BT-Drucksache 17/13710

Anerkennung der an den ehemaligen sowjetischen Kriegsgefangenen begangenen Verbrechen als nationalsozialistisches Unrecht und Gewährung eines symbolischen finanziellen Anerkennungsbetrages für diese Opfergruppe

Vom 4. Juni 2013


Deutscher Bundestag Drucksache 17/13710
17. Wahlperiode 04. 06. 2013

Antrag
der Abgeordneten Stefan Schwartze, Gabriele Fograscher, Rainer Arnold,
Klaus Barthel, Klaus Brandner, Edelgard Bulmahn, Ulla Burchardt, Siegmund
Ehrmann, Dr. h. c. Gernot Erler, Petra Ernstberger, Dagmar Freitag, Iris Gleicke,
Günter Gloser, Kerstin Griese, Wolfgang Gunkel, Michael Hartmann
(Wackernheim), Frank Hofmann (Volkach), Lars Klingbeil, Hans-Ulrich Klose,
Fritz Rudolf Körper, Daniela Kolbe (Leipzig), Angelika Krüger-Leißner, Ute Kumpf,
Christine Lambrecht, Kirsten Lühmann, Dr. Rolf Mützenich, Dietmar Nietan,
Thomas Oppermann, Johannes Pflug, Mechthild Rawert, Gerold Reichenbach,
Ulla Schmidt (Aachen), Dr. h. c. Wolfgang Thierse, Franz Thönnes, Rüdiger Veit,
Heidemarie Wieczorek-Zeul, Dr. Dieter Wiefelspütz, Uta Zapf, Brigitte Zypries,
Dr. Frank-Walter Steinmeier und der Fraktion der SPD
sowie der Abgeordneten Volker Beck (Köln), Cornelia Behm, Claudia Roth
(Augsburg), Renate Künast, Jürgen Trittin, Ingrid Hönlinger, Memet Kilic, Jerzy
Montag, Dr. Konstantin von Notz, Wolfgang Wieland, Josef Philip Winkler und der
Fraktion BÜNDNIS 90/GRÜNEN

Anerkennung der an den ehemaligen sowjetischen Kriegsgefangenen
begangenen Verbrechen als nationalsozialistisches Unrecht und Gewährung
eines symbolischen finanziellen Anerkennungsbetrages für diese Opfergruppe

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Vor über 70 Jahren, im Juni 1941, begann der vom NS-Regime befohlene An-
griff der deutschen Wehrmacht auf die Sowjetunion. Geplant und durchgeführt
wurde dieser Angriff als rassistisch motivierter Vernichtungs- und Eroberungs-
krieg unter Missachtung aller völkerrechtlichen Normen.

Die sowjetischen Kriegsgefangenen zählen zu einer der größten Opfergruppen
nationalsozialistischer Verbrechen im Zweiten Weltkrieg. Bis 1945 starben in
deutschem Gewahrsam von insgesamt etwa 4,5 bis 6 Millionen sowjetischen
Kriegsgefangenen mehr als 60 Prozent. Bereits in den ersten Kriegsmonaten
starben in den besetzten Gebieten 2 Millionen von ihnen elend an Hunger,
Seuchen und Erfrierungen. Hunderttausendfach – wie Millionen von Zivilisten

aus der Sowjetunion – wurden sie in das Deutsche Reich deportiert, in der Regel
in sog. Russenlagern untergebracht und später zur Zwangsarbeit eingesetzt. Die
Ursache für den Tod so vieler Menschen waren nicht die „allgemeinen
Kriegsumstände“ oder die mangelnde Versorgung, sondern Tod und Vernich-
tung in den Lagern wurden vom NS-Regime billigend in Kauf genommen und
waren damit Folge der nationalsozialistischen Ideologie.

Drucksache 17/13710 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

Die sowjetischen Kriegsgefangenen waren rechtlos und der rassistischen Ideo-
logie des NS-Regimes ausgesetzt. Sie galten – wie die zivilen sowjetischen
Zwangsarbeiter – dem NS-Regime als „Untermenschen“. Der Schutzstatus des
Kriegsgefangenen nach der Genfer Konvention, der ihnen ein Minimum an
menschlichen Bedingungen garantiert hätte, wurde den sowjetischen Kriegsge-
fangenen (im Gegensatz zu den Kriegsgefangenen aus den westalliierten Streit-
kräften) vom NS-Regime bewusst verwehrt.

Die Lebens- und Arbeitsbedingungen in den „Russenlagern“ (in den Durch-
gangslagern – Dulags – und Stammlagern – Stalags –) waren unmenschlich und
vergleichbar mit denen in Konzentrationslagern. Hier wurde eine große Anzahl
der Kriegsgefangenen zur Zwangsarbeit herangezogen.

Die Kriegsgefangenen, die die Verfolgung und den unmenschlichen Einsatz
überlebt hatten, leiden bis heute unter den gesundheitlichen, sozialen und mora-
lischen Auswirkungen der genannten Verfolgung. Dazu gehört, dass ihnen ein
Status als Verfolgte des NS-Regimes und eine Berücksichtigung im dem System
der Entschädigung von NS-Unrecht durch Deutschland verwehrt blieb. Schät-
zungen gehen davon aus, dass von ihnen heute noch etwa 4 000 am Leben sind.

Es ist dokumentiert, dass die sowjetischen Kriegsgefangenen unter dem NS-Re-
gime ein Schicksal zu erleiden hatten, das sie von allen anderen von Deutschland
im Zweiten Weltkrieg inhaftierten Kriegsgefangenen unterschied.

Diejenigen, die trotz der tödlichen Bedingungen überlebt haben, wurden nach
der Rückkehr in die Sowjetunion der Kollaboration verdächtigt, 13 Prozent
kamen in Lagerhaft, viele kamen in „Arbeitsbataillone“. Mehrheitlich wurden
sie gesellschaftlich diskriminiert und erst 1995 vollständig rehabilitiert.

Der Deutsche Bundestag nimmt mit Bedauern zur Kenntnis, dass die Kriegsge-
fangenen, die überlebt hatten und nach Kriegsende in die Sowjetunion zurück-
gekehrt sind, von Stalin nicht als Opfer des NS-Regimes anerkannt, sondern sei-
nerseits als Feiglinge und Vaterlandsverräter verleumdet wurden. Soweit sie
nach Deutschland deportiert und zur Zwangsarbeit eingesetzt worden waren,
wurde ihnen nach Rückkehr sogar „Kollaboration mit dem Feind“ zur Last ge-
legt. Nicht wenige von ihnen unterlagen in der Sowjetunion jahrzehntelang des-
halb vielfältigen Repressionen bis hin zur Lagerhaft in sibirischen Straflagern.
Wie in Deutschland galten die sowjetischen Kriegsgefangenen deshalb auch in
vielen Nachfolgestaaten der Sowjetunion noch als „vergessene Opfer“. Dieses
Unrecht des Stalinismus relativiert jedoch nicht das Unrecht, das diesen Men-
schen durch das NS-Regime zugefügt wurde; es verdoppelt dieses Unrecht.

Der Sächsische Landtag kommt in seiner Erklärung zu dem Gedenktag für die
Opfer des Nationalsozialismus am 27. Januar 2013 bezüglich der sowjetischen
Kriegsgefangenen zu der Erkenntnis:

„Sie wurden Opfer verbrecherischer Befehle des Oberkommandos der Wehr-
macht, das die auf dem geltenden Völkerrecht basierenden eigenen Richtlinien
für die Behandlung von Kriegsgefangenen für die Rotarmisten in weiten Teilen
durch Sonderbefehle außer Kraft setzte. Der von den Nationalsozialisten propa-
gierte antislawische Rassismus prägte ihre Behandlung bis zum Ende des Zwei-
ten Weltkrieges. In der Folge verursachten die katastrophalen Lebensbedingun-
gen in den Kriegsgefangenenlagern der Wehrmacht und den dazu gehörenden
Arbeitskommandos ein Massensterben.“

Im August des Jahres 2000 ist das Gesetz zur Errichtung der Stiftung „Erinne-
rung, Verantwortung und Zukunft“ (EVZStiftG) in Kraft getreten. Dadurch
konnten vor allem ehemalige zivile Zwangsarbeiter als humanitäre Geste Ein-
malleistungen für ihr erlittenes Schicksal als NS-Opfer erhalten.
Kriegsgefangene wurden jedoch grundsätzlich nicht als Leistungsberechtigte in
das Gesetz aufgenommen. Eine Ausnahme galt nach § 11 Absatz 1 EVZStiftG

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/13710

auf Grundlage einer rechtlichen Bewertung der Bundesregierung nur für solche
Kriegsgefangene – unabhängig von ihrer Nationalität und Herkunft –, die
Zwangsarbeit in Konzentrationslagern (KZ) abgeleistet hatten.

Das Schicksal der sowjetischen Kriegsgefangenen ist wie das der zivilen
Zwangsarbeiter aus Osteuropa in der deutschen Erinnerungskultur nicht ange-
messen gewürdigt. Auch eine symbolische finanzielle Geste für die letzten noch
lebenden sowjetischen Kriegsgefangenen, so sehr sie moralisch und politisch
geboten ist, kommt für Millionen von ihnen zu spät. Dieses Schicksal teilen sie
mit vielen anderen Gruppen von NS-Opfern. Die meisten der Verstorbenen in
den Russenlagern sind anonym beerdigt, sie sind nach wie vor „namenlose
Opfer“. Ihrer wurde in den jährlichen Gedenkveranstaltungen des Deutschen
Bundestages für die Opfer des Nationalsozialismus am 27. Januar bislang nicht
eigenständig und dem Ausmaß dieses Unrechts angemessen gedacht. Allein dies
illustriert, dass von einer angemessenen Würdigung ihres Verfolgungsschicksals
bis heute nicht gesprochen werden kann. Erforderlich ist auch eine Entschei-
dung, wie zukünftig die Gedenkstätten, die sich dieser Opfergruppe widmen,
ausgestattet werden. Es existiert bislang auch kein Denkmal, das diesen Opfern
und dem anderer slawischer NS-Opfer in Deutschland gewidmet ist. Der Deut-
sche Bundestag spricht sich dafür aus, Anstrengungen zu diesen Erinnerungs-
aufgaben beim Bund und in den Ländern zu intensivieren.

Der Deutsche Bundestag erkennt das schwere Unrecht, das an den sowjetischen
Kriegsgefangenen begangen wurde, ausdrücklich als nationalsozialistisches
Unrecht an.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

a) den überlebenden sowjetischen Kriegsgefangenen einen individuellen Aner-
kennungsbetrag für das erlittene NS-Unrecht in Höhe von 2 500 Euro im
Rahmen einer eigenständigen außergesetzlichen Regelung zu verschaffen.
Auf diese Leistung besteht kein Rechtsanspruch;

b) die dafür erforderlichen Mittel im Bundeshaushalt bereitzustellen. Nicht in
Anspruch genommene Leistungen können für humanitäre Hilfen zugunsten
von bedürftigen NS-Opfern eingesetzt werden. Die Regelung soll über die
Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ umgesetzt werden;

c) Vorschläge für eine Intensivierung der Erinnerungskultur an das Leidens-
schicksal der sowjetischen Kriegsgefangenen und anderer slawischer NS-
Opfer zu unterbreiten und die weitere Förderung von Gedenkstätten, die sich
mit dem Verfolgungsschicksalen beschäftigen, in der Gedenkstättenkonzep-
tion des Bundes sicherzustellen.

Berlin, den 4. Juni 2013

Dr. Frank-Walter Steinmeier und Fraktion
Renate Künast, Jürgen Trittin und Fraktion

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