Bundesverfassungsgericht, Stattgebender Kammerbeschluss vom 16.01.2020, Az. 2 BvR 252/19

2. Senat 3. Kammer | REWIS RS 2020, 2625

Foto: © Bundesverfassungsgericht │ foto USW. Uwe Stohrer, Freiburg

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Gegenstand

Stattgebender Kammerbeschluss: Weisungsverstoß (§ 56f Abs 1 S 1 Nr 2 StGB) indiziert nicht ohne weiteres negative Kriminalprognose - Bewährungswiderruf gem § 56f Abs 1 S 1 Nr 2 StGB ohne hinreichende Tatsachenfeststellungen sowie ohne erneute Prognose verletzt Betroffenen in Grundrechten aus Art 2 Abs 2 S 2 GG iVm 104 Abs 1 GG, Art 20 Abs 3 GG - Gegenstandswertfestsetzung


Tenor

Der Beschluss des [X.] vom 5. Dezember 2018 - [X.] - und der Beschluss des [X.] vom 11. Januar 2019 - 3 [X.] - verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 2 Satz 2 in Verbindung mit Artikel 104 Absatz 1 Satz 1 und Artikel 20 Absatz 3 des Grundgesetzes.

Der Beschluss des [X.] vom 5. Dezember 2018 - [X.] - und der Beschluss des [X.] vom 11. Januar 2019 - 3 [X.] - werden aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung an das [X.] zurückverwiesen.

Der [X.] hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten.

Der Wert des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit wird auf 12.500 Euro (in Worten: zwölftausendfünfhundert Euro) festgesetzt.

Gründe

1

Die Verfassungsbeschwerde betrifft den Widerruf einer Strafaussetzung zur Bewährung wegen gröblichen und beharrlichen Verstoßes gegen eine Weisung.

2

1. a) Der aufgrund unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln im Jahr 2015 vorbestrafte Beschwerdeführer wurde mit Urteil des [X.] vom 24. August 2017 wegen des vorsätzlichen unerlaubten Erwerbs von Betäubungsmitteln in 32 Fällen, in 15 Fällen jeweils in Tateinheit mit vorsätzlichem unerlaubtem Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in Tatmehrheit mit zwei Fällen des unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge jeweils in Tateinheit mit vorsätzlichem unerlaubtem Handeltreiben mit Betäubungsmitteln zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und acht Monaten verurteilt, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde.

3

b) Mit [X.] vom 24. August 2017 setzte das [X.] die Bewährungszeit auf drei Jahre fest und erteilte dem Beschwerdeführer die Auflage, eine Summe von insgesamt 1.000 Euro an eine Drogenhilfeeinrichtung zu zahlen. Ferner wies es ihn unter anderem an, auf Aufforderung des Gerichts unverzüglich auf eigene Kosten Urinproben abzugeben sowie jeden [X.] illegaler Drogen zu unterlassen.

4

2. Mit Beschluss vom 5. Dezember 2018 hat das [X.] die gewährte Strafaussetzung zur Bewährung widerrufen und die Vollstreckung der Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und acht Monaten angeordnet; die bisher erbrachten Leistungen von 1.000 Euro würden in Höhe von einem Monat gemäß § 56f Abs. 3 Satz 2 StGB auf die Strafe angerechnet. Zur Begründung des Widerrufs führte das Gericht unter Verweis auf § 56f Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StGB aus, der Beschwerdeführer habe die mit Beschluss vom 24. August 2017 erteilte Weisung, Urinproben zum Abstinenznachweis abzugeben, gröblich und beharrlich nicht erfüllt, was Anlass zur Besorgnis der Begehung neuer Straftaten gebe.

5

Der Beschwerdeführer habe keinen der fünf Termine für eine [X.] wahrgenommen. Er habe dies damit begründet, dass er als selbständiger Monteur für Photovoltaikanlagen im gesamten süddeutschen Raum unterwegs sei. Er erhalte die Arbeitstermine regelmäßig kurzfristig mitgeteilt und habe daher die ebenfalls kurzfristig angesetzten [X.] nicht wahrnehmen können. Im Anhörungstermin sei ihm ein Abwarten bis Ende Oktober für die nächste [X.] zugesagt worden. Den neuen Termin am 3. Dezember 2018 habe er dennoch nicht wahrgenommen, da er sich bis Ende des Jahres im Raum Freiburg aufhalte.

6

3. Mit Schriftsatz vom 14. Dezember 2018 legte der Beschwerdeführer sofortige Beschwerde gegen den Beschluss des Amtsgerichts ein. Ein gröblicher und beharrlicher [X.] liege nicht vor, da es ihm aus beruflichen Gründen nicht möglich gewesen sei, die Termine zur [X.] wahrzunehmen, und er diese nicht ohne unverzügliche Rückmeldung habe verstreichen lassen. Am Ende des Jahres sollte sich die Auftragslage wieder entspannen und könnten Termine zur [X.] vor Ort wahrgenommen werden. Gegebenenfalls bestünde auch die Möglichkeit, die [X.]n am jeweiligen Arbeitsort durchzuführen. Im Übrigen stünden weniger einschneidende Maßnahmen als der [X.], wie beispielsweise die Verlängerung der Bewährungszeit, zur Verfügung.

7

4. Mit Beschluss vom 11. Januar 2019 hat das [X.] die sofortige Beschwerde als unbegründet verworfen. Das Beschwerdevorbringen entkräfte die Begründung der angefochtenen Entscheidung nicht. Das [X.] trete den Gründen der angefochtenen Entscheidung bei. Ganz am Rande sei zu bemerken, dass die Erfüllung von Auflagen eben nicht unter dem Vorbehalt schlechter Auftragslage stehe.

8

5. Auf den Antrag des Beschwerdeführers auf Erlass einer einstweiligen Anordnung setzte die Kammer die Vollstreckung der Freiheitsstrafe aus dem Urteil des [X.] vom 24. August 2017 mit Beschluss vom 28. März 2019 einstweilen bis zur Entscheidung in der Hauptsache aus.

9

Mit seiner zusammen mit dem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung erhobenen Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer die Verletzung seines Rechts auf Freiheit der [X.] aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 GG. In den angegriffenen Beschlüssen werde bei der Anwendung einfachen Rechts den sich daraus ergebenden Maßstäben nicht Rechnung getragen. Nach diesen Maßstäben fehle es bereits an einem gröblichen und beharrlichen [X.] im Sinne von § 56f Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StGB. Außerdem folgere das Amtsgericht aus den aus beruflichen Gründen entschuldigt nicht wahrgenommenen Terminen, dass der Verdacht bestehe, der Beschwerdeführer werde weitere Straftaten begehen. Konkrete und objektivierbare Anhaltspunkte lege das Gericht hierfür aber nicht dar. Darüber hinaus bedeute der Widerruf eine unzumutbare Härte. Er gefährde insbesondere die berufliche Zukunft des Beschwerdeführers sowie die Lebensgrundlage seiner von ihm finanziell abhängigen Lebensgefährtin und deren Tochter. Schließlich gebe es mildere Mittel als den [X.] wie etwa die Verlängerung der Bewährungszeit. Das Problem der Terminfindung hätte sich dadurch lösen lassen, dass die Terminabsprachen mit dem Labor dem Beschwerdeführer überlassen, die Probenabgabe auch bei einem anderen Labor ermöglicht oder ein Termin zu einer vom Beschwerdeführer genannten [X.] vergeben worden wäre.

1. Das [X.] hat zu der Verfassungsbeschwerde Stellung genommen und hält diese für unbegründet.

Das [X.] habe sich in seinem Beschluss vom 5. Dezember 2018 mit den Voraussetzungen für einen [X.] nach § 56f Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StGB inhaltlich auseinandergesetzt. Dabei habe es insbesondere berücksichtigt, dass dem Beschwerdeführer insofern entgegengekommen worden sei, als ihm zuletzt ein Kontrolltermin auf den 3. Dezember 2018 und damit wunschgemäß in eine [X.] mit regelmäßig ruhigerer Auftragslage gelegt worden sei. Dennoch habe er den Termin nicht wahrgenommen. Im Ergebnis habe er keinen einzigen der insgesamt vier rechtzeitig bekannt gegebenen Termine wahrgenommen, wobei er die jeweils vorgetragenen beruflichen Gründe für die Absage der Termine im Widerspruchsverfahren zu keiner [X.] belegt habe.

Aufgrund des [X.] habe das [X.] auch annehmen dürfen, dass Anlass zur Besorgnis der Begehung neuer Straftaten bestehe. Aus verfassungsrechtlicher Sicht lasse zwar ein [X.] nicht ohne Weiteres Rückschlüsse auf eine negative kriminelle Prognose zu. Das Amtsgericht habe aber die erforderliche erneute Prognose gestellt. Diese sei im Einzelnen mit der Nichtwahrnehmung der angebotenen Kontrolltermine begründet worden. Gerade bei [X.] ließen Verstöße gegen eine Kontrollweisung im Regelfall besorgen, dass die verurteilte [X.] erneut Straftaten begehen werde. Der Zusammenhang zwischen einem entsprechenden [X.] und der spezifischen kriminellen Anfälligkeit sei in solchen Fällen offenkundig.

Ein milderes Mittel als der [X.] sei angesichts der vier versäumten Termine in vier Monaten nicht ersichtlich, zumal das Gericht nicht sofort nach der Anhörung den Widerruf ausgesprochen, sondern erst noch einmal dem Beschwerdeführer einen neuen Termin für eine Kontrolle gegeben hatte.

2. Der [X.] beim [X.] hatte ebenfalls Gelegenheit zur Stellungnahme. Er hält die Verfassungsbeschwerde für aussichtsreich.

a) Mit Blick auf die Maßstäbe der verfassungsrechtlichen Überprüfung fachgerichtlicher Entscheidungen verweist er darauf, dass der Gefahr einer Entwertung der materiellen Grundrechtsposition aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 GG vor allem durch erhöhte Anforderungen an die Begründungstiefe gerichtlicher Entscheidungen Rechnung zu tragen sei, die eine Überprüfung des [X.] gewährleisteten und in sich schlüssig sowie nachvollziehbar sein müssten.

b) Die angefochtenen Entscheidungen würden diesen Anforderungen nicht gerecht. Die Beschlüsse ließen die ausreichende Darlegung eines Widerrufsgrundes gemäß § 56f Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StGB vermissen und auch nicht erkennen, dass die Gerichte Alternativen zu einem [X.] im Sinne des § 56f Abs. 2 StGB konkret erwogen hätten.

aa) Für einen Widerruf nach § 56f Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StGB reiche es nicht aus, dass der Verurteilte beharrlich und gröblich gegen eine ihm erteilte Weisung verstoße; erforderlich sei vielmehr eine kausale Beziehung des Verstoßes zu der kriminellen Neigung oder Auffälligkeit des Verurteilten, um die Gefahr weiterer Straftaten zu untermauern. Die Fachgerichte hätten insofern unter Einbeziehung des Verhaltens des Verurteilten während der Bewährungszeit eine erneute Prognose zu stellen.

Das [X.] habe lediglich den Gesetzeswortlaut wiederholt, auf die Zahl der nicht wahrgenommenen Kontrolltermine hingewiesen und die Angaben des Beschwerdeführers zu seiner beruflichen Situation wiedergegeben. Damit sei schon das Tatbestandsmerkmal des gröblichen und beharrlichen [X.] nicht tragfähig begründet. Angesichts der Umstände der nicht erfolgten Wahrnehmung und der Verschiebung der verschiedenen Kontrolltermine sowie der erkennbaren Rücksichtnahme des Amtsgerichts auf die berufliche Situation des Beschwerdeführers wäre die subjektive Vorwerfbarkeit der Weisungsnichterfüllung durch das Gericht ausdrücklich darzulegen gewesen. Ferner fehle es an konkreten und objektivierbaren Anhaltspunkten für die Besorgnis, dass der Beschwerdeführer weitere Straftaten begehen werde. Das [X.] behebe die Mängel des amtsgerichtlichen Beschlusses nicht.

bb) Schließlich ließen die fachgerichtlichen Beschlüsse eine ernstliche Prüfung möglicher, die Inhaftierung vermeidender Alternativen im Sinne von § 56f Abs. 2 StGB nicht erkennen. Hierzu hätte schon deshalb Veranlassung bestanden, weil der Beschwerdeführer bereits im fachgerichtlichen Verfahren andere Modalitäten für die Durchführung der [X.]n erbeten und deren Durchführung am Ort seiner Berufstätigkeit auch vorgeschlagen hätte.

3. Dem [X.] haben die Ermittlungsakte und das [X.] der Staatsanwaltschaft [X.], [X.].: 301 Js 127386/16, vorgelegen.

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt. Das [X.] hat die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen bereits entschieden (§ 93c Abs. 1 Satz 1 [X.]). Die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist gemäß § 93a Abs. 2 Buchstabe b [X.] zur Durchsetzung des Grundrechts des Beschwerdeführers aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 GG angezeigt. Die Verfassungsbeschwerde ist im Sinne des § 93c Abs. 1 Satz 1 [X.] zulässig und offensichtlich begründet.

Die angegriffenen Beschlüsse des [X.] und des [X.]s [X.] verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG und Art. 20 Abs. 3 GG, weil sie den verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht genügen, die für den Widerruf einer Strafaussetzung zur Bewährung bestehen.

1. a) Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG gewährleistet jedermann die Freiheit der [X.] und nimmt einen hohen Rang unter den Grundrechten ein. Das kommt darin zum Ausdruck, dass Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG die Freiheit der [X.] als "unverletzlich" bezeichnet, Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG ihre Beschränkung nur aufgrund eines förmlichen Gesetzes zulässt und Art. 104 Abs. 2 bis 4 GG besondere Verfahrensgarantien für ihre Beschränkung statuiert (vgl. [X.] 35, 185 <190>; 109, 133 <157>; 128, 326 <372>; [X.], Beschlüsse der [X.] des Zweiten Senats vom 20. Dezember 2012 - 2 BvR 659/12 -, Rn. 17 und der [X.] des Zweiten Senats vom 7. Februar 2019 - 2 BvR 2406/16 -, Rn. 16). Dabei nimmt Art. 104 Abs. 1 GG den schon in Art. 2 Abs. 2 Satz 3 GG enthaltenen Gesetzesvorbehalt auf und verstärkt ihn, indem er für Freiheitsbeschränkungen über die Notwendigkeit eines förmlichen Gesetzes hinaus auch die Pflicht, die sich aus diesem Gesetz ergebenden freiheitsschützenden Anforderungen zu beachten, zum Verfassungsgebot erhebt (vgl. [X.] 29, 183 <195 f.>; 58, 208 <220>). Insoweit haben die gesetzlichen Eingriffstatbestände auch eine freiheitsgewährleistende Funktion, indem sie die Grenzen zulässiger Einschränkung der Freiheit der [X.] bestimmen (vgl. [X.] 70, 297 <307>; 126, 170 <195>; [X.], Beschluss der [X.] des Zweiten Senats vom 7. Februar 2019 - 2 BvR 2406/16 -, Rn. 17).

b) Neben einer gesetzlichen Grundlage fordert die freiheitssichernde Funktion des Art. 2 Abs. 2 GG und der Grundsatz des fairen, rechtsstaatlichen Verfahrens ein Mindestmaß an zuverlässiger Wahrheitserforschung (vgl. [X.] 57, 250 <275>). Dies gilt auch für die im Vollstreckungsverfahren zu treffenden Entscheidungen. Unverzichtbare Voraussetzung eines rechtsstaatlichen Verfahrens ist, dass Entscheidungen, die den Entzug der persönlichen Freiheit betreffen, auf zureichender richterlicher Sachaufklärung beruhen (vgl. [X.] 58, 208 <222>) und eine in tatsächlicher Hinsicht genügende Grundlage haben, die der Bedeutung der Freiheitsgarantie entspricht (vgl. [X.] 70, 297 <307>; vgl. insgesamt [X.], Beschluss der [X.] des Zweiten Senats vom 28. September 2010 - 2 BvR 1081/10 -, Rn. 17). Auch in denjenigen Verfahren, die dem sogenannten Freibeweis unterliegen, ist vom [X.] zu prüfen, ob die angegriffenen Entscheidungen dem Gebot bestmöglicher Sachaufklärung (vgl. [X.] 70, 297 <309>) genügen. Für den Fall des [X.]s nach § 56f Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StGB bedeutet dies, dass sich der [X.] um eine möglichst breite Tatsachenbasis bemühen und seine Entscheidung auf einen umfassend ermittelten Sachverhalt stützen muss (vgl. in Bezug auf § 56f Abs. 1 Nr. 3 StGB: [X.], Beschluss der [X.] des Zweiten Senats vom 28. September 2010 - 2 BvR 1081/10 -, Rn. 18 f.).

c) Der wertsetzenden Bedeutung des Grundrechts der Freiheit der [X.] aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 und 3 GG in Verbindung mit Art. 104 GG ist darüber hinaus durch erhöhte Anforderungen an die Begründungstiefe gerichtlicher Entscheidungen Rechnung zu tragen (vgl. [X.], Beschluss der [X.] des Zweiten Senats vom 16. März 2006 - 2 BvR 170/06 -, Rn. 32). Eine tragfähig begründete Entscheidung über einen [X.] setzt daher eine auf zureichender Sachaufklärung beruhende, in sich schlüssige und nachvollziehbare Feststellung der Widerrufsvoraussetzungen voraus; die bloße Wiedergabe des Gesetzeswortlauts genügt insoweit nicht (vgl. [X.] 103, 21 <36>).

d) Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gebietet, dass Eingriffe in das [X.] nur erfolgen, soweit dies unabweisbar notwendig ist und weniger belastende Maßnahmen nicht zur Verfügung stehen (vgl. [X.], Beschluss der [X.] des Zweiten Senats vom 7. Februar 2019 - 2 BvR 2406/16 -, Rn. 22). § 56f Abs. 2 StGB trägt dem für den Fall des [X.]s auf [X.] Rechnung. Auch insoweit ist im Rahmen der Widerrufsentscheidung den verfassungsrechtlichen Anforderungen an Sachverhaltsaufklärung und Begründungstiefe Rechnung zu tragen.

e) Bei der nach § 56f Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StGB zu treffenden Widerrufsentscheidung handelt es sich um die Auslegung und Anwendung einfachen Gesetzesrechts, die Sache der Strafgerichte ist. Die Feststellung und Würdigung des Tatbestands, die Auslegung des einfachen Rechts und seine Anwendung auf den einzelnen Fall sind grundsätzlich allein Sache der dafür allgemein zuständigen Gerichte und der Nachprüfung durch das [X.] entzogen; nur bei einer Verletzung von spezifischem Verfassungsrecht durch die Gerichte kann das [X.] auf eine Verfassungsbeschwerde hin eingreifen (vgl. [X.] 18, 85 <92 f.>; 34, 369 <379>). Die Fachgerichte haben bei der Auslegung und Anwendung von einfachem Recht den grundgesetzlichen Wertmaßstäben Rechnung zu tragen. Ihre Entscheidungen können nur darauf überprüft werden, ob sie Auslegungsfehler erkennen lassen, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung eines Grundrechts, insbesondere vom Umfang seines Schutzbereichs, beruhen. Das ist der Fall, wenn die von den Fachgerichten vorgenommene Auslegung der Norm die Tragweite des Grundrechts nicht hinreichend berücksichtigt oder im Ergebnis zu einer unverhältnismäßigen Einschränkung der grundrechtlichen Freiheit führt (vgl. [X.] 85, 248 <257 f.> m.w.N.).

2. Diesen Maßstäben halten die angegriffenen Beschlüsse des [X.] und des [X.]s [X.] nicht stand. Sie weisen die erforderliche Begründungstiefe nicht auf und tragen den Anforderungen des Grundsatzes bestmöglicher Sachaufklärung sowie des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes nicht Rechnung und verstoßen damit gegen Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG und Art. 20 Abs. 3 GG.

a) Den angegriffenen Beschlüssen kann bereits eine nachvollziehbare und auf einer ausreichenden Tatsachengrundlage beruhende Begründung eines gröblichen und beharrlichen [X.] im Sinne des § 56f Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StGB nicht entnommen werden.

aa) Ein gröblicher Verstoß ist die schuldhafte, nach objektivem Gewicht und Vorwerfbarkeit schwerwiegende Zuwiderhandlung gegen eine zulässige, dem Täter bekanntgemachte, hinreichend bestimmte Weisung. Für die Beharrlichkeit ist eine wiederholte Zuwiderhandlung in ablehnender Haltung gegen den Zweck der Weisung erforderlich; eine Abmahnung ist nicht unbedingt notwendig, aber die Beharrlichkeit ist ohne sie in der Regel nicht beweisbar (vgl. [X.], in: [X.], StGB, 29. Aufl. 2018, § 56f Rn. 6 m.w.N.; ähnlich [X.], in: [X.]/ [X.], StGB, 30. Aufl. 2019, § 56f Rn. 13 f.; für die Erforderlichkeit einer Abmahnung hingegen: [X.], in: Kindhäuser/[X.]/Paeffgen, StGB, 5. Aufl. 2017, § 56f Rn. 9). Lediglich wenn besondere Umstände wie beispielsweise ein Sich-Verbergen oder Flucht vorliegen, kann aus einem wiederholten Handeln ohne Weiteres auf eine endgültige Weigerung, die Weisung zu befolgen, geschlossen werden (vgl. [X.], in: [X.]/[X.], StGB, 30. Aufl. 2019, § 56f Rn. 14).

bb) Vor diesem Hintergrund vermögen die Feststellungen in den angegriffenen Beschlüssen die Annahme eines gröblichen und beharrlichen Verstoßes gegen die Weisung zur Abgabe von Urinproben nach gerichtlicher Aufforderung nicht zu begründen.

(1) Das [X.] trägt - trotz der durch den Beschwerdeführer in der Anhörung am 4. Oktober 2018, in der schriftlichen Stellungnahme vom selben Tag sowie in der sofortigen Beschwerde dargelegten Hintergründe der nicht erfolgten Terminwahrnehmung - keine Tatsachen vor, die die Schuldhaftigkeit des Handelns und insbesondere die ablehnende Haltung des Beschwerdeführers gegenüber dem Zweck der Weisung belegen.

Es beschränkt sich auf die Feststellung, dass der Beschwerdeführer keinen der fünf [X.] wahrgenommen habe. Sein Einwand, dass er aus beruflichen Gründen hieran gehindert gewesen sei, wird lediglich unkommentiert wiedergegeben. Ob die vom Beschwerdeführer behaupteten Terminkollisionen tatsächlich bestanden haben, wird durch das Amtsgericht nicht überprüft. Ebenso wenig ist es den Behauptungen des Beschwerdeführers nachgegangen, am 13. August 2018 erfolglos angeboten zu haben, die Urinprobe zu einer anderen Tageszeit durchzuführen, am 20. August 2018 vergeblich versucht zu haben, die Probe vor 11:00 Uhr abzugeben und am 17. September 2018 auf telefonische Anfrage vom Erscheinen zum Termin entbunden worden zu sein. Mit dem Vortrag des Beschwerdeführers, er habe sich immer im Vorfeld der [X.] entschuldigt, setzt das Amtsgericht sich in seinem angegriffenen Beschluss nicht auseinander.

Damit fehlt es aber sowohl an einer ausreichenden Tatsachengrundlage als auch an einer hinreichenden Begründung für die Annahme eines gröblichen und beharrlichen [X.]. Letztere wäre nicht zuletzt deshalb erforderlich gewesen, weil nicht ersichtlich ist, dass das Gericht den Beschwerdeführer ermahnt hat, den nächsten Termin einzuhalten, sondern mehrfach auf die Terminabsagen des Beschwerdeführers hin einfach einen neuen Termin vergeben hat.

(2) Das [X.] hat sich die Ausführungen des Amtsgerichts zu eigen gemacht und lediglich ergänzend darauf verwiesen, dass die Erfüllung von "Auflagen" nicht unter dem Vorbehalt einer schlechten Auftragslage stehe. Dies genügt nicht, um die festgestellten [X.] der amtsgerichtlichen Entscheidung auszugleichen.

b) Darüber hinaus fehlt es an der durch § 56f Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StGB geforderten neuen Prognose.

aa) Bereits der Wortlaut des Gesetzes stellt klar, dass allein der beharrliche und gröbliche Verstoß des Verurteilten gegen ihm erteilte Weisungen den Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung nicht rechtfertigt. Der [X.] ist keine Strafe für den [X.]. Maßgeblich ist nach allgemeiner Auffassung vielmehr, ob unter Berücksichtigung der gesamten Umstände der Verstoß zu der kriminellen Neigung oder Auffälligkeit des Verurteilten so in einer kausalen Beziehung steht, dass die Gefahr weiterer Straftaten besteht. Die Fachgerichte haben unter Einbeziehung des Verhaltens des Verurteilten während der Bewährungszeit eine erneute Prognose zu stellen (vgl. [X.], Beschluss der [X.] des Zweiten Senats vom 22. Juni 2007 - 2 BvR 1046/07 -, Rn. 16-19 m.w.N.).

bb) Die Feststellungen in den angegriffenen Beschlüssen tragen die Schlussfolgerung nicht, aufgrund des Verhaltens des Beschwerdeführers bestehe die Besorgnis, er werde neue Straftaten begehen. Das Amtsgericht hat lediglich darauf verwiesen, dass der Beschwerdeführer keinen der festgesetzten, insgesamt fünf Termine zur Abgabe einer Urinprobe wahrgenommen habe und sich im Übrigen in bloßer Wiederholung des Gesetzeswortlautes darauf beschränkt, festzustellen, dass dies Anlass zur Besorgnis der Begehung neuer Straftaten gebe. Das [X.] hat sich dem angeschlossen.

Der behauptete Verstoß gegen die Weisung zur Abgabe einer Urinprobe auf Aufforderung des Gerichts lässt aber nicht ohne Weiteres Rückschlüsse auf eine kriminelle Prognose zu (vgl. [X.], Beschluss der [X.] des Zweiten Senats vom 22. Juni 2007 - 2 BvR 1046/07 -, Rn. 21 m.w.N.). Die Terminverschiebungen als solche sind noch kein ausreichendes Indiz dafür, dass erneut Drogendelikte zu besorgen sind. Dies gilt umso mehr, als im vorliegenden Fall der Beschwerdeführer eine separate Weisung erhalten hat, keine illegalen Drogen mehr zu konsumieren. Einen Verstoß gegen diese Weisung macht das Amtsgericht aber weder geltend, noch verhält es sich überhaupt hierzu. Insbesondere benennt es weder objektive Anhaltspunkte für einen vermuteten neuen Drogenkonsum, noch trägt es Indizien für den Besitz von oder den Handel mit Drogen vor.

Auch ansonsten hat das Amtsgericht keine konkreten und objektivierbaren Anhaltspunkte dafür dargelegt, dass allein der behauptete [X.] Anlass zur Besorgnis gibt, der Beschwerdeführer werde weitere Straftaten begehen. Dem stehen bereits die vom Beschwerdeführer geltend gemachten und durch das Amtsgericht nicht aufgeklärten besonderen Umstände entgegen, aufgrund derer es zum Fernbleiben von den anberaumten [X.] gekommen sein soll.

c) Abgesehen davon setzen die Gerichte sich nicht hinreichend mit der Möglichkeit eines Absehens vom [X.] nach § 56f Abs. 2 StGB auseinander. Das Amtsgericht behauptet lediglich, dass eine Verlängerung der Bewährungszeit oder eine Erweiterung der Auflagen nicht ausreiche, und ein Widerruf der Bewährung auch dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entspreche. Eine inhaltliche Prüfung des § 56f Abs. 2 StGB erfolgt nicht, obwohl der Beschwerdeführer in seiner sofortigen Beschwerde ausdrücklich darauf hingewiesen hat, dass als milderes Mittel eine Verlängerung der Bewährungszeit in Frage käme.

Die Beschlüsse des [X.] und des [X.]s [X.] sind daher aufzuheben und die Sache an das [X.] zur erneuten Entscheidung zurückzuverweisen (§ 95 Abs. 2 [X.]).

Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen beruht auf § 34a Abs. 2 [X.].

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Meta

2 BvR 252/19

16.01.2020

Bundesverfassungsgericht 2. Senat 3. Kammer

Stattgebender Kammerbeschluss

Sachgebiet: BvR

vorgehend BVerfG, 28. März 2019, Az: 2 BvR 252/19, Einstweilige Anordnung

Art 2 Abs 2 S 2 GG, Art 20 Abs 3 GG, Art 104 Abs 1 GG, § 93c Abs 1 S 1 BVerfGG, § 56f Abs 1 S 1 Nr 2 StGB

Zitier­vorschlag: Bundesverfassungsgericht, Stattgebender Kammerbeschluss vom 16.01.2020, Az. 2 BvR 252/19 (REWIS RS 2020, 2625)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2020, 2625


Verfahrensgang

Der Verfahrensgang wurde anhand in unserer Datenbank vorhandener Rechtsprechung automatisch erkannt. Möglicherweise ist er unvollständig.

Az. 2 BvR 252/19

Bundesverfassungsgericht, 2 BvR 252/19, 16.01.2020.

Bundesverfassungsgericht, 2 BvR 252/19, 28.03.2019.


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