Bundesgerichtshof, Entscheidung vom 09.11.2016, Az. VIII ZR 73/16

VIII. Zivilsenat | REWIS RS 2016, 2677

© REWIS UG (haftungsbeschränkt)

Tags hinzufügen

Sie können dem Inhalt selbst Schlagworten zuordnen. Geben Sie hierfür jeweils ein Schlagwort ein und drücken danach auf sichern, bevor Sie ggf. ein neues Schlagwort eingeben.

Beispiele: "Befangenheit", "Revision", "Ablehnung eines Richters"

QR-Code

Entscheidungstext


Formatierung

Dieses Urteil liegt noch nicht ordentlich formatiert vor. Bitte nutzen Sie das PDF für eine ordentliche Formatierung.

PDF anzeigen

[X.]:[X.]:[X.]:2016:091116UVIIIZR73.16.0

BUN[X.]SGERI[X.]HTSHOF

IM NAMEN [X.]S VOLKES

URTEIL
VIII ZR 73/16
Verkündet am:

9. November 2016

Ring,

Justizhauptsekretärin

als Urkundsbeamtin

der Geschäftsstelle
in dem Rechtsstreit
Nachschlagewerk:
ja
[X.]Z:
nein
[X.]R:
ja

BGB §
543 Abs.
1 Satz
2

a)
§ 543 Abs. 1 Satz 2 BGB verlangt eine Abwägung der beiderseitigen Interes-sen der Mietvertragsparteien und eine Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles; hierzu gehören auch etwaige [X.] auf Seiten des [X.] (Bestätigung des [X.] vom 8. Dezember 2004 -
VIII ZR 218/03, [X.], 300 unter [X.]; hier: Besorgnis einer ernsthaften Verschlechterung des Gesundheitszustands einer 97-jährigen, bettlägerigen Mieterin infolge eines erzwungenen [X.]echsels der bisherigen häuslichen Umgebung und Pflegesituation).
b)
Bei drohenden schwerwiegenden Gesundheitsbeeinträchtigungen oder Le-bensgefahr sind die Gerichte im Hinblick auf Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG gehal-ten, ihre Entscheidung auch verfassungsrechtlich auf eine tragfähige [X.] zu stellen und diesen Gefahren bei der Abwägung der widerstreitenden Interessen hinreichend Rechnung zu tragen. Das kann bei der Gesamtabwä-gung nach §
543 Abs.
1 Satz
2 BGB zur Folge haben -
was vom Gericht im Einzelfall zu prüfen ist -, dass ein wichtiger Grund für eine außerordentliche Kündigung wegen besonders schwerwiegender persönlicher [X.] auf Seiten des Mieters trotz seiner erheblichen Pflichtverletzung nicht vorliegt (im [X.] an Senatsurteil vom 8.
Dezember 2004 -
VIII ZR 218/03, [X.], 300 unter [X.]).
[X.], Urteil vom 9. November 2016 -
VIII ZR 73/16 -
LG [X.] I

AG [X.]
-
2 -

Der VIII. Zivilsenat des [X.] hat auf die mündliche Verhandlung vom 9. November
2016 durch die Vorsitzende Richterin Dr.
Milger
sowie die
Richter Prof. Dr.
Achilles, Dr.
Schneider, Dr.
Bünger
und Kosziol

für Recht erkannt:
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des [X.]s
[X.] I -
14. Zivilkammer -
vom 20. Januar 2016
aufgehoben.
Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an
das
Berufungsge-richt zurückverwiesen.
Von Rechts wegen

Tatbestand:
Die im Jahr 1919 geborene Beklagte zu 1 hat zusammen mit ihrem zwi-schenzeitlich verstorbenen Ehemann von den Eltern (Rechtsvorgängern) der Klägerin im Jahr 1955 eine Dreizimmerwohnung in [X.] S.

und im Jahr 1963 zusätzlich eine in demselben Gebäude und Stockwerk gelegene [X.] angemietet.
Die Klägerin selbst wohnt in [X.].

.

Die
(bettlägerige)
Beklagte zu 1, für die wegen
einer Demenzerkrankung eine
Betreuung angeordnet ist, bewohnt die Dreizimmerwohnung.
Der Beklagte zu 2 bewohnt seit dem [X.] die Einzimmerwohnung und pflegt die [X.] zu 1 ganztägig. Er ist außerdem
seit dem [X.] ihr Betreuer
mit dem Aufgabenkreis Gesundheitsfürsorge, Aufenthaltsbestimmung und Vertretung gegenüber Behörden. Als weiterer Betreuer
der Beklagten zu 1
ist ein Rechts-1
2
-
3 -

anwalt mit den Aufgabenkreisen Vermögenssorge, [X.]ohnungsangelegenheiten und Kontrolle des zwischen den Beklagten abgeschlossenen [X.] bestellt.
Im [X.] äußerte die Klägerin gegenüber dem Betreuungsgericht Bedenken hinsichtlich der Person des Beklagten zu 2 als Betreuer. [X.] versuchte die Klägerin, bei dem Betreuungsgericht auf die Entbindung des Beklagten zu 2 hinzuwirken. Das Betreuungsgericht und die Landeshauptstadt [X.] sprachen sich jedoch mit Rücksicht auf die als uneingeschränkt posi-tiv beurteilte Pflege für eine Fortdauer der Betreuung und Pflege aus. Im [X.]-raum 2010/2011 schrieb
der Beklagte zu 2 wiederholt Briefe und E-Mails mit beleidigendem Inhalt an Nachbarn
und
die Klägerin.
In der Folgezeit gab die
Klägerin die Hausverwaltung an ihren geschiedenen Ehemann ab. Dieser wandte sich mit Schreiben vom 31. März 2015 an die Beklagten mit der Bitte, ein Fahrrad aus dem Hausflur zu entfernen. Dies lehnte der Beklagte zu 2 mit einer beleidigenden E-Mail
an den Verwalter ab,
unter anderem mit den [X.]orten
"eure beschissene/verschissene Anfeindungscharakter".
Die Klägerin erklärte daraufhin mit Anwaltsschreiben vom 21. April 2015, das an den als Betreuer der Beklagten zu 1 bestellten Rechtsanwalt als deren gesetzlichen Vertreter adressiert war, die
fristlose Kündigung der
Mietverhält-nisse. Dies veranlasste
den
Beklagten
zu 2 zu
einer E-Mail
vom 24.
April
2015, in der er der Klägerin "Hausverbot"
erteilte, "perverse Anfeindungstendenzen"
beklagte und die Klägerin unter anderem als "feige Lästerin"
bezeichnete. Die Klägerin kündigte daraufhin mit weiterem Anwaltsschreiben vom 27. April 2015 erneut fristlos und -
nach einer weiteren grob beleidigenden E-Mail
des [X.]n zu 2 an den Verwalter
-
nochmals mit Schreiben vom 6. Mai 2015.
Das
Betreuungsgericht hat die Bestellung des Beklagten zu 2 als Be-treuer der Beklagten zu 1 in Kenntnis seines Verhaltens
aufrechterhalten.
3
4
5
-
4 -

Das Amtsgericht hat die auf Räumung und Herausgabe beider [X.]ohnun-gen (gegen beide Beklagte)
sowie auf Zahlung vorgerichtlicher Anwaltskosten (insoweit nur gegen die Beklagte zu 1)
gerichtete Klage abgewiesen. Das [X.] hat der Klage unter Abänderung des erstinstanzlichen Urteils
statt-gegeben.
Mit der vom Senat zugelassenen Revision begehren die Beklagten die [X.]iederherstellung des erstinstanzlichen Urteils.

Entscheidungsgründe:
Die Revision hat Erfolg.
I.
Das Berufungsgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung im [X.]e-sentlichen ausgeführt:

Der Klägerin stehe der geltend gemachte
Räumungs-
und Herausgabe-anspruch zu, weil jedenfalls die fristlose Kündigung vom 6. Mai 2015 nach §
543 Abs. 1 BGB begründet sei und die
Mietverhältnisse
mit der Beklagten zu
1 beendet habe. Der Beklagte zu 2 habe die Klägerin und ihre Hausverwal-tung unter anderem als "Terroristen"
und "naziähnlichen
braunen
Misthaufen"
bezeichnet, die er "in den Knast schicken"
und dazu veranlassen werde, "seine Stiefel und die benutzte [X.]indel der Beklagten zu 1 zu lecken". Bei derart [X.] Beleidigungen liege die Unzumutbarkeit einer weiteren Vertragsfortsetzung auf der Hand. Es habe seitens der Klägerin auch keine Provokation vorgelegen, die das Verhalten des Beklagten zu 2 in einem milderen Licht erscheinen lasse.
Vielmehr habe die Klägerin, soweit aus den Akten ersichtlich, stets einen sach-lichen Ton bewahrt.
6
7
8
9
-
5 -

Die Beklagte zu 1 als Mieterin habe die Beleidigungen zwar weder selbst ausgesprochen noch gutgeheißen. Sie müsse sich aber das schuldhafte [X.] des Beklagten zu 2 zurechnen lassen, weil sie diesem die Einzimmer-wohnung zum selbständigen Gebrauch überlassen habe.
Entgegen der Auffassung des Amtsgerichts
führe es zu keiner anderen Beurteilung, dass die Beklagte zu 1 schuldunfähig und dem Verhalten des [X.] zu 2 gegenüber der Klägerin schutzlos ausgeliefert sei. Zwar habe der Beklagte zu 2 die hilflose Beklagte zu
1 in den streitgegenständlichen Konflikt geführt. Für eine "Billigkeitskorrektur"
bleibe indes auf der Tatbestandsebene des § 543 Abs. 1 BGB kein Raum. Eine "Verschiebung der Zumutbarkeitsgren-ze", wie sie das Amtsgericht in Betracht gezogen habe, komme nur in Betracht, wenn der schuldlos handelnde Mieter selbst "aufgrund seines natürlichen Hand-lungswillens"
Rechte des Vermieters verletzt habe. In derartigen Fällen könne es angesichts der
Schuldlosigkeit des Mieters geboten sein, dem Vermieter ein gesteigertes Maß an Toleranz
abzuverlangen.
Hier habe sich die Klägerin aber nicht einer schuldlosen Person gegenüber gesehen, sondern einem mit Be-dacht und offen zur Schau getragener Verachtung handelnden Betreuer.
Die Beklagte zu 1 habe zwar angesichts der langen Dauer des Mietver-hältnisses ein erhebliches Bestandsinteresse. Die Abwägung der Interessen der Mietvertragsparteien ergebe jedoch, dass der Klägerin angesichts der Schwere der Beleidigungen ein Festhalten am Mietvertrag nicht mehr zuzumuten sei.

Die in der Person der Beklagten zu 1 liegenden [X.] könnten nur im
Rahmen der [X.] (§§ 574, 574a BGB) berücksichtigt werden, die im Rahmen einer fristlosen Kündigung indes nach allgemeiner Auffassung keine Anwendung finde.

10
11
12
13
-
6 -

Die Kammer verkenne nicht, dass die Beklagte aufgrund ihrer geistigen und körperlichen
Verfassung und ihrer Abhängigkeit vom Verhalten des [X.]n zu 2 in hohem Maße schutzwürdig sei. [X.] und die Be-rücksichtigung von [X.] dürften jedoch auf der Tatbestandsebene bei der Frage, ob das streitige Mietverhältnis beendet worden sei,
nach der Geset-zessystematik keine Rolle spielen. Für den schutzbedürftigen Mieter halte die Rechtsordnung andere Instrumente bereit, die auch nach Beendigung des Mietverhältnisses unerträgliche Härten abfedern könnten. So bleibe es der [X.]
zu 1 unbenommen, mit einem Vollstreckungsschutzantrag nach §
765a ZPO die Zwangsräumung auf ihre
Vereinbarkeit mit den guten Sitten überprü-fen zu lassen.

II.
Diese Beurteilung hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Mit der vom Berufungsgericht gegebenen Begründung können ein
Anspruch der Klägerin auf Räumung und Herausgabe der streitigen [X.]ohnungen
und die insoweit gel-tend gemachte Nebenforderung nicht bejaht werden. Das Berufungsgericht hat die zur Beurteilung einer fristlosen Kündigung nach § 543 Abs. 1 Satz 2 BGB gebotene Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls rechtsfehlerhaft [X.], indem es die in der Person der Beklagten zu 1 liegenden
Härtegrün-de außer Betracht gelassen und diese
-
in Verkennung der
gesetzlichen Syste-matik
und der sich mit Rücksicht auf drohende gesundheitliche Beeinträchti-gungen stellenden verfassungsrechtlichen Anforderungen -
darauf verwiesen hat, bereits vorliegende [X.] erst bei drohender Zwangsräumung im Rahmen des [X.] nach §
765a
ZPO vorzubringen.

14
15
-
7 -

1. Gemäß § 543 Abs. 1 Satz 2 BGB liegt ein wichtiger Grund zur Kündi-gung vor, wenn dem Kündigenden unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls, insbesondere eines Verschuldens der Vertragsparteien, und unter Abwägung der beiderseitigen Interessen
die Fortsetzung des Mietverhältnisses bis zum Ablauf der Kündigungsfrist oder bis zur sonstigen Beendigung des Mietverhältnisses nicht zugemutet werden kann. Diese [X.]ürdigung
obliegt zwar
in erster Linie dem Tatrichter und kann vom Revisionsgericht nur daraufhin überprüft werden, ob sie auf einer rechtsfehlerfrei gewonnenen [X.] beruht, alle relevanten Gesichtspunkte berücksichtigt worden sind und der Tatrichter den zutreffenden rechtlichen Maßstab angewandt hat (Se-natsurteile
vom 8. Dezember 2004 -
VIII ZR 218/03, [X.], 300 unter [X.]; vom
9. März 2005 -
VIII ZR
394/03, NJ[X.] 2005, 2552
unter [X.]; vom 4. Juni 2014 -
VIII ZR 289/13, NJ[X.] 2014, 2566 Rn. 12). Einer an diesem Maßstab ausgerichteten Prüfung hält die Beurteilung des Berufungsgerichts jedoch nicht stand. Das Berufungsgericht hat mit den in der Person der Beklagten zu 1 lie-genden [X.] wesentliche Umstände unberücksichtigt gelassen und dabei auch die verfassungsrechtlichen Anforderungen
verkannt, die
im
vorlie-genden Fall an die Gesamtabwägung nach §
543 Abs. 1 BGB zu stellen sind.
2.
Zutreffend geht das Berufungsgericht allerdings davon aus, dass
es sich bei den wiederholten und ungewöhnlich groben Beleidigungen, die der [X.] zu 2 im Zusammenhang mit dem Mietverhältnis vielfach in E-Mails oder Schreiben an die Klägerin beziehungsweise
ihren Verwalter geäußert hat, um schwerwiegende Vertragsverletzungen handelt, die sich die Beklagte zu 1 schon deshalb zurechnen lassen muss, weil sie dem Beklagten zu 2 die [X.] zum selbständigen Gebrauch überlassen hat (§ 540 Abs. 2
BGB). Im Übrigen
sind auch Besucher, die sich im Einverständnis mit dem [X.] in der [X.]ohnung aufhalten, im Hinblick auf die Einhaltung des Hausfriedens als Erfüllungsgehilfen des Mieters anzusehen,
deren Verhalten sich dieser
mit-16
17
-
8 -

hin nach § 278 BGB zurechnen lassen muss (vgl. [X.] in [X.]/Börstinghaus, Miete, 4. Aufl., § 540 Rn. 42). Nach den Gesamtumständen liegt es zudem auf der Hand, dass der zum gesetzlichen Vertreter (Betreuer) mit dem [X.] [X.]ohnungsangelegenheiten, Vermögenssorge und Kontrolle des zwischen den beiden Beklagten abgeschlossenen [X.] bestellte Rechtsan-walt, der die Beklagte zu 1 in den Vorinstanzen auch gerichtlich vertreten hat, den
Aufenthalt des Beklagten zu
2 in den streitigen [X.]ohnungen, der schon zur Durchführung der Pflege erforderlich ist,
billigt. Ungeachtet der persönlichen Schuldlosigkeit der Beklagten zu 1 liegen deshalb schwerwiegende (schuldhaf-te)
Verletzungen des Mietvertrages vor.
3. Vergeblich macht die Revision allerdings
geltend, das Berufungsge-richt habe verkannt, dass die Äußerungen des Beklagten zu 2 mit Rücksicht auf sein "Temperament"
und das Verhalten der Klägerin, unter anderem die von ihr im Jahr 2010 unternommenen Versuche, auf eine Ablösung des Beklagten zu 2 als Betreuer
hinzuwirken, nicht als schwerwiegende Vertragsverletzung oder zumindest in einem milderen Licht zu sehen seien. Damit setzt die Revision lediglich ihre eigene [X.]ertung
an die Stelle der tatrichterlichen [X.]ürdigung des Berufungsgerichts, zeigt aber einen Rechtsfehler nicht auf.
Es liegt im Übrigen auf der Hand, dass die im Jahr 2015 vom Beklagten zu 2 gegenüber der Kläge-rin geäußerten groben Formalbeleidigungen weder dadurch zu entschuldigen sind, dass sie im Jahr 2010 zur Überprüfung der Situation der Beklagten zu 1 die Betreuungsbehörde eingeschaltet hat,
noch dadurch, dass sie den [X.]n zu 2 in jüngerer [X.] aufgefordert hat, sein Fahrrad und andere [X.] aus dem Hausflur zu entfernen.
Nach den Feststellungen des Berufungsge-richts hat die Klägerin gegenüber dem Beklagten zu 2 stets einen sachlichen Ton bewahrt; übergangenen Sachvortrag, aus dem
sich Anhaltspunkte dafür ergäben, dass das
Verhalten der Klägerin als "schikanös"
oder "provozierend"
einzuordnen sein könnte, zeigt die Revision nicht auf.
18
-
9 -

4. Das Berufungsgericht hat indes verkannt, dass zu
den bei der Abwä-gung zu berücksichtigenden Umständen des Einzelfalls
(§ 543 Abs. 1 Satz 2 BGB)
auch
die im Hinblick auf die Situation der Beklagten zu 1 vorgebrachten schwerwiegenden persönlichen [X.]
gehören. Zwar findet die soge-nannte [X.] (§§ 574, 574a BGB), die in Härtefällen eine Fortsetzung des Mietverhältnisses -
gegebenenfalls auch zu im Urteil festzusetzenden Be-dingungen (§
574a Abs. 2 BGB) -
ermöglicht, gegenüber einer fristlosen Kündi-gung keine Anwendung (§ 574 Abs. 1 Satz 2 BGB), wie das Berufungsgericht zumindest im Ansatz richtig gesehen
hat.
Das heißt
aber -
selbstverständlich -
nicht, dass [X.] bei der Gesamtabwägung einer nach der Generalklau-sel des § 543 Abs. 1 BGB erklärten Kündigung außer Betracht zu bleiben hät-ten
oder -
wie das Berufungsgericht gemeint hat -
ausschließlich im
Vollstre-ckungsverfahren zu berücksichtigen
wären.

a) § 543 Abs. 1 Satz 2 BGB schreibt -
im Gegensatz zu den in § 543 Abs. 2 BGB geregelten Kündigungsgründen, die eine Berücksichtigung von persönlichen Umständen und Zumutbarkeitserwägungen grundsätzlich nicht zulassen
(vgl. dazu Senatsurteil vom 4. Februar 2015 -
VIII ZR 175/14, [X.], 134
Rn. 21) -
ausdrücklich eine Abwägung der beiderseitigen Interessen der Mietvertragsparteien und eine Berücksichtigung aller Umstände des Einzel-falles bei der Beurteilung der Frage der Unzumutbarkeit einer weiteren Ver-tragsfortsetzung vor. Die Abwägung
auf bestimmte Gesichtspunkte
zu be-schränken und deren Berücksichtigung ausschließlich in
das Vollstreckungsver-fahren zu verschieben, verbietet sich mithin
bereits aufgrund der eindeutigen gesetzlichen Regelung (Senatsurteil vom 8. Dezember 2004 -
VIII ZR 218/03, aaO
unter II
3).

19
20
-
10 -

b) Die Einbeziehung der schwerwiegenden persönlichen [X.] ist zudem auch verfassungsrechtlich aufgrund der Ausstrahlungswirkung der Grundrechte geboten.

Aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG folgt, dass die Gerichte bei
drohenden schwerwiegenden Gesundheitsbeeinträchtigungen oder Lebensgefahr verfas-sungsrechtlich gehalten
sind, ihre Entscheidung auf eine tragfähige Grundlage zu stellen, [X.] besonders sorgfältig nachzugehen ([X.] [X.]M 2016, 1449, 1450;
NJ[X.]-RR 2014, 584, 585; [X.], 657, 658 f.; NJ[X.] 1991, 3207) und diesen
Gefahren bei der Abwägung der widerstreitenden Interessen hinreichend Rechnung zu tragen ([X.] NJ[X.] 1998, 295, 296; vgl. auch [X.] NJ[X.]-RR 2001, 1523 f.; [X.], Beschluss
vom 28.
Januar 2016
-
V [X.], NJ[X.]-RR 2016, 336 Rn. 6, 10
ff.).

Im Zusammenhang mit § 765a ZPO
entspricht es daher ständiger Recht-sprechung
des [X.], dass bei der Beurteilung, ob die Zwangs-räumung für den Schuldner und ehemaligen Mieter eine sittenwidrige Härte darstellt, das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit maßgeblich berücksichtigt werden muss
([X.], Beschlüsse
vom 16. Juni 2016 -
I [X.], [X.]M 2016, 1606 Rn. 12; vom 4. Mai 2005
-
I ZB 10/05, [X.]Z 163, 66, 72; jeweils mwN). In
besonders gelagerten Einzelfällen
kann
in diesen Fallge-staltungen daher die Vollstreckung sogar für einen längeren [X.]raum und -
in absoluten Ausnahmefällen -
auf unbestimmte [X.] einzustellen sein
(st.
Rspr.;
zuletzt [X.] [X.]M 2016, 1449, 1450; [X.], Beschluss vom 4. Mai 2005
-
I ZB 10/05 aaO S. 72 f.; jeweils mwN).
Ebenso müssen die Grundrechte des Mieters
und
insbesondere das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit bei der Gesamtabwägung nach §
543 Abs. 1 Satz 2 BGB berücksichtigt werden. Das kann zur Folge haben

-
was vom Gericht im Einzelfall zu prüfen ist -,
dass ein wichtiger Grund für eine 21
22
23
24
-
11 -

außerordentliche Kündigung wegen besonders schwerwiegender persönlicher [X.] auf Seiten des Mieters trotz seiner erheblichen
Pflichtverletzung nicht vorliegt
(vgl. Senatsurteil vom 8. Dezember 2004 -
VIII ZR 218/03, aaO
unter [X.]).
c) Die Beklagten haben insoweit, wie die Revision unter Bezugnahme auf deren Sachvortrag in den Tatsacheninstanzen zutreffend rügt,
geltend gemacht, dass die Beklagte zu 1 auf die Betreuung durch den Beklagten zu 2 in ihrer bis-herigen häuslichen Umgebung angewiesen sei und bei einem [X.]echsel der [X.] oder einem Umzug schwerwiegendste Gesundheitsschäden
zu besorgen seien. Hierzu hat das
Berufungsgericht -
vor dem Hintergrund der von ihm vertretenen Rechtsauffassung folgerichtig -
keine konkreten Feststellungen getroffen. Es ist aber jedenfalls nicht ausgeschlossen, dass der Klägerin eine Fortsetzung des Mietverhältnisses mit der hochbetagten Beklagten
zu 1
-
die ihr Leben weitgehend in den streitgegenständlichen, schon von den
Eltern der Klägerin angemieteten [X.]ohnungen
verbracht hat -
trotz der (fast "[X.]"
anmutenden) Beleidigungen gröbster Natur, zu denen sich der Beklagte zu
2 -
offenbar ohne
den geringsten nachvollziehbaren Anlass -
immer wieder in Schreiben und E-Mails hinreißen lässt, nicht unzumutbar ist, wenn bei der [X.] zu 1 für den Fall eines erzwungenen [X.]echsels der bisherigen häusli-chen Umgebung und Pflegesituation schwerwiegende gesundheitliche Beein-trächtigungen zu besorgen sind.

III.
Nach alledem kann das Berufungsurteil keinen Bestand haben; es ist daher aufzuheben (§ 562 Abs. 1 ZPO). Der Rechtsstreit ist nicht zur Endent-scheidung reif, weil
die erforderlichen weiteren Feststellungen -
unter sachkun-25
26
-
12 -

diger Beratung -
sowie die erforderliche Gesamtabwägung
nachzuholen sind.
Die Sache ist daher an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 563 Abs. 1 Satz
1 ZPO).
Dr. Milger
Dr. Achilles
Dr. Schneider

Dr. Bünger
Kosziol
Vorinstanzen:
AG [X.], Entscheidung vom 14.08.2015 -
417 [X.] 11029/15 -

LG [X.] I, Entscheidung vom 20.01.2016 -
14 S 16950/15 -

Meta

VIII ZR 73/16

09.11.2016

Bundesgerichtshof VIII. Zivilsenat

Sachgebiet: ZR

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Entscheidung vom 09.11.2016, Az. VIII ZR 73/16 (REWIS RS 2016, 2677)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2016, 2677

Auf dem Handy öffnen Auf Mobilgerät öffnen.


Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

Ähnliche Entscheidungen

VIII ZR 73/16 (Bundesgerichtshof)

Wohnraummiete: Berücksichtigung von Härtegründen auf Seiten des Mieters im Rahmen der Interessenabwägung bei einer fristlosen …


VIII ZR 81/20 (Bundesgerichtshof)

Wohnraummiete: Widerspruch des langjährigen Mieters gegen eine an sich gerechtfertigte ordentliche Kündigung des Vermieters; Härtegründe


VIII ZR 81/20 (Bundesgerichtshof)

Wohnraummiete: Widerspruch des langjährigen Mieters gegen eine an sich gerechtfertigte ordentliche Kündigung des Vermieters; Härtegründe


14 S 16950/15 (LG München I)

Beleidigung eines Vermieters durch Betreuer der dementen Mieterin


VIII ZR 323/18 (Bundesgerichtshof)

Teilurteil gegen einen von mehreren Streitgenossen; Fortsetzung des Mietverhältnisses nach Widerspruch gegen eine ordentliche Kündigung …


Referenzen
Wird zitiert von

Keine Referenz gefunden.

Zitiert

VIII ZR 73/16

VIII ZR 289/13

VIII ZR 175/14

V ZB 115/15

I ZB 109/15

14 S 16950/15

Zitieren mit Quelle:
x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.