Bundesverfassungsgericht, Stattgebender Kammerbeschluss vom 20.06.2012, Az. 2 BvR 865/11

2. Senat 3. Kammer | REWIS RS 2012, 5424

Foto: © Bundesverfassungsgericht │ foto USW. Uwe Stohrer, Freiburg

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Gegenstand

Stattgebender Kammerbeschluss: Verweigerung von Vollzugslockerungen zugunsten eines im Maßregelvollzug Untergebrachten wegen fortbestehender Gefährlichkeit verletzt Betroffenen in grundrechtlich geschütztem Resozialisierungsanspruch (Art 2 Abs 1 GG iVm Art 1 Abs 1 GG) - zudem Verletzung des Rechtsschutzanspruchs (Art 19 Abs 4 GG) durch Zurückweisung von Rechtsmitteln


Tenor

Der Beschluss des [X.] vom 3. Dezember 2010 - 055 [X.] - verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 1 Absatz 1 des Grundgesetzes. Der Beschluss des [X.]vom 10. März 2011 - 1 Vollz ([X.]) 53/11 - verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 19 Absatz 4 des Grundgesetzes.

Die Beschlüsse werden aufgehoben. Die Sache wird an das [X.] zurückverwiesen.

...

Gründe

A.

1

Die Verfassungsbeschwerde des im Maßregelvollzug untergebrachten Beschwerdeführers betrifft die Versagung von [X.].

I.

2

1. Der wegen sexuellen Kindesmissbrauchs seit 1999 gemäß § 63 StGB untergebrachte Beschwerdeführer beantragte bei der Klinik die Gewährung nicht näher bezeichneter Lockerungen, da er dem Leben in Freiheit nicht völlig entfremdet werden dürfe und angesichts der Dauer seiner Unterbringung sein Anspruch auf Lockerungen in den Vordergrund trete.

3

Die Klinik lehnte den Antrag ab. Der Beschwerdeführer habe zu Beginn seiner Unterbringung wenige Gespräche mit dem therapeutischen Personal geführt und darin zu verstehen gegeben, dass er sich im Maßregelvollzug nicht richtig untergebracht fühle. Sobald seiner Argumentation nicht gefolgt worden sei, habe er die Gespräche abgebrochen. Mit Ausnahme einer Begutachtung habe er an gutachterlichen Untersuchungen nicht teilgenommen. Seit 2004 bestehe kein therapeutischer Kontakt mehr. Er schlafe tagsüber, sei nachts aktiv und weiche Gesprächen mit dem therapeutischen Personal aus. Zum pflegerischen Personal halte er den organisatorisch notwendigen Kontakt aufrecht und habe in den vergangenen Jahren sporadisch einige Gespräche mit diesem geführt. Aufgrund dieses Verhaltens lasse sich die Gefährlichkeit des Beschwerdeführers nicht einschätzen. Weil er aufgrund seiner Weigerung nicht behandelt worden sei, könne nur von einem Fortbestehen seiner Gefährlichkeit ausgegangen werden.

4

2. Den hiergegen erhobenen Widerspruch wies der Landesbeauftragte für den Maßregelvollzug [X.] zurück. Angesichts des Vollzugsverhaltens des Beschwerdeführers fehle es an einem Therapiebündnis. Die Klinik könne aufgrund der Verweigerungshaltung des Beschwerdeführers nur von seiner Gefährlichkeit ausgehen. Die Entscheidung über die Gewährung von Lockerungen hänge unter anderem von einem Therapieerfolg ab, an dem es bislang fehle. Die Verweigerung von Lockerungen sei auch angemessen, überwiege doch der Schutz der Allgemeinheit das Interesse des Beschwerdeführers an Lockerungen. Der Beschwerdeführer könne das Behandlungsangebot der Klinik in Anspruch nehmen, um sich im Wege einer Therapie zu bewähren und bei Erfolg entsprechende Lockerungen zu erhalten.

5

3. Der Beschwerdeführer stellte Antrag auf gerichtliche Entscheidung (§ 109 [X.]), gerichtet auf Gewährung von Lockerungen unter Aufhebung des Widerspruchsbescheids. Ein begleiteter Ausgang mit zwei Bediensteten, "hilfsweise sogar mit justizüblicher Fesselung", sei vertretbar. Die Klinik habe angesichts seiner inzwischen über elf Jahre andauernden Unterbringung durchaus die Gefährlichkeit des Beschwerdeführers einschätzen können. Zudem sei nicht nachvollziehbar, wie der als gefährlich eingestufte Beschwerdeführer auf einer Therapiestation und nicht auf der Krisen- oder [X.] untergebracht sein könne. Ohne Lockerungen, auf die der Beschwerdeführer angesichts der Dauer seiner Unterbringung einen Anspruch habe, werde er dem Leben in Freiheit völlig entfremdet. Die Vollzugseinrichtung dürfe sich nicht auf pauschale Wertungen oder den Hinweis auf eine Uneinschätzbarkeit des Untergebrachten beschränken.

6

Das [X.] wies den Antrag zurück. Da sich der Beschwerdeführer, bei dem eine sonstige spezifische Persönlichkeitsstörung, eine Neigung zur Pädophilie und eine Störung durch Cannabinoide festgestellt worden seien, seit 2004 jeglicher Therapie entziehe, keinen Kontakt zum therapeutischen Personal halte, tagsüber schlafe und nur nachts aktiv sei, seien therapeutische Gespräche mit ihm seit sechs Jahren nicht mehr möglich. Zum pflegerischen Personal halte er nur einen organisatorisch notwendigen Kontakt. Vereinzelte Gespräche stellten sich als Monolog des Beschwerdeführers dar. Mangels Behandlung fehle es aktuell an erkennbaren Therapieerfolgen, weswegen sich eine verringerte Gefährlichkeit des Beschwerdeführers nicht beurteilen lasse. Lockerungen ließen sich nicht als weiteres Mittel zur Erzielung von Behandlungserfolgen einsetzen, da sie unter Berücksichtigung des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit vom Erreichen erster Erfolge im Behandlungsverlauf abhingen. Es sei auch nicht erkennbar, dass der Beschwerdeführer über weitere Erkenntnismöglichkeiten verfüge, welche seine weitere Gefährlichkeit ausschlössen. Die [X.] sei verhältnismäßig, da aufgrund der bislang unbehandelten Erkrankung des Beschwerdeführers auch weiterhin die Begehung von Straftaten im Sinne des Anlassdeliktes zu befürchten sei. Dem stehe nicht entgegen, dass der Beschwerdeführer sich seit über zehn Jahren im Maßregelvollzug befinde. Denn die Dauer der Unterbringung allein könne ohne therapeutischen Fortschritt keine positive Entscheidung über die Lockerung begründen. Es sei zwar Ziel der Unterbringung, den Betroffenen zu resozialisieren; dies erfolge jedoch nicht durch "kalte" Erprobung im Wege der Gewährung von Lockerungen, sondern durch therapeutische Vorbereitung, Begleitung und Nachsorge. Soweit Untergebrachte keine Lockerungen erhalten könnten, hätten sie im Fall wichtiger Gründe einen Anspruch auf Ausführung durch die Vollzugsbehörde. Entsprechende Gründe habe der Beschwerdeführer aber nicht vorgetragen. Zudem sei insoweit das [X.] nicht durchgeführt worden.

7

4. Hiergegen erhob der Beschwerdeführer Rechtsbeschwerde mit der Sach- und der Verfahrensrüge. Das [X.] mache sich unter Verstoß gegen den Amtsermittlungsgrundsatz die Ausführungen in der Stellungnahme der Klinik und im Widerspruchsbescheid zu eigen. Die vom [X.] aufgeführten Persönlichkeitsstörungen lägen beim Beschwerdeführer nicht vor. Er gehe dem therapeutischen Personal auch nicht aus dem Weg. Die Behauptung, der Beschwerdeführer führe mit dem Personal nur sporadische und monologartige Gespräche, sei unzutreffend. Die Ablehnung von Lockerungen beruhe auf einer Verkennung des [X.]. Das [X.] habe nicht beachtet, dass die Gewährung von Lockerungen unabhängig davon geboten sein könne, ob der Untergebrachte Therapieangebote annimmt. Der Gutachter im Erkenntnisverfahren habe keine zu behandelnde Störung oder Erkrankung des Beschwerdeführers festgestellt, sondern dass die kriminelle Energie des Beschwerdeführers eher abnehme, weswegen eine Unterbringung des Beschwerdeführers nach § 63 StGB unverhältnismäßig sei. Der Beschwerdeführer sei nicht therapieresistent, sondern verweigere eine Therapie, weil er sicher wisse, dass er an keiner im Maßregelvollzug zu behandelnden Erkrankung oder Störung leide. Einem therapeutischen Konzept, das ihn befähigte, in Freiheit nicht erneut rückfällig zu werden, verweigere er sich nicht. Hierzu seien vielmehr die beantragten [X.] erforderlich.

8

Das [X.] verwarf mit angegriffenem Beschluss die Rechtsbeschwerde mit Tenorbegründung und ergänzte, dass die Klinikleitung, soweit der Beschwerdeführer künftig nicht näher spezifizierte Lockerungen beantrage, auf eine Konkretisierung der [X.] hinzuwirken haben dürfte, damit die gemäß § 18 Abs. 4 des [X.] Maßregelvollzugsgesetzes (im Folgenden: [X.]) erforderliche Prüfung erfolgen könne.

[X.]

9

1. Mit der fristgerecht erhobenen Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer die Verletzung seiner Rechte aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1, Art. 1 Abs. 3, Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 2 Satz 1 und Art. 19 Abs. 2 GG und wiederholt sinngemäß die im fachgerichtlichen Verfahren vorgebrachten Beanstandungen. Ergänzend trägt er unter anderem vor, dass er aufgrund einer massiven körperlichen Behinderung selbst ohne Handfesselung außerstande sei, zu fliehen. Im Übrigen trage er keinen dahingehenden Wunsch in sich. Er sei bei mehreren ärztlichen Ausführungen - gemeint wohl: Ausführungen zu Arztterminen - an "unzähligen Personen (hier auch Kindern)" vorbeigeführt worden, ohne dass dies die Sicherheit der Allgemeinheit gefährdet habe. Er könne nicht einmal das Grab seiner Mutter besuchen. Die Rechtsbeschwerde sei entgegen der Auffassung des [X.]s zulässig gewesen, um die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung zu ermöglichen.

2. Das Justizministerium des Landes [X.] hat dahingehend Stellung genommen, dass eine Gewährung von [X.] nicht möglich sei, weil es an jeglichem therapeutischen Kontakt zum Beschwerdeführer fehle und eine Risikoabschätzung im Hinblick auf den Schutz der Allgemeinheit daher nicht möglich sei. Wichtige Gründe im Sinne des § 18 Abs. 1 Nr. 5 [X.] seien weder vorgetragen noch ersichtlich. Auch der mit einer Begleitung des Beschwerdeführers verbundene [X.] rechtfertige nicht, bei der erforderlichen Abwägung der Rechte des Beschwerdeführers und der Rechte potentiell gefährdeter Personen von einem Überwiegen der Belange des Beschwerdeführers auszugehen.

B.

I.

Die Kammer nimmt die zulässige Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung der Grundrechte des Beschwerdeführers angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b [X.]). Die Voraussetzungen für eine stattgebende [X.] (§ 93c Abs. 1 [X.]) liegen vor. Die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen verfassungsrechtlichen Grundsätze sind in der Rechtsprechung des [X.] geklärt (s. unter [X.] 1. und 2.). Nach diesen Grundsätzen ist die Verfassungsbeschwerde in einem die Zuständigkeit der Kammer begründenden Sinn offensichtlich begründet.

[X.]

1. Der Beschluss des [X.]s verletzt das Grundrecht des Beschwerdeführers aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG.

a) Das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG verpflichtet den Staat, den Strafvollzug auf das Ziel auszurichten, dem Inhaftierten ein zukünftiges straffreies Leben in Freiheit zu ermöglichen (vgl. [X.] 116, 69 <85 f.> m.w.N.; stRspr). Besonders bei langjährig im Vollzug befindlichen Personen erfordert dies, aktiv den schädlichen Auswirkungen des Freiheitsentzuges entgegenzuwirken und ihre Lebenstüchtigkeit zu erhalten und zu festigen (vgl. [X.] 45, 187 <238>; 64, 261 <277>; 98, 169 <200>; 109, 133 <150 f.>). Der Gesetzgeber hat dementsprechend im Strafvollzugsgesetz auch dem Vollzug der lebenslangen Freiheitsstrafe ein Behandlungs- und Resozialisierungskonzept zugrundegelegt ([X.] 117, 71 <91>). Der Wiedereingliederung des Delinquenten dienen unter anderem die Vorschriften über [X.] (vgl. [X.], a.a.[X.], S. 92).

Besonders bei langjährig Inhaftierten ist es geboten, aktiv den schädlichen Auswirkungen des Freiheitsentzuges entgegenzuwirken und ihre Lebenstüchtigkeit zu erhalten und zu festigen (vgl. [X.] 45, 187 <238>; 64, 261 <277>; 98, 169 <200>; 109, 133 <150 f.>; [X.], Beschluss der [X.] des Zweiten Senats vom 13. Dezember 1997 - 2 BvR 1404/96 -, NJW 1998, S. 1133 <1133>; Beschlüsse der [X.] des Zweiten Senats vom 5. August 2010 - 2 BvR 729/08 -, [X.], S. 488 <490>, und vom 29. Februar 2012 - 2 BvR 368/10 -, juris). Hierfür kommt der Möglichkeit, dem Gefangenen Lockerungen zu gewähren, besondere Bedeutung zu. Auch einem zu lebenslanger Haft Verurteilten kann daher nicht jegliche Lockerungsperspektive mit der Begründung versagt werden, eine konkrete [X.] stehe noch aus (vgl. [X.]K 9, 231 <237>; [X.], Beschlüsse der [X.] des Zweiten Senats vom 5. August 2010 - 2 BvR 729/08 -, [X.], S. 488 <490>, und vom 29. Februar 2012 - 2 BvR 368/10 -, juris). Der Erhaltung der [X.] nicht nur Urlaub und Ausgänge, sondern - gerade bei Gefangenen, die die Voraussetzungen hierfür noch nicht erfüllen - auch Ausführungen (vgl. [X.], Beschlüsse der [X.] des Zweiten Senats vom 5. August 2010 - 2 BvR 729/08 -, [X.], S. 488 <490>, und vom 26. Oktober 2011 - 2 BvR 1539/09 -, juris). Bei langjährig Inhaftierten kann daher, auch wenn eine konkrete [X.] sich noch nicht abzeichnet und weitergehenden Lockerungen eine Flucht- oder Missbrauchsgefahr entgegensteht, zumindest die Gewährung von Lockerungen in Gestalt von Ausführungen geboten (vgl. [X.], Beschluss der [X.] des Zweiten Senats vom 10. September 2008 - 2 BvR 719/08 -, [X.], [X.]) und der damit verbundene personelle Aufwand hinzunehmen sein (vgl. [X.], Beschlüsse der [X.] des Zweiten Senats vom 5. August 2010 - 2 BvR 729/08 -, [X.], S. 488 <490>, und vom 29. Februar 2012 - 2 BvR 368/10 -, juris).

Für den Vollzug von Maßregeln, der nicht anders als der Strafvollzug im engeren Sinne auf das verfassungsrechtlich vorgegebene Ziel der sozialen Wiedereingliederungausgerichtet sein muss (vgl. [X.] 98, 169 <200 f.>; 109, 133 <151>; 128, 326 <377>), kann insoweit nichts anderes gelten. Dementsprechend sieht § 18 Abs. 1 Satz 3 [X.] vor, dass [X.]grundsätzlich der Erreichung des [X.]; zu diesem gehört nach § 1 Abs. 1 Satz 1 [X.] die Eingliederung des Untergebrachten in die Gemeinschaft.

b) Den daraus sich ergebenden Anforderungen an die gerichtliche Überprüfung der vollzugsbehördlichen Entscheidung wird der angegriffene Beschluss des [X.]s nicht gerecht, soweit er die Versagung von Lockerungen uneingeschränkt, und damit auch hinsichtlich bloßer Ausführungen, als rechtmäßig bestätigt. Der Beschluss des [X.]s verhält sich mit keinem Wort zu der Frage, weshalb die [X.] auch bei Ausführungen trotz der damit verbundenen und verbindbaren Sicherungsvorkehrungen nicht gegeben sein sollen.

Die bei einer Ausführung nach § 18 Abs. 2 Nr. 1 [X.]. 1 [X.] vorgesehene Begleitung des Untergebrachten (vgl. Landtag [X.], Drucks 12/3728, [X.]) dient gerade dem Zweck, einer von ihm ausgehenden Flucht- und Missbrauchsgefahr entgegenzuwirken, die bei fehlender Begleitung entstünde. Die allgemeine - nicht nach [X.] differenzierende - Feststellung einer Flucht- oder Missbrauchsgefahr ist daher für sich genommen grundsätzlich ungeeignet, zu begründen, dass die angenommene Gefahr auch im Fall der Ausführung besteht (vgl. zu einer beantragten Ausführung unter Fesselung Beschluss der [X.] des Zweiten Senats vom 26. Oktober 2011 - 2 BvR 1539/09 -, juris). Zwar kann im Einzelfall - etwa wenn auf eine bereits zuvor erfolgte Entziehung des betreffenden Untergebrachten aus bestehender Bewachung verwiesen wird - ohne nähere Ausführungen auf der Hand liegen, dass die geltend gemachte Gefahr mit vertretbarem [X.] nicht auszuräumen ist. Die Annahme einer aus solchen Gründen bestehenden Flucht- oder Missbrauchsgefahr mag dann ohne weiteres auch auf den Fall der Ausführung in Begleitung von Bediensteten zu beziehen und geeignet sein, die Versagung von Lockerungen auch insoweit zu rechtfertigen. Ein derartiger Fall unwidersprechlicher, auf nähere Begründung nicht angewiesener Evidenz, dass die angenommene Flucht- und Missbrauchsgefahr auch durch die bei Ausführungen vorgesehene Bewachung nicht auszuschließen sein werde, lag hier jedoch nicht vor. Die von der Klinik für die Versagung jeglicher Lockerungen allein angeführten allgemeinen Gründe drängten eine entsprechende Schlussfolgerung nicht ansatzweise auf.

2. Die angegriffene Entscheidung des [X.]s verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 19 Abs. 4 GG.

a) Art. 19 Abs. 4 GG gewährleistet effektiven und möglichst lückenlosen richterlichen Rechtsschutz gegen Akte der öffentlichen Gewalt (vgl. [X.] 67, 43 <58>; stRspr). Dabei fordert Art. 19 Abs. 4 GG keinen Instanzenzug. Eröffnet das Prozessrecht aber eine weitere Instanz, so gewährleistet Art. 19 Abs. 4 GG dem Bürger auch insoweit eine wirksame gerichtliche Kontrolle (vgl. [X.] 40, 272 <274 f.>; 54, 94 <96 f.>; 122, 248 <271>; stRspr). Die Rechtsmittelgerichte dürfen ein von der jeweiligen Rechtsordnung eröffnetes Rechtsmittel nicht durch die Art und Weise, in der sie die gesetzlichen Voraussetzungen für den Zugang zu einer Sachentscheidung auslegen und anwenden, ineffektiv machen und für den Beschwerdeführer leerlaufen lassen; der Zugang zu den in der Verfahrensordnung eingeräumten Instanzen darf nicht von unerfüllbaren oder unzumutbaren Voraussetzungen abhängig gemacht oder in einer durch [X.] nicht mehr zu rechtfertigenden Weise erschwert werden (vgl. [X.] 96, 27 <39>; 117, 244 <268>; 122, 248 <271>; stRspr).

b) Nach diesem Maßstab ist der Beschluss des [X.]s mit Art. 19 Abs. 4 GG unvereinbar.

§ 119 Abs. 3 [X.] erlaubt es dem Strafsenat, von einer Begründung der Rechtsbeschwerdeentscheidung abzusehen, wenn er die Beschwerde für unzulässig oder offensichtlich unbegründet erachtet. Da von dieser Möglichkeit, deren Einräumung verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden ist (vgl. [X.] 50, 287 <289 f.>; 71, 122 <135>; 81, 97 <106>), im vorliegenden Fall Gebrauch gemacht wurde, liegen über die Feststellung im Tenor des Beschlusses des [X.]s, dass die in § 116 Abs. 1 [X.] genannte Voraussetzung der Zulässigkeit einer Rechtsbeschwerde - Erforderlichkeit der Nachprüfung zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung - nicht vorliege, Entscheidungsgründe, die das [X.] einer verfassungsrechtlichen Prüfung unterziehen könnte, nicht vor. Daraus folgt jedoch nicht, dass der Beschluss selbst sich verfassungsrechtlicher Prüfung entzöge oder die Maßstäbe der Prüfung zu lockern wären. Vielmehr ist in einem solchen Fall die Entscheidung bereits dann aufzuheben, wenn an ihrer Vereinbarkeit mit Grundrechten des Beschwerdeführers erhebliche Zweifel bestehen (vgl. [X.], Beschluss der [X.] des Zweiten Senats vom 25. Februar 1993 - 2 BvR 251/93 -, juris; [X.], Beschluss der [X.] des Zweiten Senats vom 12. März 2008 - 2 BvR 378/05 -, juris; Beschlüsse der [X.] des Zweiten Senats vom 26. Oktober 2011 - 2 BvR 1539/09 -, juris, und vom 29. Februar 2012 - 2 BvR 309/10 und 2 BvR 368/10 -, jeweils juris). Dies ist angesichts der offenkundigen inhaltlichen Abweichung des landgerichtlichen Beschlusses von der Rechtsprechung des [X.] (zur Bedeutung einer solchen Abweichung für die Zulässigkeit der Rechtsbeschwerde vgl. [X.], Beschluss vom 7. Juli 2006 - 1 [X.] ([X.]) -, juris) hier der Fall.

3. Da die angegriffenen Entscheidungen auf dem festgestellten Verfassungsverstoßberuhen, sind sie nach § 95 Abs. 2 [X.] aufzuheben und die Sache an das [X.] zurückzuverweisen.

I[X.]

Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 [X.].

Meta

2 BvR 865/11

20.06.2012

Bundesverfassungsgericht 2. Senat 3. Kammer

Stattgebender Kammerbeschluss

Sachgebiet: BvR

vorgehend OLG Hamm, 10. März 2011, Az: 1 Vollz (Ws) 53/11, Beschluss

Art 1 Abs 1 GG, Art 2 Abs 1 GG, Art 19 Abs 4 GG, § 93c Abs 1 S 1 BVerfGG, § 1 Abs 1 S 1 MVollzG NW, § 18 Abs 1 S 3 MVollzG NW, § 18 Abs 2 Nr 1 Alt 1 MVollzG NW, § 63 StGB, § 2 S 1 StVollzG, § 11 Abs 1 Nr 2 StVollzG, § 116 Abs 1 StVollzG, § 119 Abs 3 StVollzG

Zitier­vorschlag: Bundesverfassungsgericht, Stattgebender Kammerbeschluss vom 20.06.2012, Az. 2 BvR 865/11 (REWIS RS 2012, 5424)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2012, 5424

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