Bundesgerichtshof, Urteil vom 09.11.2016, Az. VIII ZR 73/16

8. Zivilsenat | REWIS RS 2016, 2716

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BUNDESGERICHTSHOF (BGH) MIETWOHNUNG BELEIDIGUNG MIET- UND WEG-RECHT KÜNDIGUNG MIETVERTRAG

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Gegenstand

Wohnraummiete: Berücksichtigung von Härtegründen auf Seiten des Mieters im Rahmen der Interessenabwägung bei einer fristlosen Kündigung; drohende schwerwiegende Gesundheitsbeeinträchtigungen


Leitsatz

1. § 543 Abs. 1 Satz 2 BGB verlangt eine Abwägung der beiderseitigen Interessen der Mietvertragsparteien und eine Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles; hierzu gehören auch etwaige Härtegründe auf Seiten des Mieters (Bestätigung des Senatsurteils vom 8. Dezember 2004, VIII ZR 218/03, NZM 2005, 300 unter II 3; hier: Besorgnis einer ernsthaften Verschlechterung des Gesundheitszustands einer 97-jährigen, bettlägerigen Mieterin infolge eines erzwungenen Wechsels der bisherigen häuslichen Umgebung und Pflegesituation).

2. Bei drohenden schwerwiegenden Gesundheitsbeeinträchtigungen oder Lebensgefahr sind die Gerichte im Hinblick auf Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG gehalten, ihre Entscheidung auch verfassungsrechtlich auf eine tragfähige Grundlage zu stellen und diesen Gefahren bei der Abwägung der widerstreitenden Interessen hinreichend Rechnung zu tragen. Das kann bei der Gesamtabwägung nach § 543 Abs. 1 Satz 2 BGB zur Folge haben - was vom Gericht im Einzelfall zu prüfen ist -, dass ein wichtiger Grund für eine außerordentliche Kündigung wegen besonders schwerwiegender persönlicher Härtegründe auf Seiten des Mieters trotz seiner erheblichen Pflichtverletzung nicht vorliegt (im Anschluss an Senatsurteil vom 8. Dezember 2004, VIII ZR 218/03, NZM 2005, 300 unter II 4).

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des [X.] - 14. Zivilkammer - vom 20. Januar 2016 aufgehoben.

Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen

Tatbestand

1

Die im Jahr 1919 geborene Beklagte zu 1 hat zusammen mit ihrem zwischenzeitlich verstorbenen Ehemann von den Eltern (Rechtsvorgängern) der Klägerin im Jahr 1955 eine Dreizimmerwohnung in [X.] [X.]und im Jahr 1963 zusätzlich eine in demselben Gebäude und Stockwerk gelegene Einzimmerwohnung angemietet. Die Klägerin selbst wohnt in W.   .

2

Die (bettlägerige) Beklagte zu 1, für die wegen einer Demenzerkrankung eine Betreuung angeordnet ist, bewohnt die Dreizimmerwohnung. Der Beklagte zu 2 bewohnt seit dem [X.] die Einzimmerwohnung und pflegt die Beklagte zu 1 ganztägig. Er ist außerdem seit dem [X.] ihr Betreuer mit dem Aufgabenkreis Gesundheitsfürsorge, Aufenthaltsbestimmung und Vertretung gegenüber Behörden. Als weiterer Betreuer der Beklagten zu 1 ist ein Rechtsanwalt mit den Aufgabenkreisen Vermögenssorge, Wohnungsangelegenheiten und Kontrolle des zwischen den Beklagten abgeschlossenen Pflegevertrages bestellt.

3

Im [X.] äußerte die Klägerin gegenüber dem Betreuungsgericht Bedenken hinsichtlich der Person des Beklagten zu 2 als Betreuer. [X.] versuchte die Klägerin, bei dem Betreuungsgericht auf die Entbindung des Beklagten zu 2 hinzuwirken. Das Betreuungsgericht und die Landeshauptstadt [X.] sprachen sich jedoch mit Rücksicht auf die als uneingeschränkt positiv beurteilte Pflege für eine Fortdauer der Betreuung und Pflege aus. Im Zeitraum 2010/2011 schrieb der Beklagte zu 2 wiederholt Briefe und E-Mails mit beleidigendem Inhalt an Nachbarn und die Klägerin. In der Folgezeit gab die Klägerin die Hausverwaltung an ihren geschiedenen Ehemann ab. Dieser wandte sich mit Schreiben vom 31. März 2015 an die Beklagten mit der Bitte, ein Fahrrad aus dem Hausflur zu entfernen. Dies lehnte der Beklagte zu 2 mit einer beleidigenden E-Mail an den Verwalter ab, unter anderem mit den Worten "eure beschissene/verschissene Anfeindungscharakter".

4

Die Klägerin erklärte daraufhin mit Anwaltsschreiben vom 21. April 2015, das an den als Betreuer der Beklagten zu 1 bestellten Rechtsanwalt als deren gesetzlichen Vertreter adressiert war, die fristlose Kündigung der Mietverhältnisse. Dies veranlasste den Beklagten zu 2 zu einer E-Mail vom 24. April 2015, in der er der Klägerin "Hausverbot" erteilte, "perverse Anfeindungstendenzen" beklagte und die Klägerin unter anderem als "feige Lästerin" bezeichnete. Die Klägerin kündigte daraufhin mit weiterem Anwaltsschreiben vom 27. April 2015 erneut fristlos und - nach einer weiteren grob beleidigenden E-Mail des Beklagten zu 2 an den Verwalter - nochmals mit Schreiben vom 6. Mai 2015.

5

Das Betreuungsgericht hat die Bestellung des Beklagten zu 2 als Betreuer der Beklagten zu 1 in Kenntnis seines Verhaltens aufrechterhalten.

6

Das Amtsgericht hat die auf Räumung und Herausgabe beider Wohnungen (gegen beide Beklagte) sowie auf Zahlung vorgerichtlicher Anwaltskosten (insoweit nur gegen die Beklagte zu 1) gerichtete Klage abgewiesen. Das [X.] hat der Klage unter Abänderung des erstinstanzlichen Urteils stattgegeben. Mit der vom Senat zugelassenen Revision begehren die Beklagten die Wiederherstellung des erstinstanzlichen Urteils.

Entscheidungsgründe

7

Die Revision hat Erfolg.

I.

8

Das Berufungsgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung im Wesentlichen ausgeführt:

9

Der Klägerin stehe der geltend gemachte [X.] und Herausgabeanspruch zu, weil jedenfalls die fristlose Kündigung vom 6. Mai 2015 nach § 543 Abs. 1 BGB begründet sei und die Mietverhältnisse mit der [X.] zu 1 beendet habe. Der Beklagte zu 2 habe die Klägerin und ihre Hausverwaltung unter anderem als "Terroristen" und "naziähnlichen braunen Misthaufen" bezeichnet, die er "in den Knast schicken" und dazu veranlassen werde, "seine Stiefel und die benutzte Windel der [X.] zu 1 zu lecken". Bei derart groben Beleidigungen liege die Unzumutbarkeit einer weiteren Vertragsfortsetzung auf der Hand. Es habe seitens der Klägerin auch keine Provokation vorgelegen, die das Verhalten des [X.] zu 2 in einem milderen Licht erscheinen lasse. Vielmehr habe die Klägerin, soweit aus den Akten ersichtlich, stets einen sachlichen Ton bewahrt.

Die Beklagte zu 1 als Mieterin habe die Beleidigungen zwar weder selbst ausgesprochen noch gutgeheißen. Sie müsse sich aber das schuldhafte Verhalten des [X.] zu 2 zurechnen lassen, weil sie diesem die Einzimmerwohnung zum selbständigen Gebrauch überlassen habe.

Entgegen der Auffassung des Amtsgerichts führe es zu keiner anderen Beurteilung, dass die Beklagte zu 1 schuldunfähig und dem Verhalten des [X.] zu 2 gegenüber der Klägerin schutzlos ausgeliefert sei. Zwar habe der Beklagte zu 2 die hilflose Beklagte zu 1 in den streitgegenständlichen Konflikt geführt. Für eine "Billigkeitskorrektur" bleibe indes auf der Tatbestandsebene des § 543 Abs. 1 BGB kein Raum. Eine "Verschiebung der Zumutbarkeitsgrenze", wie sie das Amtsgericht in Betracht gezogen habe, komme nur in Betracht, wenn der schuldlos handelnde Mieter selbst "aufgrund seines natürlichen Handlungswillens" Rechte des Vermieters verletzt habe. In derartigen Fällen könne es angesichts der Schuldlosigkeit des Mieters geboten sein, dem Vermieter ein gesteigertes Maß an Toleranz abzuverlangen. Hier habe sich die Klägerin aber nicht einer schuldlosen Person gegenüber gesehen, sondern einem mit Bedacht und offen zur Schau getragener Verachtung handelnden Betreuer.

Die Beklagte zu 1 habe zwar angesichts der langen Dauer des Mietverhältnisses ein erhebliches Bestandsinteresse. Die Abwägung der Interessen der Mietvertragsparteien ergebe jedoch, dass der Klägerin angesichts der Schwere der Beleidigungen ein Festhalten am Mietvertrag nicht mehr zuzumuten sei.

Die in der Person der [X.] zu 1 liegenden [X.] könnten nur im Rahmen der Sozialklausel (§§ 574, 574a BGB) berücksichtigt werden, die im Rahmen einer fristlosen Kündigung indes nach allgemeiner Auffassung keine Anwendung finde.

[X.] verkenne nicht, dass die Beklagte aufgrund ihrer geistigen und körperlichen Verfassung und ihrer Abhängigkeit vom Verhalten des [X.] zu 2 in hohem Maße schutzwürdig sei. [X.] und die Berücksichtigung von [X.] dürften jedoch auf der Tatbestandsebene bei der Frage, ob das streitige Mietverhältnis beendet worden sei, nach der Gesetzessystematik keine Rolle spielen. Für den schutzbedürftigen Mieter halte die Rechtsordnung andere Instrumente bereit, die auch nach Beendigung des Mietverhältnisses unerträgliche Härten abfedern könnten. So bleibe es der [X.] zu 1 unbenommen, mit einem Vollstreckungsschutzantrag nach § 765a ZPO die Zwangsräumung auf ihre Vereinbarkeit mit den guten Sitten überprüfen zu lassen.

II.

Diese Beurteilung hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Mit der vom Berufungsgericht gegebenen Begründung können ein Anspruch der Klägerin auf Räumung und Herausgabe der streitigen Wohnungen und die insoweit geltend gemachte Nebenforderung nicht bejaht werden. Das Berufungsgericht hat die zur Beurteilung einer fristlosen Kündigung nach § 543 Abs. 1 Satz 2 BGB gebotene Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls rechtsfehlerhaft unterlassen, indem es die in der Person der [X.] zu 1 liegenden [X.] außer Betracht gelassen und diese - in Verkennung der gesetzlichen Systematik und der sich mit Rücksicht auf drohende gesundheitliche Beeinträchtigungen stellenden verfassungsrechtlichen Anforderungen - darauf verwiesen hat, bereits vorliegende [X.] erst bei drohender Zwangsräumung im Rahmen des [X.] nach § 765a ZPO vorzubringen.

1. Gemäß § 543 Abs. 1 Satz 2 BGB liegt ein wichtiger Grund zur Kündigung vor, wenn dem Kündigenden unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls, insbesondere eines Verschuldens der Vertragsparteien, und unter Abwägung der beiderseitigen Interessen die Fortsetzung des Mietverhältnisses bis zum Ablauf der Kündigungsfrist oder bis zur sonstigen Beendigung des Mietverhältnisses nicht zugemutet werden kann. Diese Würdigung obliegt zwar in erster Linie dem Tatrichter und kann vom Revisionsgericht nur daraufhin überprüft werden, ob sie auf einer rechtsfehlerfrei gewonnenen Tatsachengrundlage beruht, alle relevanten Gesichtspunkte berücksichtigt worden sind und der Tatrichter den zutreffenden rechtlichen Maßstab angewandt hat (Senatsurteile vom 8. Dezember 2004 - [X.], [X.], 300 unter II 4; vom 9. März 2005 - [X.], NJW 2005, 2552 unter [X.]; vom 4. Juni 2014 - [X.], NJW 2014, 2566 Rn. 12). Einer an diesem Maßstab ausgerichteten Prüfung hält die Beurteilung des Berufungsgerichts jedoch nicht stand. Das Berufungsgericht hat mit den in der Person der [X.] zu 1 liegenden [X.] wesentliche Umstände unberücksichtigt gelassen und dabei auch die verfassungsrechtlichen Anforderungen verkannt, die im vorliegenden Fall an die Gesamtabwägung nach § 543 Abs. 1 BGB zu stellen sind.

2. Zutreffend geht das Berufungsgericht allerdings davon aus, dass es sich bei den wiederholten und ungewöhnlich groben Beleidigungen, die der Beklagte zu 2 im Zusammenhang mit dem Mietverhältnis vielfach in E-Mails oder Schreiben an die Klägerin beziehungsweise ihren Verwalter geäußert hat, um schwerwiegende Vertragsverletzungen handelt, die sich die Beklagte zu 1 schon deshalb zurechnen lassen muss, weil sie dem [X.] zu 2 die Einzimmerwohnung zum selbständigen Gebrauch überlassen hat (§ 540 Abs. 2 BGB). Im Übrigen sind auch Besucher, die sich im Einverständnis mit dem Mieter in der Wohnung aufhalten, im Hinblick auf die Einhaltung des Hausfriedens als Erfüllungsgehilfen des Mieters anzusehen, deren Verhalten sich dieser mithin nach § 278 BGB zurechnen lassen muss (vgl. [X.] in [X.]/Börstinghaus, Miete, 4. Aufl., § 540 Rn. 42). Nach den Gesamtumständen liegt es zudem auf der Hand, dass der zum gesetzlichen Vertreter (Betreuer) mit dem Aufgabenkreis Wohnungsangelegenheiten, Vermögenssorge und Kontrolle des zwischen den beiden [X.] abgeschlossenen [X.] bestellte Rechtsanwalt, der die Beklagte zu 1 in den Vorinstanzen auch gerichtlich vertreten hat, den Aufenthalt des [X.] zu 2 in den streitigen Wohnungen, der schon zur Durchführung der Pflege erforderlich ist, billigt. Ungeachtet der persönlichen Schuldlosigkeit der [X.] zu 1 liegen deshalb schwerwiegende (schuldhafte) Verletzungen des Mietvertrages vor.

3. Vergeblich macht die Revision allerdings geltend, das Berufungsgericht habe verkannt, dass die Äußerungen des [X.] zu 2 mit Rücksicht auf sein "Temperament" und das Verhalten der Klägerin, unter anderem die von ihr im Jahr 2010 unternommenen Versuche, auf eine Ablösung des [X.] zu 2 als Betreuer hinzuwirken, nicht als schwerwiegende Vertragsverletzung oder zumindest in einem milderen Licht zu sehen seien. Damit setzt die Revision lediglich ihre eigene Wertung an die Stelle der tatrichterlichen Würdigung des Berufungsgerichts, zeigt aber einen Rechtsfehler nicht auf. Es liegt im Übrigen auf der Hand, dass die im Jahr 2015 vom [X.] zu 2 gegenüber der Klägerin geäußerten groben Formalbeleidigungen weder dadurch zu entschuldigen sind, dass sie im Jahr 2010 zur Überprüfung der Situation der [X.] zu 1 die Betreuungsbehörde eingeschaltet hat, noch dadurch, dass sie den [X.] zu 2 in jüngerer [X.] aufgefordert hat, sein Fahrrad und andere Gegenstände aus dem Hausflur zu entfernen. Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts hat die Klägerin gegenüber dem [X.] zu 2 stets einen sachlichen Ton bewahrt; übergangenen Sachvortrag, aus dem sich Anhaltspunkte dafür ergäben, dass das Verhalten der Klägerin als "schikanös" oder "provozierend" einzuordnen sein könnte, zeigt die Revision nicht auf.

4. Das Berufungsgericht hat indes verkannt, dass zu den bei der Abwägung zu berücksichtigenden Umständen des Einzelfalls (§ 543 Abs. 1 Satz 2 BGB) auch die im Hinblick auf die Situation der [X.] zu 1 vorgebrachten schwerwiegenden persönlichen [X.] gehören. Zwar findet die sogenannte Sozialklausel (§§ 574, 574a BGB), die in Härtefällen eine Fortsetzung des Mietverhältnisses - gegebenenfalls auch zu im Urteil festzusetzenden Bedingungen (§ 574a Abs. 2 BGB) - ermöglicht, gegenüber einer fristlosen Kündigung keine Anwendung (§ 574 Abs. 1 Satz 2 BGB), wie das Berufungsgericht zumindest im Ansatz richtig gesehen hat. Das heißt aber - selbstverständlich - nicht, dass [X.] bei der Gesamtabwägung einer nach der Generalklausel des § 543 Abs. 1 BGB erklärten Kündigung außer Betracht zu bleiben hätten oder - wie das Berufungsgericht gemeint hat - ausschließlich im Vollstreckungsverfahren zu berücksichtigen wären.

a) § 543 Abs. 1 Satz 2 BGB schreibt - im Gegensatz zu den in § 543 Abs. 2 BGB geregelten Kündigungsgründen, die eine Berücksichtigung von persönlichen Umständen und Zumutbarkeitserwägungen grundsätzlich nicht zulassen (vgl. dazu Senatsurteil vom 4. Februar 2015 - [X.], [X.], 134 Rn. 21) - ausdrücklich eine Abwägung der beiderseitigen Interessen der Mietvertragsparteien und eine Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles bei der Beurteilung der Frage der Unzumutbarkeit einer weiteren Vertragsfortsetzung vor. Die Abwägung auf bestimmte Gesichtspunkte zu beschränken und deren Berücksichtigung ausschließlich in das Vollstreckungsverfahren zu verschieben, verbietet sich mithin bereits aufgrund der eindeutigen gesetzlichen Regelung (Senatsurteil vom 8. Dezember 2004 - [X.], aaO unter [X.]).

b) Die Einbeziehung der schwerwiegenden persönlichen [X.] ist zudem auch verfassungsrechtlich aufgrund der Ausstrahlungswirkung der Grundrechte geboten.

Aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG folgt, dass die Gerichte bei drohenden schwerwiegenden Gesundheitsbeeinträchtigungen oder Lebensgefahr verfassungsrechtlich gehalten sind, ihre Entscheidung auf eine tragfähige Grundlage zu stellen, [X.] besonders sorgfältig nachzugehen ([X.] [X.], 1449, 1450; NJW-RR 2014, 584, 585; [X.], 657, 658 f.; NJW 1991, 3207) und diesen Gefahren bei der Abwägung der widerstreitenden Interessen hinreichend Rechnung zu tragen ([X.] NJW 1998, 295, 296; vgl. auch [X.] NJW-RR 2001, 1523 f.; [X.], Beschluss vom 28. Januar 2016 - [X.]/15, NJW-RR 2016, 336 Rn. 6, 10 ff.).

Im Zusammenhang mit § 765a ZPO entspricht es daher ständiger Rechtsprechung des [X.], dass bei der Beurteilung, ob die Zwangsräumung für den Schuldner und ehemaligen Mieter eine sittenwidrige Härte darstellt, das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit maßgeblich berücksichtigt werden muss ([X.], Beschlüsse vom 16. Juni 2016 - [X.], [X.], 1606 Rn. 12; vom 4. Mai 2005 - [X.], [X.]Z 163, 66, 72; jeweils mwN). In besonders gelagerten Einzelfällen kann in diesen Fallgestaltungen daher die Vollstreckung sogar für einen längeren [X.]raum und - in absoluten Ausnahmefällen - auf unbestimmte [X.] einzustellen sein (st. Rspr.; zuletzt [X.] [X.], 1449, 1450; [X.], Beschluss vom 4. Mai 2005 - [X.] aaO S. 72 f.; jeweils mwN).

Ebenso müssen die Grundrechte des Mieters und insbesondere das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit bei der Gesamtabwägung nach § 543 Abs. 1 Satz 2 BGB berücksichtigt werden. Das kann zur Folge haben - was vom Gericht im Einzelfall zu prüfen ist -, dass ein wichtiger Grund für eine außerordentliche Kündigung wegen besonders schwerwiegender persönlicher [X.] auf Seiten des Mieters trotz seiner erheblichen Pflichtverletzung nicht vorliegt (vgl. Senatsurteil vom 8. Dezember 2004 - [X.], aaO unter II 4).

c) Die [X.] haben insoweit, wie die Revision unter Bezugnahme auf deren Sachvortrag in den Tatsacheninstanzen zutreffend rügt, geltend gemacht, dass die Beklagte zu 1 auf die Betreuung durch den [X.] zu 2 in ihrer bisherigen häuslichen Umgebung angewiesen sei und bei einem Wechsel der Betreuungsperson oder einem Umzug schwerwiegendste Gesundheitsschäden zu besorgen seien. Hierzu hat das Berufungsgericht - vor dem Hintergrund der von ihm vertretenen Rechtsauffassung folgerichtig - keine konkreten Feststellungen getroffen. Es ist aber jedenfalls nicht ausgeschlossen, dass der Klägerin eine Fortsetzung des Mietverhältnisses mit der hochbetagten [X.] zu 1 - die ihr Leben weitgehend in den streitgegenständlichen, schon von den Eltern der Klägerin angemieteten Wohnungen verbracht hat - trotz der (fast "zwanghaft" anmutenden) Beleidigungen gröbster Natur, zu denen sich der Beklagte zu 2 - offenbar ohne den geringsten nachvollziehbaren Anlass - immer wieder in Schreiben und E-Mails hinreißen lässt, nicht unzumutbar ist, wenn bei der [X.] zu 1 für den Fall eines erzwungenen Wechsels der bisherigen häuslichen Umgebung und Pflegesituation schwerwiegende gesundheitliche Beeinträchtigungen zu besorgen sind.

III.

Nach alledem kann das Berufungsurteil keinen Bestand haben; es ist daher aufzuheben (§ 562 Abs. 1 ZPO). Der Rechtsstreit ist nicht zur Endentscheidung reif, weil die erforderlichen weiteren Feststellungen - unter sachkundiger Beratung - sowie die erforderliche Gesamtabwägung nachzuholen sind. Die Sache ist daher an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO).

Dr. [X.]                         Dr. Schneider

                   Dr. Bünger                            Kosziol

Meta

VIII ZR 73/16

09.11.2016

Bundesgerichtshof 8. Zivilsenat

Urteil

Sachgebiet: ZR

vorgehend LG München I, 20. Januar 2016, Az: 14 S 16950/15, Urteil

§ 543 Abs 1 S 2 BGB, Art 2 Abs 2 S 1 GG

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Urteil vom 09.11.2016, Az. VIII ZR 73/16 (REWIS RS 2016, 2716)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2016, 2716


Verfahrensgang

Der Verfahrensgang wurde anhand in unserer Datenbank vorhandener Rechtsprechung automatisch erkannt. Möglicherweise ist er unvollständig.

Az. VIII ZR 73/16

Bundesgerichtshof, VIII ZR 73/16, 09.11.2016.


Az. 14 S 16950/15

LG München I, 14 S 16950/15, 03.02.2016.

LG München I, 14 S 16950/15, 20.01.2016.


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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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