Bundesverfassungsgericht, Nichtannahmebeschluss vom 22.11.2011, Az. 2 BvR 2297/11

2. Senat 3. Kammer | REWIS RS 2011, 1252

Foto: © Bundesverfassungsgericht │ foto USW. Uwe Stohrer, Freiburg

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Gegenstand

Nichtannahmebeschluss: Unzulässigkeit der Verfassungsbeschwerde bei unterlassener Gehörsrüge im fachgerichtlichen Verfahren - hier: Möglichkeit einer Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör bei einseitiger Begründung einer nicht begründungspflichtigen Rechtsmittelentscheidung - Verlegung eines im Maßregelvollzug Untergebrachten gegen dessen Willen zwecks Ermöglichung von Vollzugslockerungen


Gründe

I.

1

Die mit dem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung verbundene Verfassungsbeschwerde betrifft die Verlegung eines Maßregelvollzugspatienten, dem in der Klinik, in der er untergebracht ist, [X.] unter Berufung auf einen entgegenstehenden Vertrag mit der Standortkommune versagt worden waren, in eine andere Maßregelvollzugseinrichtung zwecks Ermöglichung dortiger Lockerungen. Die Verlegung war angeordnet worden, nachdem die Strafvollstreckungskammer festgestellt hatte, dass dem Beschwerdeführer begleiteter Ausgang zu gewähren sei. Der Beschwerdeführer war der Verlegung entgegengetreten und hatte, nachdem sie ihm angekündigt worden war, seinen Antrag auf sofortige Umsetzung der gerichtlich angeordneten Lockerungsgewährung bis auf weiteres zurückgenommen.

II.

2

1. Die Verfassungsbeschwerde wird gemäß § 93a Abs. 2 [X.] nicht zur Entscheidung angenommen, weil sie keine Aussicht auf Erfolg hat (vgl. [X.] 90, 22 <25 f.>).

3

a) Soweit sie sich gegen die Verlegung des Beschwerdeführers richtet, ist die Verfassungsbeschwerde mangels Erschöpfung des Rechtsweges unzulässig.

4

Zum Rechtsweg gehört, soweit statthaft, auch die Anhörungsrüge (vgl. [X.] 122, 190 <198>).

5

Im vorliegenden Fall war eine Anhörungsrüge (§ 33a StPO in Verbindung mit § 120 Abs. 1, § 138 Abs. 3 [X.]) gegen den Beschluss des [X.] nicht aussichtslos.

6

aa) Allerdings verpflichtet Art. 103 Abs. 1 GG die Gerichte nicht, auf jedes Vorbringen der Beteiligten in den Entscheidungsgründen ausdrücklich einzugehen (vgl. [X.] 5, 22 <24>; 96, 205 <216 f.>; stRspr). Erst recht kann in Fällen, in denen ein Gericht von der Pflicht, seine Entscheidung zu begründen, ohne Verfassungsverstoß durch Gesetz - hier: § 119 Abs. 3 [X.] - ausdrücklich entbunden ist, nicht schon aus dem Fehlen von Ausführungen zu einem bestimmten Vorbringen des [X.] geschlossen werden, dass das Gericht dessen Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt habe. Andererseits schließt aber nicht schon der Umstand, dass eine Entscheidung von Gesetzes wegen keiner Begründung bedurfte, das Vorliegen eines Gehörsverstoßes aus. Eine Anhörungsrüge ist in einem solchen Fall vor Erhebung der Verfassungsbeschwerde erforderlich, wenn besondere Umstände darauf hindeuten, dass entscheidungserhebliches Vorbringen des Beschwerdeführers nicht in der gebotenen Weise zur Kenntnis genommen oder erwogen worden ist (vgl. [X.], Beschluss der [X.] des Zweiten Senats vom 19. April 2011 - 2 BvR 2374/10 -, juris, [X.], Beschluss der [X.] des Zweiten Senats vom 24. Juli 2008 - 2 BvR 610/08 -, juris m.w.N.). Ein solch besonderer Umstand kann auch darin liegen, dass das Fachgericht trotz der Möglichkeit, von einer Begründung abzusehen, die Zulässigkeit eines Rechtsbehelfs unter Hinweis auf einen dem [X.] ungünstigen Umstand verneint, ein mit diesem Umstand im engen sachlichen Zusammenhang stehendes für den [X.] günstiges Vorbringen aber nicht erwähnt.

7

bb) Danach liegen hier besondere Umstände vor, die eine Anhörungsrüge vor der Erhebung der Verfassungsbeschwerde erforderlich machten.

8

Das [X.] hat die Verwerfung der Rechtsbeschwerde darauf gestützt, dass der Beschwerdeführer vor seinem Antrag auf gerichtliche Entscheidung kein [X.] durchgeführt habe. Es kann dahinstehen, ob diese Feststellung - wie das [X.] meint - in der [X.], die zur Frage des Widerspruchs ausdrücklich auf das Telefax vom 2. Juni 2010 verweist, und den bestenfalls widersprüchlichen Ausführungen in der landgerichtlichen Entscheidung hierzu tatsächlich eine hinreichende Grundlage findet und daher einer verfassungsrechtlichen Überprüfung standhalten würde (vgl. zur Amtsaufklärungspflicht hinsichtlich der Durchführung des [X.]s [X.], Beschluss vom 7. April 1994 - 1 Vollz ([X.]) 85/94 -, [X.] 1995, [X.] f.). Denn der Prozessbevollmächtigte des Beschwerdeführers hat sowohl im Verfahren vor dem [X.] als auch im Rechtsbeschwerdeverfahren ausführlich und substantiiert zur Entbehrlichkeit des [X.]s im Falle einer bindenden Weisung der Aufsichtsbehörde vorgetragen. Er hat dazu auch den Wortlaut einer E-Mail des Klinikträgers wiedergegeben, wonach die Verlegung des Beschwerdeführers ihre Grundlage in einer allgemeinen Weisung des [X.], also der nach § 31 Abs. 1 Satz 1 MRVG NRW zuständigen Aufsichtsbehörde, habe.

9

Wenn das [X.] unter diesen Umständen einerseits ausführt, dem Vorbringen des [X.] sich entnehmen, er habe das [X.] nicht durchgeführt, und andererseits zu dessen Vortrag zur Entbehrlichkeit des [X.]s schweigt, liegt die Annahme nahe, dass nicht das gesamte Vorbringen des Beschwerdeführers in der gebotenen Weise zur Kenntnis genommen und berücksichtigt wurde.

Es ist nicht ausgeschlossen, dass das [X.] bei Beachtung des gesamten Vorbringens des Beschwerdeführers zu einer anderen Entscheidung gelangt wäre und die Entscheidung damit auf dem möglichen Gehörsverstoß beruht.

Es liegt nahe, das Telefax vom 2. Juni 2010 als einen auf die Einleitung des [X.]s gerichteten Widerspruch auszulegen. Unabhängig davon ist in der Rechtsprechung des [X.] Hamm geklärt, dass ein [X.]entbehrlich ist, wenn die Maßnahme auf einer den Einzelfall betreffenden bindenden Weisung der Aufsichtsbehörde beruht (vgl. [X.], Beschlüsse vom 7. April 1994 - 1 Vollz ([X.]) 85/94 -, [X.] 1995, [X.] f. und vom 17. April 1997 - 1 Vollz ([X.]) 56/97 -, NStZ 1998, [X.]). Es ist zumindest möglich, dass dies auch für den Fall einer allgemeinen Weisung gilt, wenn diese - wie hier offenbar - Ausnahmen im Einzelfall ausdrücklich ausschließt.

Es ist auch nicht ersichtlich, dass die Rechtsbeschwerde bei der gebotenen am recht verstandenen Interesse des Beschwerdeführersorientierten Auslegung (vgl. [X.] 122, 190 <198>) keine Fragen aufgeworfen hätte, die nach den maßgeblichen Kriterien des § 116 Abs. 1 [X.] in Verbindung mit § 138 Abs. 3 [X.] (vgl. [X.]/Müller-Dietz, [X.], 11. Aufl. 2008, § 116 Rn. 2; [X.], [X.], 3. Aufl. 2011, § 116 Rn. 3) eine Überprüfung der angefochtenen landgerichtlichen Entscheidung erforderlich machten. Insbesondere ist, soweit ersichtlich, in der obergerichtlichen Rechtsprechung nicht geklärt, ob und gegebenenfalls unter welchen Voraussetzungen ein im Maßregelvollzug Untergebrachter, für dessen Unterbringungseinrichtung ein Vertrag mit der Standortkommune die Gewährung von Lockerungen ausschließt, gegen seinen Willen - und obwohl er einen die Gewährung von Lockerungen betreffenden Antrag ausdrücklich zurückgezogen hat - zur Ermöglichung von Lockerungen in eine andere Maßregelvollzugsklinik verlegt werden kann. Lediglich in einer die Entscheidung nicht tragenden Passage eines Beschlusses im Verfahren nach § 67d Abs. 6 StGB hat das [X.] Hamm ausgeführt, der Untergebrachte sei in eine andere Einrichtung zu verlegen, wenn ihm in der aktuellen Einrichtung aufgrund einer politischen Vereinbarung keine Lockerungen gewährt werden könnten (vgl. [X.], Beschluss vom 4 November 2008 - 4 [X.] 316/08 -, [X.], [X.]). Dies betraf jedoch keinen Fall, in dem der Betroffene selbst sich, wie hier, gerade gegen die Verlegung wandte. Für einen solchen Fall könnte eine derartige Feststellung auch nicht ohne jede nähere Auseinandersetzung mit den berührten grundrechtlichen Belangen (vgl. zur Grundrechtsrelevanz ungewollter Verlegungen [X.]K 6, 260 <264>; zur Grundrechtsrelevanz der Bindung von Lockerungsmöglichkeiten an die Voraussetzung vorheriger Verlegung [X.]K 11, 262 <267>) getroffen werden. Insoweit bedürfte zudem gegebenenfalls auch der Klärung, ob und inwieweit eine etwaige Zumutbarkeit der Verlegung davon abhängt, dass der Betroffene nicht am neuen Standort erneut einem langwierigen Verfahren der Prüfung seiner andernorts bereits - auch gerichtlich - festgestellten Lockerungseignung unterzogen wird.

b) Soweit sich die Verfassungsbeschwerde auch gegen die Versagung von [X.] durch die Klinik für forensische Psychiatrie in [X.] richtet, ist sie unzulässig, weil der Beschwerdeführer entweder den Rechtsweg nicht erschöpft (§ 90 Abs. 2 Satz 1 [X.]) oder die Verfassungsbeschwerdefrist (§ 93 Abs. 1 [X.]) versäumt hat.

Der Beschwerdeführer hat hinsichtlich der [X.] in [X.] ein für die Rechtswegerschöpfung erforderliches Hauptsacheverfahren noch nicht eingeleitet. Sein diesbezüglicher Antrag vom 14. Juni 2010 war ausdrücklich als Antrag im einstweiligen Rechtsschutzverfahren gekennzeichnet und wurde vom [X.] im Beschluss vom 12. Juli 2010 zunächst auch als solcher behandelt. Wenn man dagegen mit den Ausführungen des [X.] im Beschluss vom 30. September 2010 annehmen wollte, das [X.] habe insofern auch über einen [X.] entschieden, wäre die Verfassungsbeschwerde verfristet, da die Frist des § 93 Abs. 1 [X.] in diesem Falle mit der Zustellung der Entscheidung des [X.] vom 30. September 2010 begonnen hätte und bei der Erhebung der Verfassungsbeschwerde am 26. Oktober 2011 ersichtlich abgelaufen gewesen wäre.

c) Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 [X.] abgesehen.

2. Mit der Nichtannahme der Verfassungsbeschwerde im Hinblick auf die [X.]in [X.] erledigt sich der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung.

3. Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Anwaltsbeiordnung war abzulehnen, weil weder die Verfassungsbeschwerde noch der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung hinreichende Aussicht auf Erfolg hatten (§ 114 Satz 1 ZPO).

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Meta

2 BvR 2297/11

22.11.2011

Bundesverfassungsgericht 2. Senat 3. Kammer

Nichtannahmebeschluss

Sachgebiet: BvR

vorgehend OLG Hamm, 13. September 2011, Az: III-1 Vollz (Ws) 368/11, Beschluss

Art 103 Abs 1 GG, § 90 Abs 2 S 1 BVerfGG, § 33a StPO, § 120 Abs 1 StVollzG, § 138 Abs 3 StVollzG

Zitier­vorschlag: Bundesverfassungsgericht, Nichtannahmebeschluss vom 22.11.2011, Az. 2 BvR 2297/11 (REWIS RS 2011, 1252)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2011, 1252

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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2 BvR 2374/10

4 Ws 316/08

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