Bundesverfassungsgericht, Stattgebender Kammerbeschluss vom 14.11.2012, Az. 2 BvR 1164/12

2. Senat 3. Kammer | REWIS RS 2012, 1432

Foto: © Bundesverfassungsgericht │ foto USW. Uwe Stohrer, Freiburg

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Gegenstand

Stattgebender Kammerbeschluss: Verletzung von Art 2 Abs 2 S 2 GG durch Aufrechterhaltung von Untersuchungshaft unter Verkennung des verfassungsrechtlichen Beschleunigungsgebots in Haftsachen - hier: vermeidbare und der Justiz zurechenbare Verfahrensverzögerungen, die der Fortdauer der Untersuchungshaft unter Berücksichtigung der wertsetzenden Bedeutung des Grundrechts auf Freiheit der Person entgegenstehen


Tenor

Der Beschluss des [X.] vom 19. April 2012 - 1 Ws 197/12 [X.] - verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 2 Satz 2 des Grundgesetzes.

...

Der Wert des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit wird auf 8.000 € (in Worten: achttausend Euro) festgesetzt.

Gründe

A.

1

Der Beschwerdeführer wendet sich mit der Verfassungsbeschwerde gegen die dritte vom [X.] nach §§ 121, 122 StPO getroffene [X.]entscheidung.

I.

2

1. Die Staatsanwaltschaft [X.] übernahm am 9. März 2011 ein bis dahin allein von der Steuerfahndung des Finanzamtes [X.] gegen den Beschwerdeführer und andere Personen wegen des Verdachts der Steuerhinterziehung geführtes Ermittlungsverfahren.

3

Am 10. März 2011 erließ das Amtsgericht antragsgemäß einen Haftbefehl. Darin wurde dem Beschwerdeführer zur Last gelegt, als faktischer Geschäftsführer diverser Dienstleistungsunternehmen veranlasst zu haben, den Unternehmen in Rechnung gestellte Fremdleistungen zu verbuchen, obwohl er gewusst habe, dass den Rechnungen kein tatsächlicher Leistungsaustausch zugrunde lag. Es soll daher in den Jahren von 2006 bis 2010 für die faktisch geführten Unternehmen in 88 Fällen zu inhaltlich unrichtigen Umsatzsteueranmeldungen mit einem Steuerschaden von nahezu 1,67 Millionen Euro gekommen sein. Als Haftgrund bejahte das Amtsgericht das Vorliegen von Flucht- und Verdunkelungsgefahr.

4

Der Beschwerdeführer wurde am 17. März 2011 festgenommen und befand sich ab dem 18. März 2011 ununterbrochen in Untersuchungshaft.

5

2. Am 30. August 2011 übergab die Steuerfahndung der Staatsanwaltschaft die bis dahin angelegten zehn Bände Ermittlungs- und 20 Bände Teilermittlungsakten; am 2. September 2011 folgte der Ermittlungsbericht vom 31. August 2011.

6

3. Unter dem 8. September 2011 übersandte die Staatsanwaltschaft für das Haftprüfungsverfahren gemäß §§ 121, 122 StPO die angelegten [X.] mit einem Vorlagebericht an die [X.]. Das Beschleunigungsgebot sei beachtet worden. Das Verfahren stelle sich mit Blick auf die undurchsichtige Struktur der Vorgänge, die Zahl der involvierten Personen und Unternehmen sowie auf seine [X.] als ungewöhnlich komplex dar.

7

Mit Schreiben vom 12. September 2011 leitete die [X.] die Akten unter Bezugnahme auf den Vorlagebericht der Staatsanwaltschaft an das [X.] [X.] weiter.

8

4. Mit Beschluss vom 28. September 2011 ordnete der Strafsenat erstmalig die Fortdauer der Untersuchungshaft an. Es liege zwar keine Verdunkelungs-, wohl aber Fluchtgefahr vor. Die Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft sei gemäß § 121 Abs. 1 StPO gerechtfertigt, weil der besondere Umfang der Ermittlungen ein Urteil noch nicht zugelassen habe. Es seien mehrere Durchsuchungen durchgeführt worden, bei denen zuletzt Mitte März 2011 eine Vielzahl von Dokumenten sichergestellt worden sei, es seien bis einschließlich Mai 2011 über 100 Zeugen vernommen worden, und es gebe zehn Haupt- und 20 Teilermittlungsakten. Die Beteiligung mehrerer Firmen und viele vorgeschobene Geschäfte zeigten mehr als deutlich die besondere Schwierigkeit des Verfahrens, das zeitaufwändige Abschlussarbeiten erfordere.

9

Ein Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot liege nicht vor. Die umfangreichen Ermittlungen seien von der Steuerfahndung am 31. August 2011 abgeschlossen worden. Die dem Verteidiger gesetzte [X.] laufe noch, und die Anklageerhebung werde derzeit vorbereitet, weshalb mit einer zügigen Fortführung des Verfahrens gerechnet werden könne.

5. Mit einer 39-seitigen an das [X.] [X.] gerichteten Anklageschrift vom 26. Oktober 2011 legte die Staatsanwaltschaft dem Beschwerdeführer Steuerhinterziehung in 66 Fällen sowie eine versuchte Steuerhinterziehung mit einem Steuerschaden von insgesamt nahezu 2,29 Millionen Euro zur Last. Ein Mitangeklagter soll in neun Fällen Steuerhinterziehung begangen haben. Die Staatsanwaltschaft beantragte, neben der Eröffnung des Hauptverfahrens und Zulassung der Anklage zur Hauptverhandlung vor der Wirtschaftsstrafkammer gegen den Beschwerdeführer einen geänderten Haftbefehl gemäß den Ausführungen der Anklageschrift zu erlassen.

Nachdem die Anklage am 31. Oktober 2011 beim [X.] eingegangen war, veranlasste der [X.]vorsitzende am 15. November 2011 die Übersetzung in die [X.] sowie - mit einer fünfwöchigen Erklärungsfrist - die Zustellung der Anklage.

6. Mit Schreiben vom 1. Dezember 2011 übersandte die [X.] den aktuellen Band 11 der Verfahrensakten an die Staatsanwaltschaft zur Weiterleitung und Durchführung des [X.] gemäß §§ 121, 122 StPO an das [X.]. Die Kammer wies auf die Zustellungsverfügung und die gewährte Einlassungsfrist von fünf Wochen hin. Ferner sei die übersetzte Anklageschrift dem Beschwerdeführer und dem Mitangeklagten am 30. November 2011 übermittelt worden.

7. Am 16. Dezember 2011 leitete die Staatsanwaltschaft die [X.] (elf Bände Ermittlungs- und 14 Bände Teilermittlungsakten) mit einem Vorlagebericht der Generalstaatsanwaltschaft zu. Das Beschleunigungsgebot sei auch nach der letzten Entscheidung des [X.]s beachtet worden.

Mit Schreiben vom 20. Dezember 2011 übermittelte die [X.] die Akten unter Bezugnahme auf den Vorlagebericht der Staatsanwaltschaft an das [X.] [X.].

8. Am 20. Dezember 2011 erinnerte der Verteidiger des Mitangeklagten an ein von ihm gestelltes Akteneinsichtsgesuch vom 9. Dezember 2011 und bat zugleich, die [X.] zu verlängern. Nach weiterem Schriftwechsel erhielt der Verteidiger mit Verfügung vom 12. Januar 2012 eine CD-ROM mit den eingescannten Aktenbestandteilen; das Gericht setzte eine Erklärungsfrist von (weiteren) drei Wochen.

9. Am 16. Januar 2012 beschloss das [X.] zum [X.] die Fortdauer der Untersuchungshaft. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit sei nach wie vor gewahrt, weil der Beschwerdeführer mit einer die bisherige Dauer der Untersuchungshaft deutlich übersteigenden Freiheitsstrafe zu rechnen habe. Die Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft sei gerechtfertigt; trotz der hinreichenden Beschleunigung im letzten [X.] habe ein Urteil noch nicht ergehen können. Es sei nach der zwischenzeitlich erfolgten Erhebung der Anklage und deren Übersetzung und Zustellung mit einer weiterhin zügigen Verfahrensfortsetzung zu rechnen. Bei Berücksichtigung der genannten Umstände komme dem [X.] gegenüber dem [X.] des Beschwerdeführers trotz der bisherigen Verfahrensdauer immer noch das größere Gewicht zu.

Diese Entscheidung ging am 30. Januar 2012 beim [X.] ein und wurde der [X.] vorgelegt.

10. Am 2. März 2012 bestimmte die Kammer, dem Beschwerdeführer am 23. März 2012 einen der Anklageschrift angepassten Haftbefehl zu verkünden. Auch der Verteidiger des Mitangeklagten wurde vom Termin informiert, um die Sach- und Rechtslage mit den Verfahrensbeteiligten besprechen zu können.

11. Am 23. März 2012 verkündete die [X.] einen Haftbefehl, der dem Beschwerdeführer Steuerhinterziehung in 65 Fällen sowie eine versuchte Steuerhinterziehung zur Last legte. Als Haftgrund bejahte sie das Vorliegen von Fluchtgefahr.

12. In der Vorlageverfügung vom 26. März 2012 hielt der Vorsitzende in Form eines Vermerks fest, dass es im [X.] an die [X.] zwischen den Beteiligten zu einer Besprechung gekommen sei. In deren Verlauf habe die Kammer für den Fall vollumfänglicher Geständnisse jeweils bestimmte Strafen in Aussicht gestellt. Weiter führte der Vorsitzende aus, die Kammer halte die Fortdauer der Untersuchungshaft für erforderlich. Es sei beabsichtigt, die Hauptverhandlung im Mai oder Juni 2012 durchzuführen. Vor einer konkreten Terminbestimmung werde zunächst abgewartet, ob die Angeschuldigten mit der besprochenen Verständigung einverstanden seien. Zudem sei der Gesundheitszustand des Beschwerdeführers zu berücksichtigen. Dieser hatte am 13. März 2012 einen Vorderwandherzinfarkt erlitten und musste stationär behandelt werden.

13. Mit Schreiben vom 4. April 2012 übersandte die Staatsanwaltschaft die [X.] an die Generalstaatsanwaltschaft und wies im Bericht darauf hin, das Beschleunigungsgebot sei beachtet worden. Eine Hauptverhandlung sei für Mai oder Juni 2012 vorgesehen. Eine Rückmeldung der Verteidiger zu dem Ergebnis der Besprechung vom 23. März 2012 sei jedoch noch nicht erfolgt. Auch müsse die gesundheitliche Situation des Beschwerdeführers geklärt werden.

Die Generalstaatsanwaltschaft leitete die Akten unter Bezugnahme auf den Bericht der Staatsanwaltschaft am 5. April 2012 an das [X.] weiter.

14. Nachdem die [X.] zur Frage, ob eine medizinische Rehabilitationsmaßnahme erforderlich sei, ein Gutachten eingeholt hatte, leitete der Vorsitzende dieses am 12. April 2012 an die Staatsanwaltschaft und den Verteidiger des Beschwerdeführers weiter und wies darauf hin, eine solche Behandlung sei medizinisch notwendig, könne jedoch nur in einer speziellen Einrichtung durchgeführt werden. Der zuständige Sozialversicherungsträger werde die Kosten nur tragen, wenn der Beschwerdeführer nicht inhaftiert sei. Eine Außervollzugsetzung sei aber in Anbetracht der Fluchtgefahr problematisch. Es wäre daher am sinnvollsten, möglichst bald einen Hauptverhandlungstermin zu bestimmen. Nach durchgeführter Hauptverhandlung könne der Haftbefehl außer Vollzug gesetzt oder unter Umständen sogar aufgehoben werden. Weiter heißt es sodann:

"Eine baldige Hauptverhandlung setzt aber voraus, dass die Angeschuldigten mit der angedachten Verständigung einverstanden und geständig sind. Insoweit folgten noch keine Rückmeldungen. Die Verteidiger werden daher aufgefordert umgehend der Kammer mitzuteilen, ob die Angeschuldigten mit der angedachten Verständigung einverstanden sind … ."

Der Vorsitzende benannte sieben im Zeitraum vom 3. Mai bis 30. Mai 2012 liegende Terminstage, zu denen die Verteidiger eine etwaige Verhinderung mitteilen sollten.

15. Der Verteidiger des Beschwerdeführers beantragte in einem dem [X.] am 18. April 2012 per Telefax zugegangenen Schriftsatz, den Haftbefehl aufzuheben. Es bestehe kein wichtiger Grund für die erneute Fortdauer der Untersuchungshaft. Der Beschwerdeführer befinde sich seit 13 Monaten in Untersuchungshaft. Seit der Ende Oktober 2011 erfolgten Anklageerhebung ruhe das Verfahren ohne stichhaltigen Grund. Es sei nicht innerhalb von drei Monaten nach Ablauf der Äußerungsfrist über die Eröffnung des Hauptverfahrens entschieden worden, weshalb die Verletzung des Beschleunigungsgebots auf der Hand liege. Die [X.] erscheine völlig überlastet. Es sei ferner nicht mit dem Beschleunigungsgebot in Einklang zu bringen, dass (nur) für den Fall eines Geständnisses Termine für eine Hauptverhandlung angeboten worden seien. Der Haftbefehl sei auch deshalb aufzuheben, weil der Beschwerdeführer nach dem ärztlichen Gutachten sofort eine Rehabilitationsmaßnahme durchführen müsse.

16. Mit dem angefochtenen Beschluss vom 19. April 2012 ordnete das [X.] die Fortdauer der Untersuchungshaft an. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit sei wegen der hohen Straferwartung gewahrt. Eine den Ermittlungsbehörden zuzurechnende Verfahrensverzögerung liege angesichts der besonderen Schwierigkeit und des Umfangs der Sache bis zur Anklageerhebung nicht vor. Auch sei seit der letzten [X.]entscheidung keine Verzögerung eingetreten. Die Äußerungen der Verteidiger zu dem Gespräch vom 23. März 2012 stünden noch aus. Nach dem Herzinfarkt des Beschwerdeführers werde derzeit, um mögliche für Mai/Juni 2012 angedachte [X.] bestimmen zu können, durch die landesgerichtsärztliche Dienststelle geprüft, ob und gegebenenfalls wann der Beschwerdeführer sich einer Rehabilitationsmaßnahme unterziehen müsse.

Diese Entscheidung ist dem Verteidiger des Beschwerdeführers am 25. April 2012 zugegangen.

II.

Gegen die dritte [X.]entscheidung hat der Beschwerdeführer mit einem am 25. Mai 2012 eingereichten Schriftsatz Verfassungsbeschwerde erhoben und einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gestellt. Er rügt eine Verletzung seiner Grundrechte aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG in Verbindung mit Art. 2 Abs. 1 GG und Art. 20 Abs. 3 GG.

Die angefochtene Entscheidung weise nicht die für [X.]entscheidungen zu fordernde Begründungstiefe auf. Die deutliche Überschreitung der [X.] werde nur mit dem Hinweis auf den elf Bände umfassenden Aktenumfang gerechtfertigt.

Das [X.] habe auch die aus dem Beschleunigungsgebot folgenden Anforderungen nicht beachtet. Danach seien an den zügigen Fortgang eines Verfahrens umso strengere Anforderungen zu stellen, je länger die Untersuchungshaft andauere. Hier sei die [X.] um mehr als das Doppelte überschritten und nach wie vor nicht erkennbar, dass die Kammer ernsthaft bemüht wäre, einen Eröffnungsbeschluss zu erlassen und einen Hauptverhandlungstermin zu bestimmen. Das Schreiben der [X.] vom 12. April 2012 erwecke den Eindruck, dass dies erst nach Ankündigung eines Geständnisses erfolgen werde. Es sei jedoch verfassungswidrig, einen seit mehr als einem halben Jahr in Untersuchungshaft befindlichen Angeschuldigten dadurch zu einem Geständnis zu drängen, dass die [X.] einen zeitnahen Verhandlungstermin von einem Geständnis abhängig mache.

Die Strafverfolgungsbehörden hätten zudem nicht wie erforderlich nachgewiesen, alles in ihrer Macht Stehende getan zu haben, um so schnell wie möglich eine gerichtliche Entscheidung über die dem Beschwerdeführer zur Last gelegten Taten herbeizuführen.

III.

1. Nach Zustellung der Verfassungsbeschwerde hat das [X.] [X.] im Rahmen der vierten besonderen Haftprüfung mit Beschluss vom 18. Juli 2012 den Haftbefehl des [X.]s [X.] vom 23. März 2012 aufgehoben.

Bis zur vorangegangenen Haftprüfung sei das Verfahren noch sachgerecht gefördert worden. Der Senat sei - wie die [X.] - davon ausgegangen, die Hauptverhandlung werde Ende Mai/Anfang Juni beginnen. Obwohl Ende Mai alle für eine vorausschauende Terminplanung erforderlichen Informationen vorgelegen hätten, sei das Hauptverfahren zwar am 4. Juli 2012 eröffnet und die Anklage zur Hauptverhandlung zugelassen worden. Eine Bestimmung des [X.] sei gleichwohl noch nicht erfolgt. Wegen der somit nach dem Erörterungstermin vom 26. März nicht erfolgten "hauptverhandlungszentrierten Förderung des Verfahrens" sei die Aufhebung des Haftbefehls geboten.

2. Der Beschwerdeführer hält trotz der Aufhebung des Haftbefehls an seiner gegen die dritte [X.]entscheidung des [X.]s [X.] gerichteten Verfassungsbeschwerde fest.

3. Das [X.] hat von einer Stellungnahme abgesehen.

Dem [X.] haben die Akten des Ausgangsverfahrens vorgelegen.

B.

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 [X.] genannten Rechte angezeigt ist (§ 93b [X.]. § 93a Abs. 2 Buchstabe b [X.]). Die Voraussetzungen des § 93c Abs. 1 Satz 1 [X.] für eine der Verfassungsbeschwerde stattgebende Entscheidung der Kammer sind gegeben. Die maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen hat das [X.] bereits entschieden.

Auch wenn der Beschwerdeführer infolge der zwischenzeitlichen Aufhebung des Haftbefehls durch den angefochtenen dritten [X.] vom 19. April 2012 nicht mehr gegenwärtig beschwert ist, bleibt die Verfassungsbeschwerde weiter zulässig. Denn im Hinblick auf das mit einer Freiheitsentziehung als schwerwiegendem Grundrechtseingriff verbundene [X.] besteht unter den hier gegebenen Umständen ein Rechtsschutzbedürfnis für die - auch nachträgliche - Feststellung der Verfassungswidrigkeit fort (vgl. [X.] 104, 220 <234 ff.>; [X.]K 6, 303 <309>; [X.], Beschluss der [X.] des Zweiten Senats vom 4. Mai 2011 - 2 BvR 2781/10 -, juris, Rn. 11).

Bei der Anordnung und Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft ist das Spannungsverhältnis zwischen dem in Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG gewährleisteten Recht des Einzelnen auf persönliche Freiheit und den unabweisbaren Bedürfnissen einer wirksamen Strafverfolgung zu beachten. Grundsätzlich darf nur einem rechtskräftig Verurteilten die Freiheit entzogen werden. Der Entzug der Freiheit eines der Straftat lediglich Verdächtigen ist wegen der Unschuldsvermutung, die ihre Wurzel im Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3 GG hat und auch in Art. 6 Abs. 2 [X.] ausdrücklich hervorgehoben ist (vgl. [X.] 19, 342 <347>; 74, 358 <370 f.>), nur ausnahmsweise zulässig. Dabei muss den vom Standpunkt der Strafverfolgung aus erforderlich und zweckmäßig erscheinenden Freiheitsbeschränkungen der Freiheitsanspruch des noch nicht rechtskräftig verurteilten Beschuldigten als Korrektiv gegenübergestellt werden, wobei dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit eine maßgebliche Bedeutung zukommt (vgl. grundlegend [X.] 19, 342 <347> sowie [X.] 20, 45 <49 f.>; 36, 264 <270>; 53, 152 <158 f.>; [X.]K 15, 474 <479>).

Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ist nicht nur für die Anordnung, sondern auch für die Dauer der Untersuchungshaft von Bedeutung. Das Gewicht des Freiheitsanspruchs vergrößert sich gegenüber dem Interesse an einer wirksamen Strafverfolgung regelmäßig mit zunehmender Dauer der Untersuchungshaft (vgl. [X.] 36, 264 <270>; 53, 152 <158 f.>). Daraus folgt, dass die Anforderungen an die [X.] in einer Haftsache mit der Dauer der Untersuchungshaft steigen. Zum anderen nehmen auch die Anforderungen an den die [X.] rechtfertigenden Grund zu (vgl. [X.]K 7, 140 <161>; 15, 474 <480>).

Dieser Beschleunigungsgrundsatz in [X.] verlangt, dass die Strafverfolgungsbehörden und Strafgerichte alle möglichen und zumutbaren Maßnahmen ergreifen, um die notwendigen Ermittlungen mit der gebotenen Schnelligkeit abzuschließen und eine gerichtliche Entscheidung über die einem Beschuldigten vorgeworfenen Taten herbeizuführen, denn zur Durchführung eines geordneten Strafverfahrens und zur Sicherstellung der Strafvollstreckung kann die Untersuchungshaft dann nicht mehr als notwendig anerkannt werden, wenn ihre Fortdauer durch vermeidbare Verzögerungen verursacht ist. Von dem Beschuldigten nicht zu vertretende, sachlich nicht gerechtfertigte und vermeidbare Verfahrensverzögerungen stehen daher regelmäßig einer weiteren Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft entgegen (vgl. [X.]K 15, 474 <480>; m.w.N.).

Der Beschleunigungsgrundsatz beansprucht auch für das Zwischenverfahren nach den §§ 199 ff. StPO Geltung. Auch in diesem Stadium muss das Verfahren mit der gebotenen Zügigkeit gefördert werden, um im Falle der Entscheidungsreife über die Zulassung der Anklage zur Hauptverhandlung zu beschließen (vgl. [X.], Beschluss der [X.] des Zweiten Senats vom 4. Mai 2011 - 2 BvR 2781/10 -, juris, Rn. 15) und anschließend im Regelfall innerhalb von weiteren drei Monaten mit der Hauptverhandlung zu beginnen (vgl. [X.]K 10, 294 <307>).

Im Rahmen der Abwägung zwischen dem Freiheitsanspruch des Betroffenen und dem Strafverfolgungsinteresse der Allgemeinheit kommt es in erster Linie auf die durch objektive Kriterien bestimmte Angemessenheit der Verfahrensdauer an, die u. a. von der Komplexität der Rechtssache, der Vielzahl der beteiligten Personen oder dem Verhalten der Verteidigung abhängig sein kann. Dies macht eine auf den Einzelfall bezogene Prüfung des [X.] erforderlich. An dessen zügigen Fortgang sind dabei umso strengere Anforderungen zu stellen, je länger die Untersuchungshaft schon andauert. Dieser Gedanke liegt auch der Regelung des § 121 StPO zugrunde, der bestimmt, dass der Vollzug der Untersuchungshaft vor Ergehen eines Urteils wegen derselben Tat über sechs Monate hinaus nur aufrechterhalten werden darf, wenn die besondere Schwierigkeit oder der besondere Umfang der Ermittlungen oder ein anderer wichtiger Grund den Erlass des Urteils noch nicht zugelassen haben und die Fortdauer der Haft rechtfertigen. Wie sich aus Wortlaut und Entstehungsgeschichte ergibt, handelt es sich dabei um eng begrenzte Ausnahmetatbestände (vgl. [X.], Beschluss der [X.] des Zweiten Senats vom 4. Mai 2011 - 2 BvR 2781/10 -, juris, Rn. 13; m.w.N.).

Ferner ist zu berücksichtigen, dass der Grundrechtsschutz auch durch die Verfahrensgestaltung zu bewirken ist (vgl. hierzu [X.] 53, 30 <65>; 63, 131 <143>). Das Verfahren der Haftprüfung und Haftbeschwerde muss deshalb so ausgestaltet sein, dass nicht die Gefahr einer Entwertung der materiellen Grundrechtsposition aus Art. 2 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 104 GG besteht. Dem ist vor allem durch erhöhte Anforderungen an die Begründungstiefe von [X.]entscheidungen Rechnung zu tragen (vgl. [X.] 103, 21 <35 f.>). Die mit [X.] betrauten Gerichte haben sich bei der zu treffenden Entscheidung über die Fortdauer der Untersuchungshaft mit deren Voraussetzungen eingehend auseinanderzusetzen und diese entsprechend zu begründen. In der Regel sind in jedem Beschluss über die Anordnung der Fortdauer der Untersuchungshaft aktuelle Ausführungen zu dem weiteren Vorliegen ihrer Voraussetzungen, zur Abwägung zwischen dem Freiheitsgrundrecht des Beschuldigten und dem Strafverfolgungsinteresse der Allgemeinheit sowie zur Frage der Verhältnismäßigkeit geboten, weil sich die dafür maßgeblichen Umstände angesichts des Zeitablaufs in ihrer Gewichtigkeit verschieben können (vgl. [X.]K 7, 140 <161>; 10, 294 <301>; 15, 474 <481>).

Die zugehörigen Ausführungen müssen in Inhalt und Umfang eine Überprüfung des [X.] am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht nur für den Betroffenen selbst, sondern auch für das die Anordnung treffende Fachgericht im Rahmen einer Eigenkontrolle gewährleisten und in sich schlüssig und nachvollziehbar sein (vgl. [X.]K 7, 421 <429 f.>; 8, 1 <5>; 15, 474 <481 f.>).

Diesen sich aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG ergebenden Anforderungen wird die mit der Verfassungsbeschwerde angegriffene Entscheidung des [X.]s [X.] vom 19. April 2012, welche die Fortdauer der zu diesem Zeitpunkt seit 13 Monaten andauernden Untersuchungshaft zum [X.] anordnete, nicht gerecht.

1. Der angegriffene Beschluss verkennt, dass für das Zwischenverfahren schon im Monat April 2012 vermeidbare und der Justiz zurechenbare Verfahrensverzögerungen festzustellen waren. Diese standen der Fortdauer der Untersuchungshaft unter Berücksichtigung der wertsetzenden Bedeutung des Grundrechts auf Freiheit der Person aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG zum Zeitpunkt der dritten Haftprüfungsentscheidung entgegen (vgl. [X.], Beschluss der [X.] des Zweiten Senats vom 4. Mai 2011 - 2 BvR 2781/10 -, juris, Rn. 14).

a) So ist bereits kein Grund erkennbar, weshalb nach dem am 31. Oktober 2011 erfolgten Eingang der Anklageschrift erst mehr als zwei Wochen später - am 15. November 2011 - die erste gerichtliche Verfügung getroffen worden ist.

b) Eine weitere nicht dem Beschwerdeführer anzulastende Verzögerung ist dadurch entstanden, dass die [X.] ein vom Verteidiger des Mitangeklagten am 9. Dezember 2011 eingegangenes Gesuch auf Akteneinsicht erst am 23. Dezember 2011 positiv beschied und die Akteneinsicht dann tatsächlich erst am 12. Januar 2012 - und damit einen Monat nach Antragstellung - ermöglicht wurde.

c) Eine offensichtliche Verzögerung ist schließlich darin zu sehen, dass die [X.] bis zur angefochtenen [X.]entscheidung trotz seit längerem bestehender Entscheidungsreife noch nicht die Eröffnung des Hauptverfahrens beschlossen und keinen Termin zur Hauptverhandlung anberaumt hatte; auch deshalb ist das Zwischenverfahren nicht mit der zu erwartenden Zügigkeit gefördert worden, um alsbald eine Entscheidung über die Zulassung der Anklage zur Hauptverhandlung herbeizuführen.

Auch wenn das Ausgangsverfahren angesichts der Komplexität der dem Beschwerdeführer zur Last gelegten Steuerstraftaten und der Vielzahl der beteiligten Personen eine überdurchschnittliche Schwierigkeit aufweisen mag, rechtfertigt dies allein nicht, im Zwischenverfahren anstehende Entscheidungen nicht mit der gebotenen Beschleunigung zu treffen. Hinzu kommt, dass sich die [X.] in ihren Vorlagebeschlüssen nicht auf eine besondere Schwierigkeit berufen hat. Sie hat auch sonst nicht dargelegt, aus welchen Gründen sie an einer rechtzeitigen Beschlussfassung über die Eröffnung des Hauptverfahrens gehindert gewesen ist. Von Seiten der Verteidigung sind zu keinem Zeitpunkt Einwendungen gegen die Eröffnung des Hauptverfahrens erhoben oder nach § 202 StPO Beweisanträge gestellt worden, die auf die Förderung des Verfahrens und einen zeitnahen Eröffnungsbeschluss hätten Einfluss nehmen können.

Spätestens nach Ablauf der dem Verteidiger des Mitangeklagten bis Anfang Februar 2012 gewährten [X.] hätte über die Eröffnung des Hauptverfahrens entschieden werden können. Dies ist unterblieben, obwohl sich der Beschwerdeführer zu diesem Zeitpunkt schon seit fast einem Jahr in Untersuchungshaft befand. Das Bestreben, den Angeklagten zu einer Verständigung zu bewegen, kann offenkundig die Verzögerung einer Entscheidung über die Eröffnung des Hauptverfahrens nicht rechtfertigen.

2. Der Bevollmächtigte hatte in seinem am 18. April 2012 beim [X.] eingegangenen Schriftsatz das mit den Beteiligten geführte [X.] erwähnt und darauf hingewiesen, dass seitens des [X.]s (nur) für den Fall eines Geständnisses Termine für eine Hauptverhandlung angeboten würden. Dem hätte das [X.] nachgehen müssen. Dann wäre ihm das Schreiben des [X.]vorsitzenden vom 12. April 2012 bekannt geworden, dessen Inhalt es bei verständiger Würdigung nahe legt, dass sachfremde Erwägungen für die Vorgehensweise das [X.]s - Förderung des Verfahrens erst nach zustimmender Äußerung zur "angedachten Verständigung" - eine Rolle gespielt haben.

III.

Gemäß § 95 Abs. 1 Satz 1 [X.] ist die Verletzung von Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 GG durch das [X.] festzustellen.

Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 [X.].

Der nach § 37 Abs. 2 RVG festzusetzende Gegenstandswert für die anwaltliche Tätigkeit im [X.] beträgt mindestens 4.000 Euro und, wenn - wie hier - die Verfassungsbeschwerde aufgrund einer Entscheidung der Kammer Erfolg hat, in der Regel 8.000 Euro. Weder die objektive Bedeutung der Sache noch Umfang und Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit weisen Besonderheiten auf, die zu einer Abweichung Anlass geben.

Meta

2 BvR 1164/12

14.11.2012

Bundesverfassungsgericht 2. Senat 3. Kammer

Stattgebender Kammerbeschluss

Sachgebiet: BvR

vorgehend OLG Nürnberg, 19. April 2012, Az: 1 Ws 197/12 H, Beschluss

Art 2 Abs 2 S 2 GG, Art 20 Abs 3 GG, § 93c Abs 1 S 1 BVerfGG, § 37 Abs 2 RVG, § 119 StPO, § 120 StPO, § 121 StPO

Zitier­vorschlag: Bundesverfassungsgericht, Stattgebender Kammerbeschluss vom 14.11.2012, Az. 2 BvR 1164/12 (REWIS RS 2012, 1432)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2012, 1432

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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