Bundesverfassungsgericht, Stattgebender Kammerbeschluss vom 22.01.2014, Az. 2 BvR 2248/13, 2 BvR 2301/13

2. Senat 3. Kammer | REWIS RS 2014, 8523

Foto: © Bundesverfassungsgericht │ foto USW. Uwe Stohrer, Freiburg

Tags hinzufügen

Sie können dem Inhalt selbst Schlagworten zuordnen. Geben Sie hierfür jeweils ein Schlagwort ein und drücken danach auf sichern, bevor Sie ggf. ein neues Schlagwort eingeben.

Beispiele: "Befangenheit", "Revision", "Ablehnung eines Richters"

QR-Code

Gegenstand

Teilweise stattgebender Kammerbeschluss: Anforderungen des Beschleunigungsgrundsatzes in Haftsachen im Zwischenverfahren (§§ 119 ff StPO) - Unzureichend begründeter Haftfortdauerbeschluss verletzt Freiheitsgrundrecht von Untersuchungsgefangenen - Verzögerte Eröffnung des Hauptverfahrens trotz bereits längerdauernder Untersuchungshaft - Gegenstandswertfestsetzung


Tenor

Die Verfahren werden zur gemeinsamen Entscheidung verbunden.

Der Beschluss des [X.] vom 30. September 2013 - 3 Ws 734 - 737/13 [X.] - verletzt die Beschwerdeführer jeweils in ihrem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 2 Satz 2 des Grundgesetzes.

Der Beschluss des [X.] wird aufgehoben. Die Sache wird an das [X.] zurückverwiesen.

Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers zu 2. nicht zur Entscheidung angenommen.

Damit erledigen sich die Anträge auf Erlass einstweiliger Anordnungen.

Der [X.] hat den Beschwerdeführern ihre notwendigen Auslagen zu erstatten.

Der Wert des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit wird auf jeweils 10.000 € (in Worten: zehntausend Euro) festgesetzt.

Gründe

A.

1

Die Beschwerdeführer wenden sich mit der Verfassungsbeschwerde gegen die vom [X.] am 30. September 2013 nach §§ 121, 122 StPO getroffene - zweite - [X.]entscheidung.

I.

2

1. Das [X.] erließ gegen die Beschwerdeführer am 13. November 2012 auf Antrag der Staatsanwaltschaft [X.] auf Flucht- und Verdunkelungsgefahr gestützte Haftbefehlsanordnungen, gegen die sich mit der Verfassungsbeschwerde allein der Beschwerdeführer zu 2. wendet. Die Beschwerdeführer seien dringend verdächtig, als verantwortlich Handelnde einer Handelsgesellschaft im Rahmen eines europaweit angelegten [X.]s (geschätzter Gesamtschaden über 100 Millionen Euro) Mitglieder einer kriminellen Vereinigung und hierbei zwischen Mai 2011 und Juli 2012 unter anderem in 14 Fällen an einer bandenmäßigen Umsatzsteuerhinterziehung mit einem unmittelbar selbst verursachten Schaden von ungefähr 1,7 Millionen Euro beteiligt gewesen zu sein.

3

Der Beschwerdeführer zu 1. befindet sich im [X.] an eine bis zum 2/3-Zeitpunkt vollstreckte Strafe von vier Jahren und sechs Monaten seit dem 25. September 2013 in Untersuchungshaft; zuvor war seit dem 28. November 2012 Überhaft notiert. Der gegen den Beschwerdeführer zu 2. gerichtete Haftbefehl wird seit dem 28. November 2012 vollstreckt.

4

2. Unter dem 24. Juni 2013 erhob die Staatsanwaltschaft wegen weitgehend unverändert gebliebener Tatvorwürfe mit einer 120 Seiten umfassenden Schrift Anklage gegen die Beschwerdeführer und drei weitere Mitangeklagte.

5

Am 26. Juni 2013 veranlasste die [X.] die - am 1. und 2. Juli 2013 erfolgte - Zustellung der Anklageschrift an die Beschwerdeführer und räumte eine Frist von vier Wochen ein, um Beweiserhebungen zu beantragen oder Einwendungen gegen die Eröffnung des Hauptverfahrens vorzubringen. Ferner bat sie auf Anregung der Staatsanwaltschaft eine andere [X.] um Prüfung, ob das Verfahren wegen [X.] mit einem anderen dort anhängigen Verfahren verbunden werden könne. Dies lehnte deren Vorsitzender unter dem 28. Juni 2013 mit dem Hinweis auf die Ende Juli 2013 gegen acht Angeklagte beginnende Hauptverhandlung ab.

6

3. Das [X.] München ordnete im Rahmen des nach §§ 121, 122 StPO notwendigen Haftprüfungsverfahren am 26. Juni 2013 erstmals die [X.] an. Der Strafsenat stellte fest, dass dem Beschleunigungsgebot entsprochen worden sei. Angesichts der komplexen Ermittlungen sei die Fortdauer der Untersuchungshaft noch gerechtfertigt. Die [X.] hätten anlässlich der bei über 160 Objekten europaweit erfolgten Durchsuchungen insbesondere große Mengen Unterlagen und Datenträger sicherstellen können, die wegen Auslandsbezuges zum Teil eine Sichtung mit Übersetzung erfordert hätten. Insgesamt werde gegen 113 Personen ermittelt, davon befänden sich 33 Beschuldigte in Untersuchungshaft. In Anbetracht der unmittelbar bevorstehenden Anklageerhebung - dem Senat war die nur zwei Tage zuvor erfolgte Anklageerhebung noch nicht bekannt - könne mit einem zügigen Fortgang des Verfahrens und seinem Abschluss innerhalb angemessener Frist gerechnet werden.

7

4. Mit unbeantwortet gebliebenen Schreiben vom 25. Juli und 8. August 2013 bat die Verteidigerin des Beschwerdeführers zu 1. die [X.] um Mitteilung, wann für den Fall der Eröffnung des Hauptverfahrens Termine für die Hauptverhandlung bestimmt würden.

8

5. Mit Beschluss vom 4. September 2013 hielt die [X.] die Fortdauer der Untersuchungshaft für erforderlich und legte die Sache dem [X.] zur Prüfung nach §§ 121, 122 StPO vor. Das [X.] führte zum Fortgang des Verfahrens nach Anklageerhebung lediglich aus, dass mit der am 26. Juni 2013 veranlassten Zustellung der Anklage eine vierwöchige Äußerungsfrist eingeräumt, jedoch noch nicht über die Eröffnung des Hauptverfahrens entschieden worden sei. Ferner sei sie nach Abwägung des jeweiligen Freiheitsanspruches der Beschwerdeführer mit den Belangen effektiver Strafverfolgung zu dem Ergebnis gelangt, dass die [X.] insbesondere vor dem Umfang des Verfahrens und der Straferwartung als verhältnismäßig zu bewerten sei.

9

6. Nachdem die Generalstaatsanwaltschaft mit ihrem Vorlagebericht vom 13. September 2013 die [X.] beantragt hatte, nahm die Bevollmächtigte des Beschwerdeführers zu 1. mit Schreiben vom 19. September 2013 Stellung. Ihren auf Aufhebung des Haftbefehls gerichteten Antrag begründete sie mit einem Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot. Die Ausführungen der Staatsanwaltschaft ließen nicht erkennen, was die [X.] seit Anklageerhebung unternommen habe, um das Verfahren zügig weiter zu betreiben. Der Beschwerdeführer habe es nicht zu vertreten, dass es noch nicht zu einer Hauptverhandlung gekommen sei. Die Vorsitzende der [X.] habe ihr am 5. Juli 2013 telefonisch mitgeteilt, eine Hauptverhandlung könne erst stattfinden, wenn ein anderes Verfahren abgeschlossen sei. Dies widerspreche der Rechtsprechung des [X.], nach der im Falle der Entscheidungsreife über die Eröffnung des Hauptverfahrens im Regelfall innerhalb von drei Monaten mit der Hauptverhandlung zu beginnen sei. Ferner weise der Beschluss der [X.] nicht die für eine [X.]entscheidung erforderliche Begründungstiefe auf.

7. Der Bevollmächtigte des Beschwerdeführers zu 2. beantragte unter dem 20. September 2013 ebenfalls die Aufhebung des Haftbefehls. Es sei mit dem Beschleunigungsgrundsatz unvereinbar, dass die [X.] trotz vorliegender [X.] nicht über die Eröffnung des Hauptverfahrens entscheide und frühestens im Frühjahr 2014 mit der Hauptverhandlung beginnen wolle. Diesen einer Überlastung geschuldeten Zeitpunkt habe ihm die Vorsitzende der [X.] am 9. Juli 2013 in einem Telefonat mitgeteilt. Danach müsse die Kammer zunächst ein Ende September 2013 mit vorerst 49 Verhandlungstagen beginnendes Verfahren abschließen. Eine daraus folgende Überlastung der [X.] könne die [X.] nicht rechtfertigen.

8. Mit einem am 18. September 2013 um 8.56 Uhr allein an die [X.] versandten [X.] hatte der Strafsenat diese "zur Vorbereitung der Haftprüfungsentscheidung" um Mitteilung gebeten, ob bereits damit begonnen worden sei, für den Fall der Eröffnung des Hauptverfahrens mögliche Hauptverhandlungstermine mit den Verteidigern abzustimmen. Hierauf antwortete die [X.] mit [X.] vom 18. September 2013 und teilte mit, dass dies am selben Tag für mögliche Sitzungen zwischen dem 1. Februar und dem 30. April 2014 erfolgt sei. Frühere Termine stünden im Hinblick auf zwei andere Verfahren, die aus demselben Tatkomplex stammten und sich vom zeitlichen Umfang her nur sehr schwer prognostizieren ließen, nicht zur Verfügung.

9. Mit seiner von beiden Beschwerdeführern angefochtenen Entscheidung vom 30. September 2013 ordnete das [X.] die [X.] an. Es sei weiterhin nicht gegen das Beschleunigungsgebot verstoßen worden. Die [X.] habe zwar noch nicht über die Eröffnung des Hauptverfahrens entschieden, jedoch die Verteidiger gebeten, für den Fall der Eröffnung Verhinderungen an möglichen Sitzungstagen zwischen dem 1. Februar und dem 30. April 2014 mitzuteilen. Im Hinblick auf die außergewöhnliche Komplexität des Verfahrens und die dem Senat bekannt hohe Belastung der [X.] mit weiteren Haftverfahren aus dem Komplex "[X.]" sei ein Beginn der Hauptverhandlung im Februar 2014 noch hinzunehmen.

II.

Gegen die zweite [X.]entscheidung haben die Beschwerdeführer jeweils fristgerecht Verfassungsbeschwerde erhoben und Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gestellt. Beide rügen eine Verletzung ihrer Grundrechte aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG, der Beschwerdeführer zu 2. macht ferner eine Verletzung des aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG folgenden Anspruchs auf ein faires Verfahren geltend.

1. Der Beschwerdeführer zu 1. meint, die Entscheidung des [X.]s stehe nicht im Einklang mit der Rechtsprechung des [X.] zum Beschleunigungsgebot. Es sei nicht hinnehmbar, dass er nach Anklageerhebung weitere acht Monate bis zum Beginn der Hauptverhandlung warten müsse. Die Belastung der [X.] könne den Eingriff in sein Freiheitsrecht nicht rechtfertigen. Die Justiz hätte eine aufgrund der Vielzahl von Verfahren aus dem Komplex "[X.]" eintretende Belastung frühzeitig erkennen und durch Gründung von Hilfsstrafkammern Abhilfe schaffen können. Die Fachgerichte hätten keine Begründung dargetan, weshalb trotz der Ende Juli abgelaufenen [X.] - innerhalb deren die Beschwerdeführer weder Einwendungen erhoben noch die Erhebung von Beweisen beantragt hatten - bis zur Einlegung der Verfassungsbeschwerde noch nicht über die Eröffnung des Hauptverfahrens entschieden worden sei. Spätestens mit der am 4. September 2013 getroffenen [X.] hätte die [X.] auch über die Eröffnung entscheiden müssen, weil der für die Fortdauer bejahte dringende Tatverdacht den für die Eröffnung erforderlichen hinreichenden Tatverdacht umfasse. Ferner verhalte sich das [X.] nicht zur Frage der Verhältnismäßigkeit.

2. Der Beschwerdeführer zu 2. rügt mit im Wesentlichen gleicher Begründung ebenfalls eine Verletzung des Beschleunigungsgrundsatzes und eine mangelnde Begründungstiefe der Entscheidung des [X.]s.

Die äußerst knappe Begründung des [X.]s lasse jegliche Abwägung zwischen dem Freiheitsgrundrecht des Beschwerdeführers und dem Strafverfolgungsinteresse der Allgemeinheit sowie Ausführungen zur Verhältnismäßigkeit vermissen und entspreche nicht den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Begründungstiefe von [X.]entscheidungen.

III.

1. Mit Beschluss vom 14. November 2013 ließ die [X.] die Anklage unverändert zur Hauptverhandlung zu, eröffnete das Hauptverfahren und ordnete die [X.] an. Unter dem 20. November 2013 erfolgte die Ladung zum Hauptverhandlungsbeginn am 3. Februar 2014. Für den Zeitraum bis zum 21. Mai 2014 wurden weitere 23 Sitzungstage terminiert.

2. Das [X.] hat mit Schreiben vom 25. November 2013 zu den [X.] Stellung genommen und diese für unbegründet erachtet.

Der Beschwerdeführer zu 1. habe sich bis zum Zeitpunkt der Entscheidung des [X.]s erst seit fünf Tagen in Untersuchungshaft befunden.

In beiden Fällen liege kein Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot vor. Weder zum 30. Juli noch am 4. September 2013 habe [X.] vorgelegen, weil der Verteidiger eines Mitangeklagten unter dem 8. Juli 2013 eine zweimonatige Fristverlängerung beantragt habe, die die [X.] gewährt habe. Nach Ansicht des Ministeriums ist die [X.] daher erst am 2. Oktober 2013 und damit nach der [X.]entscheidung eingetreten.

Die [X.] sei zu jeder Zeit um eine zügige Sachbehandlung bemüht gewesen. Bereits mit Verfügung vom 18. September 2013 - und damit vor Eintritt der [X.] - habe das Gericht die Verteidiger vorsorglich gebeten, etwaige Terminverhinderungen zwischen Februar und April 2014 mitzuteilen. Stelle man auf den 2. Oktober 2013 als frühestmöglichen Zeitpunkt der [X.] ab, so betrage der Zeitraum bis zum Hauptverhandlungsbeginn circa vier Monate. In einer Gesamtschau und unter Berücksichtigung der bereits anberaumten 24 Verhandlungstage könne keine erhebliche Verfahrensverzögerung angenommen werden.

Die [X.]entscheidung weise auch die verfassungsrechtlich gebotene Begründungstiefe auf. Der Strafsenat habe die besondere Komplexität des Verfahrens und die hohe Belastung des [X.]s dargelegt und sei auf die durch die [X.] erfolgte Verfahrensförderung eingegangen.

3. Der [X.] hält die [X.] in seinen Stellungnahmen vom 2. Dezember 2013 ebenfalls für unbegründet.

Das in [X.] zu beachtende Beschleunigungsgebot sei nicht verletzt worden. Bis zur [X.]entscheidung des [X.]s sei dem Verfahren von der [X.] jederzeit zügig Fortgang gegeben worden. Das Gericht habe die Anklage unverzüglich zugestellt und eine angemessene [X.] eingeräumt. Ein Verstoß könne auch nicht dadurch angenommen werden, dass die Kammer nicht bereits mit der Beschlussfassung am 4. September, sondern erst am 18. September 2013 bei den Verteidigern eine Anfrage zu möglichen Verhandlungsterminen vorgenommen habe. Für diese Zeitspanne würden verfahrensbezogene Ursachen, wie etwa [X.], denkbar naheliegen. Zum Zeitpunkt der [X.]entscheidung des [X.]s hätten die Antworten der Verteidiger noch nicht vorgelegen, so dass eine Terminierung noch nicht möglich gewesen sei. Eine Eröffnungsentscheidung am 4. September hätte das Verfahren nicht gefördert, weil die Kammer zunächst die Verhandlungstermine hätte abstimmen müssen, was bis zur Entscheidung durch das [X.] nicht erreicht worden sei.

Im Übrigen könne es in komplexen Fällen - wie vorliegend - nicht allein darauf ankommen, wann ein Eröffnungsbeschluss hätte ergehen können, sondern die Aktivitäten des Gerichts zur Vorbereitung der Hauptverhandlung seien insgesamt zu würdigen.

Die Begründung der [X.]entscheidung sei verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Die [X.] enthielten jedenfalls in ihrem Zusammenhang eine ausreichende Abwägung der widerstreitenden Interessen.

4. Dem [X.] haben die nach Anklageerhebung fortgeführten Akten des Ausgangsverfahrens vorgelegen.

B.

1. Die Kammer nimmt die gegen den Beschluss des [X.]s München vom 30. September 2013 gerichteten [X.] zur Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 [X.] genannten Rechte angezeigt ist (§ 93b [X.]. § 93a Abs. 2 Buchstabe b [X.]).

Die Voraussetzungen des § 93c Abs. 1 Satz 1 [X.] für eine den [X.] stattgebende Entscheidung der Kammer sind gegeben. Die maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen hat das [X.] bereits entschieden.

2. Die gegen den Haftbefehl des Amtsgerichts [X.] vom 13. November 2012 gerichtete Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers zu 2. nimmt das [X.] nicht zur Entscheidung an. Von einer Begründung wird insoweit abgesehen (§ 93d Abs. 1 Satz 3 [X.]).

3. Damit erledigen sich die Anträge auf Erlass einstweiliger Anordnungen.

I.

1. Bei der Anordnung und Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft ist das Spannungsverhältnis zwischen dem in Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG gewährleisteten Recht des Einzelnen auf persönliche Freiheit und den unabweisbaren Bedürfnissen einer wirksamen Strafverfolgung zu beachten. Grundsätzlich darf nur einem rechtskräftig Verurteilten die Freiheit entzogen werden. Der Entzug der Freiheit eines der Straftat lediglich Verdächtigen ist wegen der Unschuldsvermutung, die ihre Wurzel im Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3 GG hat und auch in Art. 6 Abs. 2 [X.] ausdrücklich hervorgehoben ist (vgl. [X.] 19, 342 <347>; 74, 358 <370 f.>), nur ausnahmsweise zulässig. Dabei muss den vom Standpunkt der Strafverfolgung aus erforderlich und zweckmäßig erscheinenden Freiheitsbeschränkungen der Freiheitsanspruch des noch nicht rechtskräftig verurteilten Beschuldigten als Korrektiv gegenübergestellt werden, wobei dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit eine maßgebliche Bedeutung zukommt (vgl. grundlegend [X.] 19, 342 <347> sowie [X.] 20, 45 <49 f.>; 36, 264 <270>; 53, 152 <158 f.>; [X.], 474 <479>).

a) Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ist nicht nur für die Anordnung, sondern auch für die Dauer der Untersuchungshaft von Bedeutung. Das Gewicht des Freiheitsanspruchs vergrößert sich gegenüber dem Interesse an einer wirksamen Strafverfolgung regelmäßig mit zunehmender Dauer der Untersuchungshaft (vgl. [X.] 36, 264 <270>; 53, 152 <158 f.>). Daraus folgt, dass die Anforderungen an die [X.] in einer Haftsache mit der Dauer der Untersuchungshaft steigen. Zum anderen nehmen auch die Anforderungen an den die [X.] rechtfertigenden Grund zu (vgl. [X.], 140 <161>; 15, 474 <480>; 19, 428 <433>).

Der Beschleunigungsgrundsatz in [X.] verlangt, dass die Strafverfolgungsbehörden und Strafgerichte alle möglichen und zumutbaren Maßnahmen ergreifen, um die notwendigen Ermittlungen mit der gebotenen Schnelligkeit abzuschließen und eine gerichtliche Entscheidung über die einem Beschuldigten vorgeworfenen Taten herbeizuführen, denn zur Durchführung eines geordneten Strafverfahrens und zur Sicherstellung der Strafvollstreckung kann die Untersuchungshaft dann nicht mehr als notwendig anerkannt werden, wenn ihre Fortdauer durch vermeidbare Verzögerungen verursacht ist. Von dem Beschuldigten nicht zu vertretende, sachlich nicht gerechtfertigte und vermeidbare Verfahrensverzögerungen stehen daher regelmäßig einer weiteren Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft entgegen (vgl. [X.], 474 <480>; m.w.N.).

b) Der Beschleunigungsgrundsatz beansprucht auch für das Zwischenverfahren nach den §§ 199 ff. StPO Geltung. Auch in diesem Stadium muss das Verfahren mit der gebotenen Zügigkeit gefördert werden, um im Falle der Entscheidungsreife über die Zulassung der Anklage zur Hauptverhandlung zu beschließen (vgl. [X.], Beschluss der [X.] des Zweiten Senats vom 4. Mai 2011 - 2 BvR 2781/10 -, juris, Rn. 15) und anschließend im Regelfall innerhalb von weiteren drei Monaten mit der Hauptverhandlung zu beginnen (vgl. [X.], Beschluss der [X.] des Zweiten Senats vom 14. November 2012 - 2 BvR 1164/12 -, juris, Rn. 43).

c) Das Beschleunigungsgebot findet grundsätzlich ungeachtet der geringeren Eingriffswirkung auch dann Anwendung, wenn ein Haftbefehl wegen Strafhaft in anderer Sache nicht vollzogen wird und lediglich Überhaft vermerkt ist. Auch die Überhaft ist auf das sachlich vertretbare Mindestmaß zu beschränken; sie stellt einen Grundrechtseingriff für den Betroffenen dar, weil sich für diesen aus Gründen des Haftrechts Einschränkungen ergeben, wenn neben Strafhaft Untersuchungshaft angeordnet wird (vgl. [X.]K 14, 157 <164>).

d) Im Rahmen der Abwägung zwischen dem Freiheitsanspruch des Betroffenen und dem Strafverfolgungsinteresse der Allgemeinheit kommt es in erster Linie auf die durch objektive Kriterien bestimmte Angemessenheit der Verfahrensdauer an, die unter anderem von der Komplexität der Rechtssache, der Vielzahl der beteiligten Personen oder dem Verhalten der Verteidigung abhängig sein kann. Dies macht eine auf den Einzelfall bezogene Prüfung des [X.] erforderlich. An dessen zügigen Fortgang sind dabei umso strengere Anforderungen zu stellen, je länger die Untersuchungshaft schon andauert. Dieser Gedanke liegt auch der Regelung des § 121 StPO zugrunde, der bestimmt, dass der Vollzug der Untersuchungshaft vor Ergehen eines Urteils wegen derselben Tat über sechs Monate hinaus nur aufrechterhalten werden darf, wenn die besondere Schwierigkeit oder der besondere Umfang der Ermittlungen oder ein anderer wichtiger Grund den Erlass des Urteils noch nicht zugelassen haben und die Fortdauer der Haft rechtfertigen. Wie sich aus Wortlaut und Entstehungsgeschichte ergibt, handelt es sich dabei um eng begrenzte Ausnahmetatbestände (vgl. [X.], Beschluss der [X.] des Zweiten Senats vom 4. Mai 2011 - 2 BvR 2781/10 -, juris, Rn. 13; m.w.N.).

2. Ferner ist zu berücksichtigen, dass der Grundrechtsschutz auch durch die Verfahrensgestaltung zu bewirken ist (vgl. hierzu [X.] 53, 30 <65>; 63, 131 <143>). Das Verfahren der Haftprüfung und Haftbeschwerde muss deshalb so ausgestaltet sein, dass nicht die Gefahr einer Entwertung der materiellen Grundrechtsposition aus Art. 2 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 104 GG besteht. Dem ist vor allem durch erhöhte Anforderungen an die Begründungstiefe von [X.]entscheidungen Rechnung zu tragen (vgl. [X.] 103, 21 <35 f.>). Die mit [X.] betrauten Gerichte haben sich bei der zu treffenden Entscheidung über die Fortdauer der Untersuchungshaft mit deren Voraussetzungen eingehend auseinanderzusetzen und diese entsprechend zu begründen. In der Regel sind in jedem Beschluss über die Anordnung der Fortdauer der Untersuchungshaft aktuelle Ausführungen zu dem weiteren Vorliegen ihrer Voraussetzungen, zur Abwägung zwischen dem Freiheitsgrundrecht des Beschuldigten und dem Strafverfolgungsinteresse der Allgemeinheit sowie zur Frage der Verhältnismäßigkeit geboten, weil sich die dafür maßgeblichen Umstände angesichts des Zeitablaufs in ihrer Gewichtigkeit verschieben können (vgl. [X.], 140 <161>; 10, 294 <301>; 15, 474 <481>; 19, 428 <433>).

Die zugehörigen Ausführungen müssen in Inhalt und Umfang eine Überprüfung des [X.] am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht nur für den Betroffenen selbst, sondern auch für das die Anordnung treffende Fachgericht im Rahmen einer Eigenkontrolle gewährleisten und in sich schlüssig und nachvollziehbar sein (vgl. [X.], 421 <429 f.>; 8, 1 <5>; 15, 474 <481 f.>).

II.

Diesen sich aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG ergebenden Anforderungen wird der mit der Verfassungsbeschwerde angegriffene Beschluss des [X.]s, welcher die Fortdauer der zu diesem Zeitpunkt seit annähernd zehn Monaten andauernden Untersuchungshaft zum [X.] anordnete, nicht gerecht. Es fehlt jedenfalls an der gebotenen Begründungstiefe der Entscheidung.

Bereits der Vorlagebeschluss der [X.] vom 4. September 2013 enthält keine Ausführungen, die eine [X.]anordnung tragfähig begründen könnten. Erst recht erfüllt der angegriffene Beschluss des [X.]s nicht die erhöhten Anforderungen an die Begründungstiefe von [X.]entscheidungen, weil er eine ausreichende Abwägung zwischen dem Freiheitsanspruch des Beschwerdeführers und dem staatlichen [X.] lässt. Insbesondere sind in die Abwägung nicht alle maßgeblichen Umstände einbezogen worden.

1. Der Strafsenat hat sich nicht damit auseinandergesetzt, ob das Zwischenverfahren deshalb nicht mit der zu erwartenden Zügigkeit gefördert worden ist, weil die [X.] bis zur angefochtenen [X.]entscheidung trotz seit längerem bestehender Entscheidungsreife noch nicht die Eröffnung des Hauptverfahrens beschlossen hatte.

Selbst wenn das Ausgangsverfahren angesichts der Komplexität der den Beschwerdeführern zur Last gelegten Steuerstraftaten und der Vielzahl der beteiligten Personen eine überdurchschnittliche Schwierigkeit aufweisen mag, rechtfertigt dies allein es nicht, im Zwischenverfahren anstehende Entscheidungen nicht mit der gebotenen Beschleunigung zu treffen.

In diesem Zusammenhang hätte der Strafsenat in den Blick nehmen müssen, dass das [X.] sich in seinem Vorlagebeschluss vom 4. September 2013 nicht auf eine besondere Schwierigkeit berufen hatte. Es hat auch sonst nicht einmal ansatzweise dargelegt, aus welchen Gründen es sich an einer rechtzeitigen Beschlussfassung über die Eröffnung des Hauptverfahrens gehindert sah. Von Seiten der Beschwerdeführer sind jedenfalls zu keinem Zeitpunkt Einwendungen gegen die Eröffnung des Hauptverfahrens erhoben oder nach § 202 StPO Beweisanträge gestellt worden, die auf die Förderung des Verfahrens und einen zeitnahen Eröffnungsbeschluss hätten Einfluss nehmen können. Soweit das [X.] in seiner Stellungnahme auf die einem Verteidiger eines Mitangeklagten gewährte Fristverlängerung von zwei Monaten hinweist, führt die [X.] auch diesen Umstand nicht als Grund für eine Verzögerung an.

Es ist somit nicht ersichtlich, weshalb die [X.] nicht nach Ablauf der den Verteidigern bis Ende Juli 2013 gewährten [X.] oder jedenfalls spätestens mit der [X.] am 4. September 2013 über die Eröffnung des Hauptverfahrens entscheiden konnte. Vielmehr ist diese Entscheidung unterblieben, obwohl sich die Beschwerdeführer zu diesem Zeitpunkt seit annähernd acht Monaten in Untersuchungshaft befanden.

2. Der Strafsenat führt zum Beleg der gerichtlichen Tätigkeit im Zwischenverfahren allein den Umstand an, die [X.] habe die Verteidiger gebeten, für den Fall der Eröffnung des Hauptverfahrens etwaige Terminverhinderungen zwischen dem 1. Februar und 30. April 2014 mitzuteilen. Dies erfolgte erst am 18. September 2013, wobei aufgrund des zeitlichen Ablaufs die Annahme naheliegt, dass zwischen der Abfrage der Kammer und der Faxanfrage des Strafsenats vom selben Tag ein unmittelbarer Zusammenhang bestand und die Kammer allein deshalb eine entsprechende Tätigkeit entfaltet hatte. Das [X.] hätte jedoch schon im [X.] an die Anfang Juli 2013 mit den beiden Verteidigern geführten Telefonate eine [X.] vornehmen können. Weitere Gelegenheiten nutzte die Kammer ebenfalls nicht, nachdem die Bevollmächtigte des Beschwerdeführers zu 1. am 25. Juli und 8. August 2013 schriftlich um die Mitteilung gebeten hatte, wann im Falle der Eröffnung Termine bestimmt würden.

3. Überdies setzt sich der Strafsenat im Zusammenhang mit der von ihm - nicht jedoch vom [X.] im Vorlagebeschluss - angeführten hohen Belastung der [X.] nicht mit dem Vorbringen der Beschwerdeführer auseinander. Danach war für die Justiz bereits Mitte 2012 der Umfang des [X.] erkennbar und daher vorhersehbar, dass die vorhandenen Wirtschaftsstrafkammern des [X.]s nicht in der Lage sein würden, die einzelnen [X.] in angemessener Zeit durch Urteil abzuschließen.

III.

Gemäß § 95 Abs. 1 Satz 1 [X.] ist die Verletzung von Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG durch das [X.] festzustellen.

Der Beschluss ist unter Zurückverweisung der Sache an das [X.] aufzuheben (§ 93c Abs. 2 [X.]. § 95 Abs. 2 [X.]). Dieses wird unter Beachtung der vorstehenden Ausführungen erneut über die Beschwerde der Beschwerdeführer zu entscheiden haben.

Die Entscheidungen über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 [X.]. Da der hinsichtlich des Beschwerdeführers zu 2. nicht zur Entscheidung angenommene Teil der Verfassungsbeschwerde von untergeordneter Bedeutung ist, sind auch ihm die Auslagen in vollem Umfang zu erstatten (vgl. [X.] 86, 90 <122>).

Der nach § 37 Abs. 2 RVG festzusetzende Gegenstandswert für die anwaltliche Tätigkeit im [X.] beträgt mindestens 5.000 € und, wenn - wie hier - die Verfassungsbeschwerde aufgrund einer Entscheidung der Kammer Erfolg hat, in der Regel 10.000 €. Weder die objektive Bedeutung der Sache noch Umfang und Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit weisen Besonderheiten auf, die zu einer Abweichung Anlass geben.

Meta

2 BvR 2248/13, 2 BvR 2301/13

22.01.2014

Bundesverfassungsgericht 2. Senat 3. Kammer

Stattgebender Kammerbeschluss

Sachgebiet: BvR

vorgehend OLG München, 30. September 2013, Az: 3 Ws 734/13 H, Beschluss

Art 2 Abs 2 S 2 GG, § 93c Abs 1 S 1 BVerfGG, § 37 Abs 2 RVG, §§ 199ff StPO, § 121 StPO, § 122 StPO, § 199 StPO, § 203 StPO

Zitier­vorschlag: Bundesverfassungsgericht, Stattgebender Kammerbeschluss vom 22.01.2014, Az. 2 BvR 2248/13, 2 BvR 2301/13 (REWIS RS 2014, 8523)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2014, 8523

Auf dem Handy öffnen Auf Mobilgerät öffnen.


Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

Ähnliche Entscheidungen

2 BvR 1457/14 (Bundesverfassungsgericht)

Stattgebender Kammerbeschluss: Arbeitsbelastung einer Strafkammer kann Haftfortdauer grundsätzlich nicht rechtfertigen - Sowie zu den Begründungsanforderungen …


2 BvR 2128/20 (Bundesverfassungsgericht)

Stattgebender Kammerbeschluss: Zum Beschleunigungsgrundsatz im Zwischenverfahren gem §§ 199ff StPO - hier: Fortdauer bereits lang …


2 BvR 2781/10 (Bundesverfassungsgericht)

Teilweise stattgebender Kammerbeschluss: Verzögerte Eröffnung des Hauptverfahrens trotz dringenden Tatverdachts verletzt Untersuchungshäftling in Freiheitsgrundrecht - …


2 BvR 2090/19 (Bundesverfassungsgericht)

Stattgebender Kammerbeschluss: Fortdauer bereits lang andauernder Untersuchungshaft ohne hinreichende Rechtfertigung verletzt Betroffenen in Grundrecht aus …


2 BvR 1164/12 (Bundesverfassungsgericht)

Stattgebender Kammerbeschluss: Verletzung von Art 2 Abs 2 S 2 GG durch Aufrechterhaltung von Untersuchungshaft …


Referenzen
Wird zitiert von

Keine Referenz gefunden.

Zitiert

2 BvR 2781/10

2 BvR 1164/12

Zitieren mit Quelle:
x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.