."

Hierzu stelle ich fest:

Der in dieser Veröffentlichung zum Ausdruck kommende Verdacht ist falsch. Die [X.]. wurde nicht gegründet, um Mehrwertsteuer zu sparen. Der beschriebene Mehrwertsteuervorteil auf [X.] kommt bei der [X.] [X.]. nicht zum Tragen.

[X.], den [X.]

[X.]

7

3. Auf den von der Beschwerdeführerin eingelegten Widerspruch erging am 3. November 2017 das den Erlass der einstweiligen Verfügung bestätigende Urteil des [X.]s. Es führte aus, es handele sich bei der angegriffenen Berichterstattung um eine als Verdacht verbreitete Tatsachenbehauptung. Der unbefangene Leser entnehme der streitgegenständlichen Textpassage, dass der Antragsteller möglicherweise die Gesellschaft gegründet habe, um Mehrwertsteuer zu sparen. Dem Leser werde ein möglicher Grund dafür genannt, weshalb die mit dem Antragsteller verbundene [X.] in [X.] sei, namentlich weil dort Mehrwertsteuer gespart werden könne. Die Beschwerdeführerin treffe eine Aussage über die angebliche Motivation des Antragstellers, die dem Beweis zugänglich sei.

8

4. Das [X.] wies mit angegriffenen Urteil vom 6. Februar 2018 die von der Beschwerdeführerin eingelegte Berufung zurück. Entgegen der Ansicht der Beschwerdeführerin handele es sich bei der in der Gegendarstellung wiedergegebenen Aussage nicht um eine erkennbar subjektive Einschätzung der Beschwerdeführerin. Unter Mitteilung objektiver Tatsachen werde der tatsächliche Verdacht zum Ausdruck gebracht, der Antragsteller habe die Gesellschaft auf [X.] gegründet, um Mehrwertsteuer zu sparen. Damit treffe die Beschwerdeführerin eine Aussage über die angebliche Motivation des Antragstellers, die dem Beweis zugänglich sei. Anders als in der Entscheidung des [X.] vom 27. September 2016 ([X.]) stelle die Beschwerdeführerin dem Leser nicht verschiedene Schlussfolgerungen vor, sondern nur diejenige, dass der Antragsteller die [X.] gegründet habe.

9

Am XX. Februar [X.] druckte die Beschwerdeführerin in der Ausgabe … die Gegendarstellung ab.

5. In ihrer Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin die Verletzung ihres Grundrechts auf Pressefreiheit. [X.] hätten Land- und [X.] die in der Gegendarstellung enthaltene Textpassage als Tatsachenbehauptung gewertet, obwohl es sich lediglich um eine Meinungsäußerung gehandelt habe, dass Steuervorteile bei der Gründung der [X.] [X.] eine Rolle gespielt haben könnten, sowie dass zwischen den unstreitig bestehenden Steuervorteilen beim Kauf von Jachten und dem unstreitigen Umstand, dass [X.] Hauptgesellschafter einer [X.] [X.] sei, die das Wort "Yachting" im Namen führe, ein Zusammenhang bestehen könne. Die Gerichte hätten die in der höchstrichterlichen und verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung enthaltenen Vorgaben hinsichtlich der Abgrenzung von Meinungen und Tatsachen verkannt. Die Beschwerdeführerin habe nur spekulative Schlussfolgerungen aus all den unstreitig zutreffenden Anknüpfungstatsachen rund um den Finanzplatz [X.] mitgeteilt, zumal ihr - für den Leser erkennbar - nicht einmal bekannt gewesen sei, ob der Antragsteller überhaupt eine Jacht erworben hatte. Zudem fehle es für die Gegendarstellung an einem berechtigten Interesse des Antragstellers, weil dieser in der Erstmitteilung hinreichend zu Wort gekommen sei.

6. Der Verfügungskläger hatte Gelegenheit zur Stellungnahme. Die Behörde für Justiz und Verbraucherschutz der Freien und Hansestadt [X.] hat von einer Stellungnahme abgesehen. Die Akten des [X.] haben dem [X.] vorgelegen.

Die Verfassungsbeschwerde wird gemäß § 93a Abs. 2 Buchstabe b [X.] zur Entscheidung angenommen, weil dies zur Durchsetzung der Grundrechte der Beschwerdeführerin angezeigt ist. Die Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung liegen vor (§ 93c Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 93a Abs. 2 Buchstabe b [X.]).

1. Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig. Ihr fehlt insbesondere nicht das Rechtsschutzbedürfnis. Die Beschwerdeführerin hat trotz zwischenzeitlichen Abdrucks der Gegendarstellung ein fortwirkendes Interesse an der Klärung der Rechtmäßigkeit der Gegendarstellung (vgl. [X.], Beschluss der [X.] des [X.] vom 7. Februar 2018 - 1 BvR 442/15 -, Rn. 13 m.w.N.; Beschluss der [X.] des [X.] vom 4. November 2013 - 1 BvR 2102/12 u.a. -, Rn. 17; Beschluss der [X.] des [X.] vom 17. September 2003 - 1 BvR 825/99 -, Rn. 11).

2. Die Verfassungsbeschwerde ist im Sinne des § 93c Abs. 1 Satz 1 [X.] offensichtlich begründet. Die angegriffenen Entscheidungen verletzten die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht auf Pressefreiheit aus Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG.

a) Der Schutzbereich der Pressefreiheit ist betroffen. Im Zentrum des Schutzes des Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG steht die Freiheit der Gründung und Gestaltung von Presseerzeugnissen. Die Gestaltungsfreiheit wird sowohl in inhaltlicher als auch in formaler Hinsicht gewährleistet und umfasst sowohl die Bestimmung, welche Themen behandelt und welche Beiträge in eine Ausgabe aufgenommen werden sollen, als auch die Entscheidung über die äußere Darbietung der Beiträge sowie ihre Platzierung innerhalb der Ausgabe (vgl. [X.], Beschluss der [X.] des Erstens Senats vom 20. November 2018 - 1 BvR 2716/17 -, Rn. 12; Beschluss der [X.] des [X.] vom 7. Februar 2018 - 1 BvR 442/15 -, Rn. 15).

b) Die Verpflichtung zum Abdruck der Gegendarstellungen in ihrer Zeitschrift beeinträchtigt die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht auf Pressefreiheit. Angesichts der Bedeutung, die aufwendig recherchierte Berichte über aktuelle, gesellschaftspolitische Themen für das von der Beschwerdeführerin verlegte Magazin haben, ist eine Beeinträchtigung der Pressefreiheit durch die vorliegende Verpflichtung zum Abdruck einer Gegendarstellung als schwerwiegend anzusehen, weil sie geeignet ist, das Vertrauen des Rezipienten in die Seriosität des von der Beschwerdeführerin angebotenen Produktes insgesamt zu beeinträchtigen.

c) Die Beeinträchtigung der Pressefreiheit ist nicht gerechtfertigt. Indem die Fachgerichte die Grundrechtsschranke des § 11 [X.]isches Pressegesetz ([X.]) in einer Weise ausgelegt haben, die dem Antragsteller einen Gegendarstellungsanspruch zuspricht, haben sie Bedeutung und Tragweite der Pressefreiheit nicht hinreichend beachtet (vgl. [X.], Beschluss der [X.] des [X.] vom 7. Februar 2018 - 1 BvR 442/15 - Rn. 17; Beschluss der [X.] des [X.] vom 19. Dezember 2007 - 1 BvR 967/05 -, Rn. 27; [X.]E 97, 125 <145 f.>).

aa) [X.] ist nur eine Tatsachenbehauptung, die die Presse zuvor aufgestellt hat (vgl. auch § 11 Abs. 1 Satz 1 [X.]). Im Blick auf die Abhängigkeit der Gegendarstellung von der Erstmitteilung verlangt die Pressefreiheit daher, dass die Erstmitteilung bei Auslegung der Vorschrift in einer den Anforderungen von Art. 5 Abs. 1 GG gerecht werdenden Weise gedeutet und eingeordnet wird. Die Pressefreiheit ist verletzt, wenn eine Gegendarstellung abgedruckt werden muss, der keine entsprechende Tatsachenbehauptung vorangegangen ist. Ebenso liegt ein Verstoß gegen die Pressefreiheit vor, wenn eine Gegendarstellung abgedruckt werden muss, die von der gesetzlichen Grundlage nicht gedeckt ist, weil es sich bei der Erstmitteilung nicht um eine Tatsachenbehauptung handelt (vgl. [X.]E 97, 125 <150 f.>; [X.], Beschluss der [X.] des [X.] vom 7. Februar 2018 - 1 BvR 442/15 -, Rn. 18; Beschluss der [X.] des [X.] vom 21. Dezember 2016 - 1 BvR 1081/15 -, Rn. 19).

bb) Der beanstandete Text

… [X.] und seine [X.]. … Es gibt zumindest ein paar naheliegende Gründe, nach [X.] zu gehen, wenn die Firma das Wort 'Yachting' im Namen trägt. … Vor allem Jachtbesitzer lockt der [X.] mit Sonderangeboten - bei der Mehrwertsteuer.

konnte hiernach keinen Gegendarstellungsanspruch begründen. Dem Text ist keine Tatsachenbehauptung dahin zu entnehmen, der Antragsteller habe eine [X.] Gesellschaft gegründet, um Mehrwehrsteuer zu sparen oder habe dort Steuern gespart. Es handelt sich entgegen der Auffassung der Fachgerichte um eine Meinungsäußerung der Beschwerdeführerin dahin, dass in [X.] bestehende Steuervorteile bei der unstreitig vom Antragsteller in [X.] gegründeten Gesellschaft eine Rolle gespielt haben könnten. Jedenfalls könne ein Zusammenhang zwischen unstreitigen Steuervorteilen und dem Umstand bestehen, dass der Antragsteller Hauptgesellschafter eine [X.] [X.] ist, die den Begriff "Yachting" im Gesellschaftsnamen führt.

(1) Während Tatsachenbehauptungen durch die objektive Beziehung zwischen der Äußerung und der Wirklichkeit geprägt werden und der Überprüfung mit Mitteln des Beweises zugänglich sind (vgl. [X.]E 90, 241 <247>; 94, 1 <8>), handelt es sich bei einer Meinung um eine Äußerung, die durch Elemente der Stellungnahme und des [X.] geprägt ist (vgl. [X.]E 7, 198 <210>; 61, 1 <8>; 90, 241 <247>; 124, 300 <320>). Bei der Frage, ob eine Äußerung ihrem Schwerpunkt nach als Tatsachenbehauptung oder als Werturteil anzusehen ist, kommt es entscheidend auf den Gesamtkontext der fraglichen Äußerung an (vgl. [X.]E 93, 266 <295>; [X.], Beschluss der [X.] des [X.] vom 4. August 2016 - 1 BvR 2619/13 -, Rn.13; Beschluss der [X.] des [X.] vom 16. März 2017 - 1 BvR 3085/15 -, Rn. 13).

Grundsätzlich ist dabei von einem weiten Verständnis des Meinungsbegriffs auszugehen. Sofern eine Äußerung durch die Elemente der Stellungnahme, des [X.] oder [X.] geprägt ist, fällt sie in den Schutzbereich des Grundrechts. Dies muss auch dann gelten, wenn sich diese Elemente, wie häufig, mit Elementen einer Tatsachenmitteilung oder -behauptung verbinden oder vermischen, jedenfalls dann, wenn beide sich nicht trennen lassen und der tatsächliche Gehalt gegenüber der Wertung in den Hintergrund tritt. Würde in einem solchen Fall das tatsächliche Element als ausschlaggebend angesehen, so könnte der grundrechtliche Schutz der Meinungsfreiheit wesentlich verkürzt werden ([X.]E 61, 1 <9>). Im Zweifel ist im Interesse eines wirksamen Grundrechtsschutzes davon auszugehen, dass es sich um eine Meinungsäußerung handelt (vgl. [X.]E 85, 23 <33>; 90, 241 <248>; [X.], Beschluss der [X.] des [X.] vom 4. August 2016 - 1 BvR 2619/13 -, Rn. 13; [X.], Beschluss der [X.] des [X.] vom 24. Juli 2013 - 1 BvR 444/13 u.a. -, Rn. 18).

(2) Die konkrete Einordnung kritischer Bewertungen und Zweifel an der Wahrheit von Aussagen bereitet in der Rechtspraxis nicht selten Schwierigkeiten. In ihrer Entscheidung vom 16. März 2017 (1 BvR 3085/15 - Rn. 14) hat die [X.] des [X.] - ebenfalls eine Entscheidung des Hanseatischen [X.]s betreffend - diesbezüglich jedoch ausgeführt,

[…], dass die kritische Bewertung der Äußerung des [X.] und die als bloße Vermutung ausgewiesenen Zweifel an der Wahrheit dieser Aussage von Elementen der Stellungnahme und des [X.] geprägt sind und, abgeleitet aus den konkreten Umständen der Nähe des [X.] zu den in Frage stehenden Ereignissen, damit ein Werturteil darstellen.

(3) Dass Schlussfolgerungen zu Beweggründen Dritter eher Werturteile darstellen denn Tatsachenbehauptungen, entspricht auch der Rechtsprechung des [X.], die auf [X.] des Verfassungsrechts als Auslegungshilfe für die Bestimmung von Inhalt und Reichweite von Grundrechten dient (vgl. [X.]E 120, 180 <200>). In seinem Urteil vom 10. Juli 2014 (Axel Springer AG v. [X.] Nr. 2, Nr. 48311/10, juris, § 63) hat der Gerichtshof ausgeführt, dass die Schlussfolgerungen zu den Beweggründen oder den etwaigen Absichten Dritter im Zweifel Werturteile darstellten denn Tatsachenbehauptungen, die dem Beweis zugänglich wären (vgl. auch [X.], Entscheidung vom 12. Juli 2007, a/s Diena and Ozolins v. Lativa, [X.]). Dieser Auffassung hat sich das [X.] angeschlossen (vgl. [X.], Beschluss der [X.] des [X.] vom 4. August 2016 - 1 BvR 2619/13 -, Rn. 13).

(4) Im vorliegenden Fall sind die kritische Bewertung der Angaben des Antragstellers und seines Anwaltes zu den Umständen und die als bloße Vermutung ausgewiesenen Zweifel an der Vollständigkeit und Richtigkeit der Angaben von Elementen der Stellungnahme und des [X.] geprägt. Die Beschwerdeführerin leitet aus den konkret dargelegten Umständen und der Nähe des Antragstellers zu Gesellschaftsgründung und Steuervorteilen diese Vermutung ab. Dass ihr unbekannt war, ob die [X.] und damit für "ein Steuerschnäppchen" gegründet wurde, teilt sie offen mit. Ergänzend führt sie die Angabe des Rechtsanwalts an, der Antragsteller des [X.] habe keine Jacht geleast, nur beim Leasing bringe [X.] einen Steuervorteil.

Nach den zuvor dargestellten Grundsätzen handelt es sich damit bei den streitgegenständlichen Äußerungen der Beschwerdeführerin im Ergebnis um ein Werturteil, das nicht gegendarstellungsfähig ist.

(5) Eine andere Bewertung ergibt sich weder aus der vom [X.] bemühten Passage aus der Einleitung des Artikels noch aus der Unterschrift zu dem Foto des Antragstellers. Die Beschwerdeführerin hat durch die Verwendung des Wortes "offenbar" deutlich gemacht, dass es sich nur um eine Vermutung zum Motiv der Geschäftsgründung auf [X.] handeln kann. Ein Verdacht, alle im streitgegenständlichen Artikel genannten Unternehmen und Personen hätten effektiv aufgrund der Verwendung [X.]r Gesellschaften in [X.] Steuern gespart, liegt darin nicht. Die Beschwerdeführerin wirft zunächst die Frage auf, warum der Antragsteller eine [X.] Gesellschaft besitzt, die der Antragsteller dahin beantwortet, es handele sich um eine Privatsache, nur beim - hier nicht vorliegenden - Leasing von Jachten ergäben sich für ihn Steuervorteile auf [X.]. In der Folge stellt die Beschwerdeführerin unstreitige Tatsachen dar und versieht diese mit ihrer Einschätzung, dass mehr als ein bloß zufälliges Zusammentreffen zwischen [X.]r Steuergesetzgebung und der [X.] Gesellschaft des Antragstellers bestehen könne. Sie lässt es dem Rezipienten aber unbenommen, sich der Vermutung der Beschwerdeführerin anzuschließen oder sich an die vorgelegten Fakten zu halten und ein über bloßen Zufall hinausgehendes Mehr zu verneinen.

3. Die angegriffenen Urteile beruhen auf den aufgezeigten verfassungsrechtlichen Fehlern und sind aufzuheben. Es ist nicht auszuschließen, dass das [X.] bei erneuter Befassung zu einer anderen Entscheidung in der Sache kommen wird.

4. Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen der Beschwerdeführerin folgt aus § 34a Abs. 2 [X.].

Meta

1 BvR 704/18

09.12.2020

Bundesverfassungsgericht 1. Senat 2. Kammer

Stattgebender Kammerbeschluss

Sachgebiet: BvR

vorgehend Hanseatisches Oberlandesgericht Hamburg, 6. Februar 2018, Az: 7 U 138/17, Urteil

Art 5 Abs 1 S 2 GG, § 93c Abs 1 S 1 BVerfGG, § 11 Abs 1 S 1 PresseG HA

Zitier­vorschlag: Bundesverfassungsgericht, Stattgebender Kammerbeschluss vom 09.12.2020, Az. 1 BvR 704/18 (REWIS RS 2020, 3168)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2020, 3168


Verfahrensgang

Der Verfahrensgang wurde anhand in unserer Datenbank vorhandener Rechtsprechung automatisch erkannt. Möglicherweise ist er unvollständig.

Az. 1 BvR 704/18

Bundesverfassungsgericht, 1 BvR 704/18, 09.12.2020.


Az. 7 U 138/17

Hanseatisches Oberlandesgericht, 7 U 138/17, 06.02.2018.


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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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