BT-Drucksache 16/4774

zu der Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der Abgeordneten Kornelia Möller, Katja Kipping, Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE. -16/2211, 16/4210- Resultate und gesellschaftliche Auswirkungen der Gesetze für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt - Hartz-Gesetze -, insbesondere von Hartz IV

Vom 21. März 2007


Deutscher Bundestag Drucksache 16/4774
16. Wahlperiode 21. 03. 2007

Entschließungsantrag
der Abgeordneten Kornelia Möller, Katja Kipping, Dr. Dietmar Bartsch, Karin
Binder, Dr. Lothar Bisky, Heidrun Bluhm, Eva Bulling-Schröter, Dr. Martina Bunge,
Roland Claus, Sevim Dag˘delen, Werner Dreibus, Dr. Dagmar Enkelmann, Klaus
Ernst, Diana Golze, Lutz Heilmann, Hans-Kurt Hill, Cornelia Hirsch, Inge Höger,
Dr. Barbara Höll, Ulla Jelpke, Dr. Lukrezia Jochimsen, Jan Korte, Katrin Kunert,
Ulla Lötzer, Dr. Gesine Lötzsch, Ulrich Maurer, Dorothee Menzner, Kersten
Naumann, Wolfgang Neskovic, Petra Pau, Bodo Ramelow, Elke Reinke, Volker
Schneider (Saarbrücken), Dr. Herbert Schui, Dr. Ilja Seifert, Dr. Petra Sitte, Frank
Spieth, Dr. Kirsten Tackmann, Dr. Axel Troost, Jörn Wunderlich, Sabine
Zimmermann, Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und der Fraktion DIE LINKE.

zu der Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der Abgeordneten
Kornelia Möller, Katja Kipping, Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion DIE LINKE.
– Drucksachen 16/2211 und 16/4210 –

Resultate und gesellschaftliche Auswirkungen der Gesetze für moderne Dienst-
leistungen am Arbeitsmarkt – Hartz-Gesetze –, insbesondere von Hartz IV

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

1. Bei den Hartz-Gesetzen handelt es sich um die einschneidendste „Sozial-
reform“ in der Nachkriegsgeschichte Deutschlands. Es handelt sich um einen
zivilisatorischen Rückschritt und bedeutet für die vielen Betroffenen und ihre
Familien „Armut per Gesetz“. Nach seriösen Berechnungen stieg die gesamt-
gesellschaftliche Armutsquote allein durch Hartz IV um 0,5 bis 1 Prozent-
punkt (Irene Becker/Richard Hauser: Verteilungseffekte der Hartz-IV-Re-
form. Berlin 2006). Durch die Prinzipien des „Fördern und Fordern“ und der
„Stärkung der Eigenverantwortung“ werden die Ursachen für Erwerbslosig-
keit individualisiert und wird der Druck auf Erwerbslose und Beschäftigte
verstärkt. Was ursprünglich als Arbeitsmarktreform bezeichnet wurde, hat
sich – nicht zuletzt infolge gleichzeitiger weiterer steuerlicher Entlastungen
für Vermögende und Unternehmen unter den in den letzten Jahren amtieren-
den Bundesregierungen – als ein gigantisches Umverteilungsprogramm er-
wiesen. Die Wirkungen dieser „Reform“ sind Sozialabbau, soziale Ausgren-
zung sowie die Ausweitung des Niedriglohnsektors und prekärer Beschäf-
tigungsverhältnisse.

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2. Die Bundesregierung scheint zu einer soliden und kritischen Bestandsauf-
nahme weder willens noch in der Lage zu sein. Trotz sozialer Verwerfungen
und massivem politischen Widerstand („Montagsdemos“) charakterisiert
die Bundesregierung die Hartz-Gesetze als erfolgreiche Reform. Die Bun-
desregierung missachtet bei der Bewertung der Resultate der so genannten
modernen Dienstleistungen am Arbeitsmarkt die Analysen und Einschät-
zungen des Ombudsrates, des Bundesrechnungshofes sowie des Instituts für
Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB). Die Antworten der Bundes-
regierung offenbaren nicht nur große Kenntnislücken zu sozialen Problem-
lagen, sondern auch Ignoranz gegenüber den Problemen der betroffenen
Menschen als auch gegenüber vorliegenden wissenschaftlichen Untersu-
chungen.

3. Betroffenen- und Sozialverbände weisen mit Nachdruck darauf hin, dass die
Höhe des Regelsatzes der Sozialhilfe, der auch die Grundlage für das Ar-
beitslosengeld II ist, völlig unzureichend ist. Die Bundesregierung gesteht
in ihrer Antwort zu, dass die „Grundsicherung“ nicht armutsfest ist – und
hält dies auch nicht für ein anzustrebendes Ziel (S. 21). Der Deutsche Pari-
tätische Wohlfahrtsverband kommt in einer Auswertung der Einkommens-
und Verbrauchsstichprobe (EVS) zu dem Ergebnis, dass bei einer korrekten
Beachtung des geltenden Rechts der Regelsatz von 345 Euro um 20 Prozent
höher ausfallen müsste (DPWV: Der Vorschlag des Paritätischen Wohl-
fahrtsverbandes für einen sozial gerechten Regelsatz als sozialpolitische
Grundgröße. Neue Regelsatzberechnung 2006. Expertise. Berlin 2006).
Diese Hinweise und Berechnungen werden von der Bundesregierung igno-
riert. Durch die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe sind zum Jahreswechsel
2004 auf 2005 rund 2,3 Millionen Bezieher und Bezieherinnen von der Lohn-
ersatzleistung in das Fürsorgesystem Hartz IV abgerutscht. Ein Viertel ver-
lor den Anspruch auf Unterstützung überhaupt (Becker/Hauser 2006). Als
Folge der Hartz-Gesetze werden damit viele Menschen vom Leistungsbe-
zug bzw. von Maßnahmen zur Eingliederung in den Arbeitsmarkt ausge-
schlossen. Das betrifft Frauen, Alleinerziehende, Menschen mit Behinde-
rungen, Migranten und Migrantinnen, Jugendliche und Ältere.

4. Besonders dramatisch sind die Veränderungen für ältere Erwerbslose. Zu-
sammen mit der Verkürzung der Anspruchsdauer auf Arbeitslosengeld I und
den jüngsten Veränderungen im Rentenrecht ist für ältere Menschen, die er-
werbslos werden, der Weg in die Altersarmut vorprogrammiert. Auf Grund
der Regelungen von Hartz IV müssen sie nach zwölf bzw. maximal 18 Mo-
naten Erwerbslosigkeit zunächst den Großteil ihres – der Alterssicherung
dienenden – Vermögens aufbrauchen, um überhaupt Ansprüche geltend
machen zu dürfen. Die Absicherung gegen Altersarmut während der
Erwerbslosigkeit ist zudem sukzessive abgebaut worden. Die Beiträge für
die Rentenversicherung sind von 78 Euro auf 40 Euro pro Monat reduziert
worden, so dass aktuell ein Jahr Hartz-IV-Bezug einer Rentenleistung von
2,19 Euro entspricht.

5. Durch die Konstruktion der Bedarfsgemeinschaft verlieren Menschen, die
in der Arbeitslosenhilfe noch eine eigenständige soziale Sicherung erlebt
haben, ihren Anspruch auf Leistungen, sofern sie mit einer Partnerin bzw.
einem Partner zusammenleben, die Einkommen erzielen. Diese Regelung
führt dazu, dass insbesondere Frauen keine Leistungen nach dem Zweiten
Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) mehr beziehen und damit vielfach auch
keinen Zugang mehr zu Leistungen der aktiven Arbeitsmarktpolitik haben.
Zahlreiche Frauen werden in die „Stille Reserve“ gedrängt.

6. Massive und negative Wirkungen zeigen sich auch in Bezug auf Jugend-
liche, deren Anspruch auf einen eigenständigen Hausstand mit dem Ersten
Gesetz zur Änderung des SGB II wieder gestrichen wurde. Damit wurde der

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Auszug aus dem elterlichen Haushalt unter Genehmigungsvorbehalt der
lokalen Behörde gestellt und gleichzeitig wurde das Sicherungsniveau für
diese Personen gesenkt. Ebenso wie bei den Partnerinnen und Partner in Le-
bensgemeinschaften verlieren junge Menschen (bis 25 Jahre) ihren Status
als eigenständige und anspruchsberechtigte Erwachsene.

7. Für Ostdeutschland haben die Hartz-Gesetze besonders gravierende Folgen.
Auf Grund der stabilen Beschäftigungslage sowie der hohen Beschäf-
tigungsquote in der früheren Deutschen Demokratischen Republik bezog
der Großteil der Langzeitarbeitslosen nach 1990 Arbeitslosenhilfe und we-
niger – wie in Westdeutschland verbreitet – Sozialhilfe. Die sozialen Ver-
werfungen der Reform sind in den neuen Bundesländern daher deutlich aus-
geprägter; die Armutsquote ist in den neuen Bundesländern allein auf Grund
von Hartz IV um 2 bis 3 Prozent angestiegen. Die Armutsquote der ehema-
ligen Arbeitslosenhilfebezieherinnen und -bezieher ist von 45 Prozent auf
über 67 Prozent angewachsen (Becker/Hauser 2006).

8. Ein völlig unzulängliches Problembewusstsein zeigt die Bundesregierung
gegenüber Migrantinnen und Migranten. Sie sind deutlich überproportional
von Arbeitslosigkeit, Armut und ALG II betroffen. Ihnen nur Sprach- und
Informationskurse anzubieten, geht an der Dimension des Problems vorbei.
Es fehlen konkrete Festlegungen zur besseren beruflichen Qualifizierung.
Es ist skandalös, Aufenthaltsrechte an die ökonomische Verwertbarkeit zu
binden und Bezieherinnen und -bezieher von ALG II Einbürgerungen zu
verweigern.

9. Die Bundesregierung bezeichnet eine neue Balance zwischen staatlicher
Unterstützung und der Selbstverantwortung der Bürgerinnen und Bürger
durch eine „aktivierende“ Politik des „Förderns und Forderns“ als das Leit-
bild ihrer Arbeitsmarktpolitik. Tatsächlich werden durch den Druck der
Massenerwerbslosigkeit und diese neue Politik Erwerbslose massenhaft in
prekäre Beschäftigungsverhältnisse gedrängt. Verschärfte Sanktionen und
die neuen Zumutbarkeitsregelungen zwingen Erwerbslose dazu, auch ent-
würdigende, nicht Existenz sichernde Arbeit anzunehmen. Insgesamt arbei-
ten zwischen 17 und 35 Prozent aller Beschäftigten in Deutschland im
Niedriglohnsektor (Bofinger/Walwei: Vorrang für das reguläre Arbeitsver-
hältnis: Ein Konzept für Existenz sichernde Beschäftigung im Niedriglohn-
bereich. August 2006). Bereits heute sind mehr als 900 000 Beschäftigte als
so genannte Aufstocker auf Leistungen nach dem SGB II angewiesen.
Durch den Verzicht auf einen verbindlichen Mindestlohn entwürdigt die
Bundesregierung Erwerbstätige und entlastet zudem Arbeitgeber auf Kos-
ten der Steuer- und Beitragszahlerinnen und Beitragszahler.

10. Mit den Hartz-Gesetzen sind Arbeitsgelegenheiten mit Mehraufwandsent-
schädigung – die so genannten Ein-Euro-Jobs – zum Hauptinstrument der
gegenwärtigen Arbeitsmarktpolitik geworden. Zugleich wurden die Mittel
für aktive Arbeitsmarktpolitik gesenkt, geförderte berufliche Weiterbildung
zur Bedeutungslosigkeit verurteilt und viele ihrer Träger in den Ruin getrie-
ben. Während im Jahr 2005 nur 65 000 ALG-II-Bezieherinnen und Bezie-
her einer Maßnahme der beruflichen Weiterbildung teilnahmen, waren
630 000 Menschen in „Ein-Euro-Jobs“ beschäftigt. Die Arbeitsgelegenhei-
ten gewährleisten aber keine ausreichende finanzielle und soziale Absiche-
rung, bereiten nicht den Weg auf den ersten Arbeitsmarkt und verdrängen
reguläre Beschäftigungsverhältnisse (IAB-Forschungsbericht 2/2007).

11. Auch die Deregulierung des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes im Rah-
men der Hartz-Gesetze trägt zu einer weiteren Prekarisierung der Beschäf-
tigung bei. Sie hat einen wahren Boom der Leiharbeitsbranche ausgelöst,
die durch schlechte Entlohnung und Arbeitsbedingungen sowie geringe
Partizipations- und Weiterbildungsmöglichkeiten gekennzeichnet ist. Be-

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stimmte Aspekte der Deregulierung, wie z. B. die Abschaffung der Überlas-
sungshöchstdauer, unterminieren die ursprünglich angestrebte Brücken-
funktion von Leiharbeit; eine Übernahme durch die Arbeitgeber wird
unwahrscheinlicher. Durch die politisch gewollte Ausweitung prekärer Be-
schäftigung geraten auch die regulären Beschäftigungsverhältnisse und
Stammbelegschaften zunehmend unter Druck. Sie machen die Erfahrung,
dass sie leicht ersetzbar sind, und haben Angst vor dem sozialen Abstieg im
Falle der Arbeitslosigkeit. „Disziplinierung durch Angst“ (Klaus Dörre)
schwächt die Position der Beschäftigten und ihrer Interessenvertretungen in
tariflichen und betrieblichen Auseinandersetzungen.

12. Die mangelnde Funktionsfähigkeit und Akzeptanz von Hartz IV zeigen sich
unter anderem am massiven Anstieg von Sozialgerichtsverfahren. Im Jahr
2006 liefen bei den Sozialgerichten in erster Instanz bundesweit 116 620
Hartz-IV-Verfahren auf, was gegenüber 2005 einen Anstieg um fast 75 Pro-
zent bedeutet. Diese häufig sehr langwierigen Verfahren betreffen Men-
schen, die sich in akuten Notlagen befinden. Hinzu kommen teilweise ein
restriktives – oft fehlerhaftes – Handeln der zuständigen Behörden, eine
Vielzahl von Ansprüchen, die im Ermessen der Behörden stehen, Aus-
schluss der aufschiebenden Wirkung von Widersprüchen durch § 39
SGB II. Geplant sind weitere Erschwernisse beim Zugang zu den Sozialge-
richten durch Aufhebung der Gebührenfreiheit oder Zusammenlegung mit
den Verwaltungsgerichten sowie Begrenzungen der Prozesskostenhilfe.

13. Die meisten in der aktuellen Debatte vorgeschlagenen Änderungen im
Bereich von Hartz IV weisen in die bekannte falsche Richtung weiterer
Leistungskürzungen. Im Rahmen der diskutierten „Neuordnung des Nied-
riglohnsektors“ plädiert der Sachverständigenrat für eine Kürzung des Eck-
regelsätze um 30 Prozent, um die Anreize einer Arbeitsaufnahme zu
erhöhen (SVR: Arbeitslosengeld II reformieren: Ein zielgerichtetes Kombi-
lohnmodell. Wiesbaden 2006). Auch die Alternative der Wissenschaftler
Prof. Dr. Peter Bofinger und Dr. Ulrich Walwei läuft für viele Berechtigte
auf eine Leistungskürzung hinaus, da die Hinzuverdienstmöglichkeiten für
ALG-II-Beziehende massiv eingeschränkt werden sollen (Bofinger/Walwei
u. a. 2006).

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

statt den Druck auf Erwerbslose und Beschäftigte weiter zu erhöhen und den
Niedriglohnsektor sowie prekäre Beschäftigung auszuweiten, endlich eine wirk-
same Strategie zur Bekämpfung von Armut und Massenarbeitslosigkeit zu ent-
wickeln und umzusetzen. Dazu müssen effektive Maßnahmen eines Beschäfti-
gungsaufbaus durch eine andere Wirtschafts- und Finanzpolitik, eine neue Aus-
richtung der Arbeitsmarktpolitik mit einer grundlegenden Reform der sozialen
Sicherung für Langzeiterwerbslose kombiniert werden:

1. Da nicht der fehlende Wille der Erwerbslosen die Arbeitslosigkeit verursacht,
sondern die fehlenden Arbeitsplätze, muss eine in sich schlüssige Beschäfti-
gungsstrategie zur Steigerung der Nachfrage nach Arbeit eingeleitet werden,
die mindestens folgende Eckpunkte umfasst:

● Zu einer nachhaltigen Beschäftigungsstrategie gehört die Ausweitung
öffentlicher Dienstleistungen. Der Abbau von über 800 000 Vollzeit-
arbeitsplätzen im öffentlichen Dienst in der Zeit von 1996 bis 2004 ist mit
der Verringerung des Umfangs öffentlicher Dienstleistungen und ihrer
Qualität sowie mit dem Abbau sozialer Leistungen verbunden. Diese
Entwicklung muss umgekehrt werden. Wie skandinavische Erfahrungen
zeigen, fördern soziale Dienstleistungen die individuellen Entwicklungs-
möglichkeiten für alle Gesellschaftsmitglieder, insbesondere für Frauen

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 5 – Drucksache 16/4774

und Kinder, schaffen Arbeitsplätze und unterstützen damit den sozialen
Zusammenhalt ebenso wie den wirtschaftlichen Erfolg.

● Während mehrere Millionen Menschen erwerbslos sind, steigen sowohl
die Anzahl der geleisteten Überstunden als auch die wöchentliche Arbeits-
zeit in letzter Zeit wieder kontinuierlich an. Dies ist beschäftigungspoli-
tisch kontraproduktiv. Schritte zu einer gerechteren Verteilung der vorhan-
denen Erwerbsarbeit durch Arbeitszeitverkürzung und Überstundenabbau
sind dringend geboten.

● Ein öffentliches Zukunftsinvestitionsprogramm trägt zu einer Erneuerung
der zuletzt sträflich vernachlässigten öffentlichen Infrastruktur und einem
ökologischen Umbau der Industriegesellschaft bei. Bund, Länder und
Kommunen müssen ihre diesbezüglichen Investitionen in koordinierter
Weise massiv erhöhen. Mit einem langfristig angelegten Investitionspro-
gramm können mehrere hunderttausend Arbeitsplätze geschaffen werden.

● Nach jahrelanger Stagnation der Reallöhne muss es wieder deutliche Zu-
wächse der Masseneinkommen geben, da steigende Löhne und Gehälter
die entscheidende Grundlage für jeden anhaltenden konjunkturellen Auf-
schwung sind. Die Bundesregierung muss die überfällige Trendwende der
Einkommensentwicklung mit allen gebotenen Mitteln unterstützen.

● In der Steuerpolitik geht es um eine höhere Besteuerung von Vermögen,
hohen Einkommen und Gewinnen. Mehreinnahmen können vor allem
durch die Wiedererhebung der Vermögensteuer, die Intensivierung des
Kampfes gegen Steuerhinterziehung und Steuerflucht sowie die Besteue-
rung von Börsengeschäften und Finanzspekulationen erzielt werden. Lau-
fende Vorhaben zur weiteren steuerlichen Entlastung von Unternehmens-
gewinnen sind abzubrechen.

● Ein gesetzlicher Mindestlohn verhindert Armut trotz Arbeit. Dem Phäno-
men der „arbeitenden Armen“ muss mit einem gesetzlichen Mindestlohn
von 8 Euro pro Stunde entgegengewirkt werden. Mit dieser Maßnahme
würde auch der Bundeshaushalt entlastet, da ein erheblicher Teil der aktu-
ell fast eine Million „Aufstocker“ dann keine oder geringere Leistungen
nach dem SGB II benötigen würde.

● Weitere Maßnahmen gegen die Ausbreitung prekärer Beschäftigungsver-
hältnisse sind die Abschaffung der international einzigartigen und im
Interesse der privaten Wirtschaft liegende Privilegierung von Mini- und
Midi-Jobs, die Einschränkung von Befristungsmöglichkeiten, die gesetz-
liche Regelung von Praktika sowie die faktische Realisierung des Prinzips
„Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ im Bereich der Leiharbeit.

● Der Kündigungsschutz muss zumindest gesichert und gestärkt werden.
Dadurch werden Anreize für Unternehmen geschaffen, in innovative Ar-
beitsorganisation und Qualifizierung zu investieren, statt Entlassungen
vorzunehmen. Ein ausreichender Kündigungsschutz verringert die Er-
pressbarkeit der Beschäftigten und ermöglicht so eine Verbesserung der
Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen. Auch deshalb sollten die Mög-
lichkeiten zu befristeten Arbeitsverhältnissen reduziert werden.

2. In der Arbeitsmarktpolitik ist eine Wende einzuleiten, um Benachteiligungen
auf dem Arbeitsmarkt entgegenzuwirken und gleichzeitig qualitativ hoch-
wertige Maßnahmen und Arbeit zu fördern. Vorrangig ist die Lösung folgen-
der Aufgaben:

● Zur Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit und insbesondere für Men-
schen mit individuell sowie regional bedingten Vermittlungshemmnissen
sind eine Ausweitung und eine neue Qualität öffentlich finanzierter
Beschäftigung notwendig. Bis 2009 sollen 500 000 öffentlich geförderte

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Beschäftigungsverhältnisse geschaffen werden, die freiwillig und sozial-
versicherungspflichtig sind, im öffentlichen Interesse liegen sowie ent-
sprechend der gültigen Tarifverträge oder ortsüblich entlohnt werden, auf
jeden Fall aber mit einem Mindestlohn von 8 Euro pro Stunde. Ein Groß-
teil der Finanzierung kann durch die Nutzung der gegenwärtig ohnehin für
das ALG II, die Kosten der Unterkunft, die Sozialbeiträge sowie für die
Ein-Euro-Jobs genutzten Mittel gesichert werden.

● In der beruflichen Weiterbildung wird ein Paradigmenwechsel eingeleitet.
Sowohl die Quantität als auch die Qualität der Weiterbildungsmaßnahmen
müssen deutlich erhöht werden, wozu auch die Verbesserung der Arbeits-
und Entlohnungsbedingungen der Beschäftigten in der Weiterbildungs-
branche gehört. Die berufliche Weiterbildung muss notwendige Anpas-
sungsqualifizierungen ermöglichen, berufliche Neuausrichtungen sicher-
stellen und Aufstiegsqualifizierungen anbieten. Insbesondere langfristige
Maßnahmen mit einem Abschluss in einem anerkannten Beruf erhöhen
die Integrationschancen gerade für Langzeiterwerbslose. Dies spiegelt
sich bisher allerdings nur völlig unzureichend bei den Grundsicherungs-
trägern und Arbeitsagenturen wider. Vor diesem Hintergrund müssen die
Fehlanreize und -orientierungen in der Steuerungslogik der Bundesagen-
tur für Arbeit – vor allem Aussteuerungsbetrag und Handlungsprogramme
– beseitigt werden, da sie die Bewilligung von langfristigen Maßnahmen,
insbesondere für so genannte Betreuungskunden und Betreuungskundin-
nen, erschweren.

● Die Beschäftigungschancen Älterer müssen durch ein arbeitsmarkt- und
wirtschaftspolitisches Gesamtkonzept verbessert werden. Hierzu ist es
– neben der Steigerung der Arbeitsnachfrage – notwendig, die geförderte
Altersteilzeit weiterzuführen und weiterzuentwickeln, mehr berufliche
Weiterbildung für erwerbslose und beschäftigte Ältere zu ermöglichen,
den Kündigungsschutz für Ältere zu verbessern, den Einfluss auf die be-
triebliche Personalpolitik durch Bonus-Malus-Systeme zu erhöhen, den
Arbeits- und Gesundheitsschutz entscheidend voranzutreiben sowie die
Beratung der Unternehmen zu alters- und alternsgerechter Arbeitsorgani-
sation zu verstärken.

● Ähnlich wie für die älteren Beschäftigten werden auch für andere soziale
Gruppen, die am Arbeitsmarkt und durch die Hartz-Gesetzgebung be-
sonders benachteiligt sind, Regelungen getroffen und Programme auf-
gelegt, mit denen Benachteiligungen künftig verhindert bzw. deren Folgen
ausgeglichen werden. Das betrifft vor allem Frauen und darüber hinaus
Migrantinnen und Migranten, Menschen mit Behinderungen, Alleinerzie-
hende sowie Jugendliche ohne Ausbildung.

3. Für diejenigen, die trotz Beschäftigungsstrategie und arbeitsmarktpolitischen
Maßnahmen keinen Zugang zum Arbeitsmarkt haben oder längerfristig er-
werbslos sind, muss ein ausreichender sozialer Schutz gewährleistet werden:

● In der Arbeitslosenversicherung gilt es, die Sicherung von Erwerbslosen
zu verbessern. Um die vollständige, nicht nur finanzielle Entwertung einer
Erwerbsbiografie für ältere Erwerbslose zu vermeiden, wird die Bezugs-
dauer des Arbeitslosengeldes so verlängert, dass für jedes Jahr Beitrags-
zahlung ein Anspruch auf einen Monat Arbeitslosengeld entsteht. Für Er-
werbslose ohne ausreichende Beitragsjahre wird eine Mindestabsicherung
eingeführt, die für Erwerbslose unter 55 Jahren zwölf Monate, für Men-
schen über 55 Jahre sowie Menschen mit Behinderungen 24 Monate und
für über 60-Jährige 30 Monate Arbeitslosengeldbezug beträgt, sofern für
zwei Jahre Beiträge gezahlt wurden. Notwendig ist die Sicherung sozial
verträglicher Übergänge in die Rente.

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 7 – Drucksache 16/4774

● Der Verarmung von Langzeiterwerbslosen muss perspektivisch mit der
Einführung einer repressionsfreien, bedarfsorientierten sozialen Grund-
sicherung entgegengewirkt werden, die Schutz vor Armut bietet. Kurzfris-
tig ist die Regelleistung der Grundsicherung für Arbeitsuchende auf 420
Euro zu erhöhen. Das aktuelle Verfahren der Bedarfsbemessung ist so um-
zustellen, dass eine Armutsfestigkeit erreicht und eine Kopplung an den
wachsenden gesellschaftlichen Reichtum gewährleistet wird. Die Absi-
cherung von Kindern wird durch eine spezifische Kindergrundsicherung
gewährleistet. Die Kürzung des Beitragssatzes zur Rentenversicherung
von 78 auf 40 Euro für SGB-II-Beziehende ist zurückzunehmen.

● Um den repressiven Druck auf Langzeiterwerbslose zu mindern, werden
die Zumutbarkeitsregelungen wie folgt geändert:

● der Schutz der Qualifikation wird gewahrt;

● der Verlauf des Berufslebens wird berücksichtigt;

● die Entlohnung muss sich an den gültigen Tarifverträgen orientieren,
mindestens aber einen Mindestlohn von 8 Euro pro Stunde garantieren;

● die zumutbaren Fahrtzeiten werden reduziert und

● die politische und religiöse Gewissensfreiheit werden geschützt.

● Das Konstrukt der Bedarfsgemeinschaft ist zu Gunsten einer individuellen
Anspruchsberechtigung auf soziale Leistungen abzuschaffen. Partnerin-
nen und Partnern in Lebensgemeinschaften und auch jungen Leuten bis zu
25 Jahren ist ein eigenständiger Anspruch einzuräumen. Dies ist insbeson-
dere bei nicht verheirateten Paaren dringlich, weil hier keinerlei rechtlich
verbindliche Unterhaltsverpflichtungen eingegangen werden.

● Die Verordnungsermächtigung nach § 27 SGB II zum Erlass von Mindest-
standards bei der Regulierung der Kosten der Unterkunft ist im Sinne der
betroffenen Leistungsbeziehenden zu nutzen. Mindeststandards sind zu
definieren und Aufforderungen zur Reduktion von Mietkosten sind zu be-
grenzen. Erzwungene Umzüge infolge der Aufforderung der Senkung der
Wohnkosten sind zu vermeiden.

● Die aktuell in der Diskussion befindlichen Reformvorschläge zur „Neu-
ordnung des Niedriglohnsektors“ sowohl des Sachverständigenrates als
auch von Bofinger/Walwei werden zu Gunsten der hier skizzierten Maß-
nahmen verworfen. Eine Reduktion der Hinzuverdienstmöglichkeiten zu
Lasten der betroffenen ALG-II-Beziehenden wird abgelehnt.

Berlin, den 20. März 2007

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

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