Bundesverfassungsgericht, Stattgebender Kammerbeschluss vom 28.11.2011, Az. 1 BvR 917/09

1. Senat 1. Kammer | REWIS RS 2011, 1036

Foto: © Bundesverfassungsgericht │ foto USW. Uwe Stohrer, Freiburg

ÖFFENTLICHES RECHT STRAFRECHT BUNDESVERFASSUNGSGERICHT (BVERFG) MEINUNGSFREIHEIT RECHTSEXTREMISMUS NPD

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Gegenstand

Stattgebender Kammerbeschluss: Verletzung von Art 5 Abs 1 S 1 GG durch strafrechtliche Verurteilung wegen Verunglimpfung des Staates und seiner Symbole - hier: Bezeichnung des "BRD-Systems“ als verkommen


Tenor

Das Urteil des Amtsgerichts [X.] vom 22. September 2008 - 5 [X.]/08 -11 [X.] - und der Beschluss des [X.] vom 19. März 2009 - 1 [X.]/09 - verletzen die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht aus Artikel 5 Absatz 1 Satz 1 des Grundgesetzes.

Die Entscheidungen werden aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Entscheidung an das Amtsgericht [X.] zurückverwiesen.

Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen.

...

Der Wert des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit im Verfassungsbeschwerdeverfahren wird auf 8.000 € (in Worten: achttausend Euro) festgesetzt.

Gründe

1

Die Verfassungsbeschwerde betrifft eine strafgerichtliche Verurteilung wegen Beihilfe zur Verunglimpfung des Staates (§§ 90a Abs. 1 Nr. 1, 27 StGB).

2

1. Am 28. Februar 2008 wurde im [X.] das Theaterstück "[X.] - allein gegen [X.]" uraufgeführt. Nach der Premiere des Theaterstücks wurden von mehreren unbekannt gebliebenen Männern Flugblätter an Besucher verteilt und an [X.]raftfahrzeugen angebracht. Unter der Überschrift "[X.] - Held oder Mörder?" enthielt das Flugblatt in der linken Spalte folgenden Text:

3

Der militante [X.]ommunist [X.], (unter anderem seit 1928 Mitglied im [X.]), dem die Nationalsozialisten trotzdem kein Haar gekrümmt hatten, plante bereits 1938 den demokratisch gewählten Reichskanzler, Adolf [X.], zu ermorden.

4

Am 08.11.1939 explodierte seine durch einen Zeitzünder ausgelöste Bombe im [X.] Bürgerbräukeller. Sie riss acht unschuldige Menschen in den Tod. Weitere 63 Menschen wurden verletzt, 16 davon schwer. Unter den Opfern befanden sich auch Mütter und Familienväter, wodurch ihre [X.]inder zu Waisen wurden.

5

Wie sehr ist dieses [X.] schon verkommen, daß es für seinen „[X.](r)ampf gegen Rechts“ (und damit alles Deutsche!) eines solchen Vorbildes bedarf? Ihn in Filmen und Theaterstücken bejubelt, Schüler zwingt, ihn zu verehren und sogar Briefmarken für den [X.]ommunisten [X.] herausgibt?

6

Werden bald die [X.] RAF-Terroristen ebenso geehrt und ihre Opfer verhöhnt?

7

Mörder unschuldiger Menschen können keine Vorbilder sein!

8

In der rechten Spalte des Flugblattes waren auf Todesanzeigen ähnliche Art und Weise die Namen der acht im Bürgerbräukeller ums Leben gekommenen Personen nebst Geburtsdatum aufgeführt. Darunter befand sich noch folgender Text:

9

Ermordet durch einen feigen Terroranschlag am 8. November 1939!

Da die eigentlichen Verfasser des Flugblattes eine presserechtlich ordnungsgemäße Veröffentlichung des Flugblattes ermöglichen und selbst unerkannt bleiben wollten, trat die Beschwerdeführerin als Vorstandsmitglied des NPD-[X.]reisverbandes Z. auf Anfrage und in [X.]enntnis des Inhalts des Flugblattes nach außen hin als presserechtlich Verantwortliche des Flugblattes auf.

2. Das Amtsgericht verurteilte aufgrund dieses Sachverhalts die Beschwerdeführerin mit angegriffenem Urteil gemäß §§ 90a Abs. 1 Nr. 1, 27 StGB wegen Beihilfe zur Verunglimpfung des Staates zu einer Geldstrafe von 90 Tagessätzen zu je 10 €.

Es begründete dies insbesondere wie folgt: Im dritten und vierten Absatz der linken Spalte des Flugblattes werde die [X.] und deren verfassungsgemäße Ordnung durch Werturteil und Tatsachenbehauptungen in bewusst feindlicher Gesinnung als der Achtung der Bürger unwert und unwürdig hingestellt. Bereits der erste Satz des dritten Absatzes enthalte für einen objektiven unbefangenen Leser die Feststellung, dass "dieses [X.]" in besonders gravierendem Maße verkommen sei. Hinzu komme, dass in den genannten Passagen zumindest auch zwei offenkundig falsche Tatsachenbehauptungen enthalten seien. So werde behauptet, das "[X.]" zwinge Schüler, die Person [X.] zu verehren, und verhöhne die durch den Anschlag von [X.] ums Leben gekommenen oder verletzten Opfer. Letzteres ergebe sich aus der Formulierung: "Werden bald die [X.] RAF-Terroristen ebenso geehrt - und ihre Opfer verhöhnt?" Diese verunglimpfenden Äußerungen fielen daher nicht unter den Schutz des Art. 5 Abs. 1 GG. Berücksichtigt worden sei zwar, dass der Schutzbereich des Art. 5 Abs. 1 GG bereits dann eröffnet sei, wenn tatsachenhaltige Äußerungen durch Elemente der Stellungnahme des [X.] und [X.] geprägt seien und Tatsachenbehauptungen der Bildung einer Meinung oder der Stützung von Werturteilen dienen. Vorliegend stützten die genannten unwahren Tatsachenbehauptungen auch ersichtlich als Argumente die Meinung und Bewertung, dass das "[X.]" in erheblichem Maße verkommen sei. Der Schutz des Art. 5 Abs. 1 GG würde aber zu weit ausgelegt, wenn derart gravierende verunglimpfende Bewertungen in erheblichem Umfang mit falschen Tatsachenbehauptungen belegt werden könnten.

3. Mit Beschluss vom 19. März 2009 verwarf das [X.] die Revision der Beschwerdeführerin als unbegründet, da die Nachprüfung der Entscheidung keinen Rechtsfehler zum Nachteil der Beschwerdeführerin ergeben habe. Beschimpfende Angriffe auf die [X.] als Staat mit ihrer im Grundgesetz verkörperten Verfassung seien nicht mehr durch Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG gedeckt, sondern nach § 90a Abs. 1 Nr. 1 StGB strafbar.

4. Mit ihrer Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin - insbesondere - eine Verletzung ihres Grundrechts aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG.

5. Dem [X.] wurde Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben. Von einer Stellungnahme wurde abgesehen. Die Akten des Ausgangsverfahrens haben dem [X.] zur Entscheidung vorgelegen.

1. Soweit die Beschwerdeführerin rügt, in ihren Rechten aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG verletzt zu sein, nimmt die [X.]ammer die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an, weil dies insoweit zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 [X.] genannten Rechte der Beschwerdeführerin angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b [X.]). Die Voraussetzungen für eine stattgebende [X.]ammerentscheidung liegen vor (§ 93c [X.]). Die für die Entscheidung maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen der Reichweite von Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG bei der strafrechtlichen Beurteilung von Meinungsäußerungen im Allgemeinen sowie im Bereich von § 90a StGB im Besonderen hat das [X.] bereits entschieden (vgl. allgemein zur Meinungsfreiheit: [X.] 90, 241 <247 ff.>; 93, 266 <292 ff.>; 124, 300 <320 ff.>; speziell zu § 90a StGB: [X.] 47, 198 <232 f.>; Beschluss der 1. [X.]ammer des [X.] vom 29. Juli 1998 - 1 BvR 287/93 -, NJW 1999, [X.]; Beschluss der 1. [X.]ammer des [X.] vom 9. Juli 2008 - 1 BvR 519/08 -, juris; Beschluss der 1. [X.]ammer des [X.] vom 15. September 2008 - 1 BvR 1565/05 -, NJW 2009, [X.] 908).

2. Die angegriffenen Entscheidungen verletzen die Beschwerdeführerin danach in ihrer durch Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG gewährleisteten Meinungsfreiheit.

a) Vom Schutzbereich der Meinungsfreiheit umfasst sind zum einen Meinungen, das heißt durch das Element der Stellungnahme und des [X.] geprägte Äußerungen. Sie fallen stets in den Schutzbereich von Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG, ohne dass es dabei darauf ankäme, ob sie sich als wahr oder unwahr erweisen, ob sie begründet oder grundlos, emotional oder rational sind, oder ob sie als wertvoll oder wertlos, gefährlich oder harmlos eingeschätzt werden (vgl. [X.] 90, 241 <247>; 124, 300 <320>). Sie verlieren diesen Schutz auch dann nicht, wenn sie scharf und überzogen geäußert werden (vgl. [X.] 61, 1 <7 f.>; 90, 241 <247>; 93, 266 <289>). Der Meinungsäußernde ist insbesondere auch nicht gehalten, die der Verfassung zugrunde liegenden Wertsetzungen zu teilen, da das Grundgesetz zwar auf die [X.] baut, diese aber nicht erzwingt (vgl. [X.] 124, 300 <320>). Neben Meinungen sind vom Schutz des Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG aber auch [X.] umfasst, soweit sie Voraussetzung für die Bildung von Meinungen sind beziehungsweise sein können. Nicht mehr in den Schutzbereich des Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG fallen hingegen bewusst oder erwiesen unwahre Tatsachenbehauptungen, da sie zu der verfassungsrechtlich gewährleisteten Meinungsbildung nichts beitragen können (vgl. [X.] 61, 1 <8>; 90, 241 <247>). Allerdings dürfen die Anforderungen an die Wahrheitspflicht nicht so bemessen werden, dass darunter die Funktion der Meinungsfreiheit leidet. Im Einzelfall ist eine Trennung der tatsächlichen und der wertenden Bestandteile nur zulässig, wenn dadurch der Sinn der Äußerung nicht verfälscht wird. Wo dies nicht möglich ist, muss die Äußerung im Interesse eines wirksamen Grundrechtsschutzes insgesamt als Meinungsäußerung angesehen werden, weil andernfalls eine wesentliche Verkürzung des Grundrechtsschutzes drohte (vgl. [X.] 90, 241 <248>; stRspr).

Ist der Schutzbereich der Meinungsfreiheit einmal eröffnet, findet dieses Grundrecht zwar seine Schranken in den allgemeinen Gesetzen, wozu auch die Strafnorm des § 90a Abs. 1 Nr. 1 StGB zählt, gegen die keine durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken bestehen (vgl. [X.] 47, 198 <232 f.>). Doch haben die Gerichte bei Auslegung und Anwendung der die Meinungsfreiheit einschränkenden Vorschrift im Einzelfall ihrerseits wiederum dem eingeschränkten Grundrecht Rechnung zu tragen, damit dessen wertsetzende Bedeutung auch auf der [X.] gewahrt bleibt (vgl. [X.] 7, 198 <208 f.>; 93, 266 <292>; 124, 300 <342>; stRspr). Zwischen Grundrechtsschutz und Grundrechtsschranken findet eine Wechselwirkung in dem Sinne statt, dass die Schranken zwar dem Wortlaut nach dem Grundrecht Grenzen setzen, ihrerseits aber aus der Erkenntnis der grundlegenden Bedeutung dieses Grundrechts im freiheitlich [X.] ausgelegt und so in ihrer das Grundrecht begrenzender Wirkung selbst wieder eingeschränkt werden müssen (vgl. [X.] 7, 198 <208 f.>; [X.] 124, 300 <332 u. 342>). Allein die Wertlosigkeit oder auch Gefährlichkeit von Meinungen als solche ist kein Grund, diese zu beschränken. Demgegenüber ist es legitim, [X.] zu unterbinden (vgl. [X.] 124, 300 <332 f.>). Verboten werden darf mithin nicht der Inhalt einer Meinung als solcher, sondern nur die Art und Weise der [X.]ommunikation, die bereits den Übergang zur Rechtsgutsverletzung greifbar in sich trägt und damit die Schwelle zu einer sich abzeichnenden Rechtsgutverletzung überschreitet (vgl. [X.] 124, 300 <342>). Ist diese Schwelle überschritten, erfordert die Bedeutung der Meinungsfreiheit in einem zweiten Schritt eine fallbezogene Abwägung zwischen der Meinungsfreiheit und dem Rechtsgut, in dessen Interesse sie eingeschränkt ist (vgl. [X.] 93, 266 <293 ff.>). Bei Staatsschutznormen ist dabei besonders sorgfältig zwischen einer - wie verfehlt auch immer erscheinenden - Polemik auf der einen Seite und einer Beschimpfung oder böswilligen Verächtlichmachung auf der anderen Seite zu unterscheiden, weil Art. 5 Abs. 1 GG gerade aus dem besonderen Schutzbedürfnis der Machtkritik erwachsen ist und darin unverändert seine Bedeutung findet (vgl. [X.] 93, 266 <293>; Beschluss der 1. [X.]ammer des [X.] vom 29. Juli 1998 - 1 BvR 287/93 -, NJW 1999, [X.] <205>).

b) Diesen Maßstäben halten die angegriffenen Entscheidungen nicht stand.

aa) Entgegen den Ausführungen des Amtsgerichts ist der Schutzbereich der Meinungsfreiheit eröffnet.

Der Inhalt des Flugblattes ist überwiegend von wertenden Stellungnahmen, insbesondere in den Absätzen drei bis fünf der linken Textspalte und der Schlussaussage der rechten Spalte geprägt. Die [X.] im ersten und zweiten Absatz der linken Textspalte zum Anschlag im [X.] Bürgerbräukeller vom 8. November 1939 sind ersichtlich Grundlage der anschließenden Wertungen. Stellung genommen wird dabei im [X.]ontext mit der Aufführung des Theaterstücks "[X.] - allein gegen [X.]" zum einen zum Bürgerbräukelleranschlag beziehungsweise zur Person [X.] selbst und zum anderen zur für die Verfasser durch Aufführung dieses Theaterstückes und ähnlicher Veranstaltungen empfundenen Verehrung der Person [X.]s in der [X.]. Dass dabei das "[X.]" als "verkommen" bezeichnet wird, ist für die Eröffnung des Schutzbereichs der Meinungsfreiheit nicht entscheidend, da es hierfür auf den Wert der Äußerungen und eine [X.] der Beschwerdeführerin nicht ankommt. Anders als nach Auffassung des Amtsgerichts enthalten die Absätze drei bis fünf auch keine erwiesen unrichtigen Tatsachenbehauptungen. Der Einschub im dritten Absatz der linken Textspalte "und Schüler zwinge, ihn ([X.]) zu verehren" ist, will man den Sinn der Äußerung nicht verfälschen, untrennbar in die sonstigen Wertungen des dritten Absatzes eingebunden und kann naheliegenderweise so verstanden werden, dass die Schüler durch entsprechende Theateraufführungen nach Ansicht der Beschwerdeführerin zu einer Verehrung [X.]s zu Unrecht gedrängt werden. Auch die Fragestellung des vierten Absatzes "Werden bald die [X.] RAF-Terroristen genauso geehrt und ihre Opfer verhöhnt?" hat eine ausschließlich die Grundaussage betonende Funktion und beinhaltet auch nicht im Umkehrschluss eine dem Beweis zugängliche Tatsachenbehauptung.

bb) Unabhängig von der Frage, ob zumindest das [X.] bei seiner kurz gehaltenen Begründung die Eröffnung des Schutzbereichs der Meinungsfreiheit erkannt hat, werden die angegriffenen Entscheidungen des Amtsgerichts und des [X.]s der Bedeutung der Meinungsfreiheit insoweit nicht gerecht, als sie verkannt haben, dass mit der Verteilung des fraglichen Flugblattes im konkreten Fall ein gegen die Meinungsfreiheit abwägbares Schutzgut von vornherein nicht in dem Sinne betroffen ist, dass die Schwelle zu einer Rechtsgutverletzung bereits überschritten ist.

Denn anders als dem einzelnen Staatsbürger kommt dem Staat kein grundrechtlich geschützter Ehrenschutz zu. Der Staat hat grundsätzlich auch scharfe und polemische [X.]ritik auszuhalten (vgl. [X.] 93, 266 <292 f.>; Beschluss der 1. [X.]ammer des [X.] vom 15. September 2008 - 1 BvR 1565/05 -, NJW 2009, [X.] 908 <909>). Die Zulässigkeit von [X.]ritik am System ist Teil des Grundrechtestaats. Zielrichtung des vorliegend angewandten § 90a StGB wie sämtlicher Staatsschutznormen ist es, den Bestand der [X.], ihrer Länder und ihrer verfassungsgemäßen Ordnung zu gewährleisten und zu erhalten (vgl. [X.]St 6, 324 <325>; [X.], Beschluss vom 1. April 1998 - 3 StR 54/98 -, NStZ 1998, [X.]; [X.]/[X.]uschel, in: [X.] [X.]ommentar zum StGB, 12. Aufl. 2007, § 90a Rn. 1; [X.], [X.] 1979, [X.] 309 <310 ff.>; [X.], [X.] 1979, [X.] f.; Roggemann, [X.] 1992, [X.] 934 <937>). Die Schwelle zur Rechtsgutverletzung ist im Falle des § 90a Abs. 1 Nr. 1 StGB mithin erst dann überschritten, wenn aufgrund der konkreten Art und Weise der Meinungsäußerung der Staat dermaßen verunglimpft wird, dass dies zumindest mittelbar geeignet erscheint, den Bestand der [X.], die Funktionsfähigkeit seiner staatlichen Einrichtungen oder die Friedlichkeit in der [X.] zu gefährden (vgl. [X.] 93, 266 <293>; 124, 300 <332 ff.>). Dies wäre bei entsprechender Form der Meinungsäußerung etwa denkbar, wenn der [X.] jegliche Legitimation abgesprochen würde und dazu aufgerufen würde, sie zu ersetzen (vgl. [X.], Beschluss vom 15. Oktober 2002 - 3 [X.]/02 -, [X.], [X.] 145).

Vorliegend ist diese Schwelle jedoch noch nicht überschritten. Das streitige Flugblatt nimmt die Aufführung des Theaterstücks "[X.] - allein gegen [X.]" zum Anlass, um sich - wie bereits erläutert - vorwiegend mit dem zugrunde liegenden historischen Geschehen um [X.] auseinander zu setzen und im Rahmen des öffentlichen Meinungskampfes der unterstellten anderen Wertung des "[X.]s" eine eigene Wertung entgegenzusetzen. [X.]ernaussage des Flugblattes ist bei einer kontextbezogenen objektivierenden Betrachtung der letzte Absatz der linken Textspalte: "Mörder unschuldiger Menschen können keine Vorbilder sein!". Die Darstellung einer Verkommenheit des "[X.]s" ist hingegen weder inhaltlich noch dem Umfang nach thematischer Schwerpunkt des Flugblattes. Bezugspunkt insofern ist auch nicht etwa die verfassungsmäßige Ordnung, sondern mit dem „[X.](r)ampf gegen Rechts“lediglich ein politischer Einzelaspekt. Die Äußerungen verbleiben dabei weitgehend auf [X.] (vgl. [X.] 124, 300 <342>), die Grenze von bloßer Polemik zur Rechtsgutverletzung ist noch nicht überschritten. Eine auch nur mittelbare Eignung des Flugblattes, den Bestand des Staates und seiner Einrichtungen oder die Friedlichkeit in der [X.] zu gefährden, erscheint ausgeschlossen.

c) Die angegriffenen gerichtlichen Entscheidungen beruhen auch auf der Verkennung der Bedeutung und Tragweite des Grundrechts auf Meinungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG.

3. Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen (§ 93a [X.]).

4. Die Entscheidung über die Auslagenerstattung folgt aus § 34a Abs. 2 [X.]. Die Festsetzung des Gegenstandswerts beruht auf § 37 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit § 14 Abs. 1 RVG (vgl. [X.] 79, 365 <366 ff.>).

Meta

1 BvR 917/09

28.11.2011

Bundesverfassungsgericht 1. Senat 1. Kammer

Stattgebender Kammerbeschluss

Sachgebiet: BvR

vorgehend OLG Stuttgart, 19. März 2009, Az: 1 Ss 109/09, Beschluss

Art 5 Abs 1 S 1 GG, § 93c Abs 1 S 1 BVerfGG, § 90a StGB

Zitier­vorschlag: Bundesverfassungsgericht, Stattgebender Kammerbeschluss vom 28.11.2011, Az. 1 BvR 917/09 (REWIS RS 2011, 1036)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2011, 1036

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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Referenzen
Wird zitiert von

1 BvR 2290/23

3 StR 27/18

3 StR 33/12

3 StR 33/12

15 U 150/17

15 U 153/17

6 C 12/20

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