BT-Drucksache 16/11377

Späte Schwangerschaftsabbrüche - Selbstbestimmungsrecht von Frauen stärken

Vom 17. Dezember 2008


Deutscher Bundestag Drucksache 16/11377

16. Wahlperiode 17. 12. 2008

Antrag
der Abgeordneten Dr. Kirsten Tackmann, Diana Golze, Elke Reinke, Dr. Petra Sitte,
Jörn Wunderlich, Hüseyin-Kenan Aydin, Dr. Dietmar Bartsch, Karin Binder,
Dr. Lothar Bisky, Heidrun Bluhm, Eva Bulling-Schröter, Dr. Martina Bunge,
Roland Claus, Sevim Dag˘delen, Dr. Diether Dehm, Werner Dreibus,
Dr. Dagmar Enkelmann, Klaus Ernst, Wolfgang Gehrcke, Dr. Gregor Gysi,
Heike Hänsel, Lutz Heilmann, Hans-Kurt Hill, Cornelia Hirsch, Inge Höger,
Dr. Barbara Höll, Ulla Jelpke, Dr. Lukrezia Jochimsen, Katja Kipping, Monika
Knoche, Jan Korte, Katrin Kunert, Oskar Lafontaine, Michael Leutert, Ulla Lötzer,
Dr. Gesine Lötzsch, Ulrich Maurer, Dorothee Menzner, Kornelia Möller, Kersten
Naumann, Wolfgang Neskovic, Dr. Norman Paech, Petra Pau, Bodo Ramelow,
Paul Schäfer (Köln), Volker Schneider (Saarbrücken), Frank Spieth, Dr. Axel Troost,
Alexander Ulrich und Sabine Zimmermann

Späte Schwangerschaftsabbrüche – Selbstbestimmungsrecht von Frauen stärken

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

1. Eine Schwangerschaft auszutragen oder abzubrechen, ist zu jedem Zeitpunkt
eine Entscheidung der Frau. Aufgabe des Staates kann es nur sein, die
Rahmenbedingungen dafür festzulegen.

In Deutschland ist der Abbruch einer Schwangerschaft bis zur zwölften
Woche strafbar, aber nicht rechtswidrig, wenn die Frau zuvor die Teilnahme
an einer so genannten Konfliktberatung nachweisen kann. Nach der zwölften
Schwangerschaftswoche sind Abbrüche nur wegen einer kriminologischen
oder medizinischen Indikation nicht rechtswidrig.

Eine medizinische Indikation liegt vor, wenn die Gefahr besteht, dass der
körperliche oder seelische Gesundheitszustand der Schwangeren derzeit oder
zukünftig gefährdet ist bzw. wenn der Fötus so stark beeinträchtigt ist, dass er
nicht lebensfähig wäre.

Aufgrund einer medizinischen Indikation wurden 2007 in Deutschland 3 072
Schwangerschaften abgebrochen. In besonders seltenen Fällen (2007: 227)
fanden die Abbrüche in einem späten Stadium der Schwangerschaft statt

(nach der 23. Schwangerschaftswoche).

2. Die gesetzlichen Regelungen für Schwangerschaftsabbrüche aufgrund einer
medizinischen Indikation müssen nicht novelliert und schon gar nicht ver-
schärft werden. Richtigerweise weist der Berufsverband der Frauenärzte in
seiner Stellungnahme vom Dezember 2008 darauf hin, dass „die bestehende

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Konfliktberatung ausreichend und situationsgerecht in den Mutterschafts-
richtlinien und den Richtlinien zur Pränataldiagnostik geregelt ist.“ Im
Schwangerschaftskonfliktgesetz ist das Recht für jede Frau und jeden Mann
festgeschrieben, sich in allen, eine Schwangerschaft unmittelbar oder mittel-
bar berührenden Fragen von einer hierfür vorgesehenen Beratungsstelle infor-
mieren und beraten zu lassen (§ 2 des Schwangerschaftskonfliktgesetzes).

3. Frauen müssen auch in schwierigen Konfliktsituationen nicht vor sich selbst
geschützt, sondern in ihren Entscheidungsprozessen unterstützt werden. Mit
Fortschreiten der Schwangerschaft wird die physische und psychische Belas-
tung für die Frauen immer größer. Allein das macht die Entscheidung für
einen Abbruch immer schwieriger. Wenn daher bei einer vorgeburtlichen Un-
tersuchung (Pränataldiagnostik) Auffälligkeiten beim Fötus festgestellt
wurden, sind Schwangere, aber auch deren Partnerinnen und Partner in beson-
derem Maße auf ihr Recht angewiesen, in einer besonders sorgfältigen,
vertrauensvollen, ergebnisoffenen und umfassenden Weise medizinisch und
psychosozial beraten zu werden. Die dafür erforderlichen Angebote sind
bedauerlicherweise jedoch derzeit weder kostenfrei zu erhalten noch flächen-
deckend erreichbar.

4. Die Gesprächs- und Mitwirkungsbereitschaft der schwangeren Frauen darf
nicht erzwungen werden. Dies widerspricht zum einen den Prinzipien einer
vertrauensvollen Beratung. Zum anderen kann eine Pflicht zur Beratung für
die Frau in einer solch extremen Konfliktsituation selbst zu einer Gefährdung
ihrer seelischen Gesundheit führen. Und zwar völlig unabhängig davon, ob
sie zur Austragung der Schwangerschaft bewegt oder ihr ein Schwanger-
schaftsabbruch nahegelegt werden soll.

Daher gehen Überlegungen, eine faktische Pflichtberatung im Rahmen der
medizinischen Indikation und eine sich anschließende Mindest-Bedenkfrist
einzuführen in die falsche Richtung. Sie richten nur weitere Hürden in einer
ohnehin bestehenden emotionalen Grenzsituation auf. Eine Dokumentations-
pflicht über die Beratung, die Reaktion der Frau und das Ergebnis des Ge-
sprächs wäre für die Betroffene stigmatisierend und ist ebenso nicht dazu an-
getan, die dringend nötige vertrauensvolle Atmosphäre herzustellen.

5. Eine indirekte Verschärfung der geltenden gesetzlichen Regelungen durch
Einflussnahme auf die Beratungs- und Entscheidungsbedingungen der
Ärztinnen und Ärzte lehnt der Bundestag ab. Schon nach bisheriger Gesetzes-
lage sind Medizinerinnen und Mediziner dazu verpflichtet, diejenigen
Schwangeren ausführlich zu beraten, die möglicherweise ein gesundheitlich
beeinträchtigtes Kind austragen.

6. Kinder mit Behinderungen und ihre Eltern brauchen – wie auch Erwachsene
mit Behinderung – dringend bessere Lebensperspektiven, mehr gesellschaft-
liche Akzeptanz und Unterstützung. Ihre Lebenssituation ist vor allem er-
schwert durch schwierig zu erreichende oder fehlende Unterstützungsleistun-
gen und ausgrenzende Praktiken. Einrichtungen, in denen Kinder mit und
ohne Behinderung gemeinsam gefördert werden, sind immer noch die Aus-
nahme, obwohl von solchen Angeboten im Ergebnis alle Kinder profitieren.
Kinder mit besonderem Förderbedarf benötigen entsprechende Angebote.
Ihre besonderen Kompetenzen müssen erkannt, geschätzt und gestärkt
werden.

Trotz Einführung des Neunten Buches Sozialgesetzbuch (SGB IX – Rehabili-
tation und Teilhabe behinderter Menschen) im Jahr 2001 sowie der Frühförde-
rungsverordnung von 2003 gelingt es immer noch nicht, Frühförderung als
trägerübergreifende Komplexleistung unbürokratisch anzubieten, zu der auch
Stärkung der elterlichen Kompetenz (Elternberatung) gehört. Zur Finanzie-

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/11377

rung dieser Angebote besteht beim Bund und bei den Ländern dringender
Regelungsbedarf.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. untergesetzliche Regelungen und Instrumente zur Stärkung des Selbstbestim-
mungsrechts schwangerer Frauen, insbesondere ihres Rechtes auf Informa-
tion zu schaffen, die folgenden Grundsätzen folgen:

a) Frauen bzw. Paare haben während jeder Schwangerschaft einen Rechtsan-
spruch auf eine umfassende, vertrauensvolle und ergebnisoffene medizini-
sche und psychosoziale Beratung und Unterstützung. Auf diesen Rechts-
anspruch ist bereits im Mutterpass deutlich hinzuweisen. Deshalb ist dieser
von einem Dokument vor allem für Ärztinnen und Ärzte zu einem Infor-
mationsinstrument auch für die Schwangere und ihre Angehörigen weiter-
zuentwickeln.

b) Das Recht auf umfassende, vertrauensvolle und ergebnisoffene medizini-
sche und psychosoziale Beratung und Unterstützung betrifft in besonde-
rem Maße mögliche vorgeburtliche Untersuchungen.

● Die Schwangeren und gegebenenfalls ihre Partnerin bzw. ihr Partner
müssen bereits vor diesen Untersuchungen darüber aufgeklärt werden,
dass sie derartige Untersuchungen – sowohl generell als auch jeden Un-
tersuchungsschritt im Einzelnen – in Anspruch nehmen oder ablehnen
können (das Recht auf informierte Einwilligung sowie das Recht auf
Nichtwissen).

● Dazu sind die Schwangeren und gegebenenfalls ihre Partnerin bzw. ihr
Partner vor jeder vorgeburtlichen Untersuchung umfassend über die
Möglichkeiten, Grenzen und Risiken der jeweiligen Methode zur vor-
geburtlichen Diagnostik aufzuklären sowie über die möglichen Kon-
flikte, die sich aus dem Ergebnis ergeben könnten. Den Frauen bzw.
Paaren sollte auf eigenen Wunsch hin ermöglicht werden, nur thera-
pierelevante Informationen über den Fötus zu erhalten.

c) Sollten aufgrund vorgeburtlicher Untersuchungen medizinische Auffällig-
keiten am Fötus festgestellt werden, muss der Schwangeren und gegebe-
nenfalls ihrer Partnerin bzw. ihrem Partner unmittelbar nach der Diagnose-
stellung sowie jederzeit später auf Verlangen ein umfassendes Beratungs-
angebot gemacht werden. Dies betrifft insbesondere Informationen über:

● die „Treffsicherheit“ der Untersuchung und die Wahrscheinlichkeit fal-
scher Diagnosen;

● Optionen zur vorgeburtlichen Therapie und ihre Erfolgsaussichten bzw.
Risiken;

● nachgeburtliche Therapiemöglichkeiten und deren Erfolgsaussichten;

● das Leben mit einem behinderten Kind, Zugang zu Selbsthilfegruppen,
finanzielle Unterstützungsmöglichkeiten;

● Methoden und Risiken eines Schwangerschaftsabbruchs, d. h. die ein-
geleitete künstliche Geburt und evtl. erforderliche Maßnahmen zur
Tötung des Embryos im Mutterleib (Fetozid);

● Möglichkeiten der Schwangeren, eine Entscheidung über Fortführung
oder Abbruch der Schwangerschaft zu einem späteren Zeitpunkt zu
treffen.

d) Entscheidet sich die Schwangere zu einem späten Schwangerschaftsab-

bruch, hat sie einen Rechtsanspruch auf umfassende medizinische und

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psychosoziale Beratung sowohl vor als auch nach dem Abbruch. Sie hat
insbesondere

● das Recht auf eine selbstbestimmte Geburt (beispielsweise die Ent-
scheidung für oder gegen eine Narkose und Schmerzmittel);

● das Recht, das totgeborene Kind nach der Geburt nicht zu sehen;

● das Recht, das totgeborene Kind sofort nach der Geburt zu sehen, zu
waschen, anzuziehen, zu fotografieren und solange im Arm halten zu
dürfen, wie sie es möchte;

● das Recht, das totgeborene Kind noch Tage nach der Geburt zu sehen;

● das Recht, die in der Krankenakte enthaltenen Fotos und Fußabdrücke
des totgeborenen Kindes sofort oder noch Jahre später einzusehen und
zu erhalten;

● das Recht, totgeborene Kinder zu bestatten;

● das Recht, im Trauerprozess durch eine Hebamme begleitet zu werden;

2. in Zusammenarbeit mit den Ländern, einen qualitativen und quantitativen
Ausbau der medizinischen und psychosozialen Beratungsangebote sicherzu-
stellen,

a) die kostenfrei und erreichbar (z. B. in angemessener Entfernung) sein
müssen;

b) Beratung und Information aus einer Hand anzubieten. Dazu sind Koopera-
tionen und flexible Beratungsangebote zwischen Beratungsträgern und
pränataldiagnostischen Zentren zu entwickeln;

3. darauf hinzuwirken, dass die Bundesärztekammer gemeinsam mit den Ärzte-
kammern der Länder

a) im Rahmen der Fort- und Weiterbildung für diagnostizierende Ärztinnen
und Ärzte die Qualitätssicherung von Aufklärung, Beratung und Anwen-
dung pränataler Diagnostik sichern;

b) im Rahmen der Fort- und Weiterbildung für Ärztinnen und Ärzte, die
Schwangerschaftsabbrüche durchführen, die Qualitätssicherung der Bera-
tung, insbesondere nach erfolgtem Abbruch zu verbessern. In den Kran-
kenhäusern gilt es, auch das Personal im Umgang mit den Schwangeren,
die sich für einen Abbruch der Schwangerschaft entschlossen haben, und
gegebenenfalls deren Partnerinnen und Partnern besser zu schulen. Vor-
handenes Informations- und Beratungsmaterial muss die Betroffenen er-
reichen und kostenlos zur Verfügung stehen;

c) Beratungsangebote, Informationsmaterialien und Fortbildungen für Heb-
ammen und Klinikpersonal insbesondere zum Zusammenfallen von Ge-
burt und Tod – in ausreichender Qualität und Quantität zu Verfügung
stellen;

4. in Zusammenarbeit mit den Ländern, die Rahmenbedingungen für Kinder mit
Behinderungen und ihre Eltern zu verbessern. Dazu gehört unter anderem
sicherzustellen, dass

a) die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen
wirkungsvoll und vollumfänglich umgesetzt wird;

b) bundesweit Kinder mit und ohne Behinderungen in dieselben Kindertages-
stätten und Schulen gehen können;

c) die Finanzierung der Frühförderung von Kindern mit bestehender oder

drohender Behinderung einschließlich der Beratung ihrer Eltern eindeutig

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geklärt und eine klare gesetzliche Definition des Begriffs Komplexleistung
festgeschrieben wird.

Berlin, den 16. Dezember 2008

Begründung

Seit Jahrzehnten kämpfen Frauen für ihr Recht auf sichere und legale Schwan-
gerschaftsabbrüche. Bereits Erreichtes wird in Europa wie weltweit zunehmend
wieder angegriffen. Vor diesem Hintergrund sind weitere Verschärfungen des
bereits seit 1995 repressiven Abtreibungsrechtes in Deutschland entschieden
zurückzuweisen.

In seinen bisherigen Entscheidungen zur Reform der §§ 218, 219 des Strafge-
setzbuches (StGB) hat das Bundesverfassungsgericht durch eine gedankliche
Aufspaltung der Einheit von schwangerer Frau und Leibesfrucht zwei getrennt
von einander existierende Rechtssubjekte konstruiert.

Auf Grundlage dieser Konstruktion hat das Bundesverfassungsgericht eine
Kollision zwischen den verfassungsrechtlich geschützten Grundrechten der Frau
einerseits und dem Lebensrecht der Leibesfrucht andererseits behauptet, die
nicht zu einem verhältnismäßigen Ausgleich gebracht werden könne.

In der daraus abgeleiteten Güterabwägung ist das Bundesverfassungsgericht zu
dem Schluss gekommen, dass das postulierte Lebensrecht der Leibesfrucht
gegenüber den Grundrechten der Frau überwiegt, weshalb der Staat eine Schutz-
funktion für die Leibesfrucht auch gegenüber der schwangeren Frau habe.

Damit wurden für Frauen die Grundrechte auf Unantastbarkeit ihrer Würde, auf
freie Entfaltung ihrer Persönlichkeit und auf Gewissensfreiheit während der
Schwangerschaft eingeschränkt, ohne dass es hinreichende Hinweise darauf
gibt, dass diese Rechte systematisch missbräuchlich in Anspruch genommen
werden.

Dr. Kirsten Tackmann
Diana Golze
Elke Reinke
Dr. Petra Sitte
Jörn Wunderlich
Hüseyin-Kenan Aydin
Dr. Dietmar Bartsch
Karin Binder
Dr. Lothar Bisky
Heidrun Bluhm
Eva Bulling-Schröter
Dr. Martina Bunge
Roland Claus
Sevim Dag ˘delen
Dr. Diether Dehm
Werner Dreibus
Dr. Dagmar Enkelmann

Klaus Ernst
Wolfgang Gehrcke
Dr. Gregor Gysi
Heike Hänsel
Lutz Heilmann
Hans-Kurt Hill
Cornelia Hirsch
Inge Höger
Dr. Barbara Höll
Ulla Jelpke
Dr. Lukrezia Jochimsen
Katja Kipping
Monika Knoche
Jan Korte
Katrin Kunert
Oskar Lafontaine
Michael Leutert

Ulla Lötzer
Dr. Gesine Lötzsch
Ulrich Maurer
Dorothee Menzner
Kornelia Möller
Kersten Naumann
Wolfgang Neskovic
Dr. Norman Paech
Petra Pau
Bodo Ramelow
Paul Schäfer (Köln)
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Alexander Ulrich
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