Bundesgerichtshof, Beschluss vom 14.12.2010, Az. VIII ZB 20/09

8. Zivilsenat | REWIS RS 2010, 416

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Gegenstand

Wiedereinsetzung in eine versäumte Berufungsfrist bei unterlassenem Hinweis des angerufenen Gerichts auf seine fehlende funktionelle Zuständigkeit


Leitsatz

Erkennt das zunächst angerufene Berufungsgericht frühzeitig, dass Bedenken gegen seine funktionelle Zuständigkeit bestehen und teilt es diese - aktenkundig gemachten - Bedenken dem Rechtsmittelführer aufgrund geschäftsinterner Erwägungen nicht mit, kann der Anspruch des Rechtsmittelführers auf ein faires Verfahren verletzt sein. Ein Verschulden der Partei oder ihres Prozessbevollmächtigten (§ 85 Abs. 2 ZPO) an der Fristversäumung wirkt sich dann nicht mehr aus, so dass der Partei Wiedereinsetzung zu gewähren ist (im Anschluss an BGH, Beschlüsse vom 5. Oktober 2005, VIII ZB 125/04, NJW 2005, 3776, und vom 24. Juni 2010, V ZB 170/09, WuM 2010, 592) .

Tenor

Hinsichtlich der Beklagten zu 3 ist das Rechtsbeschwerdeverfahren nach § 240 ZPO unterbrochen.

Auf die Rechtsbeschwerde der Beklagten zu 1 und 2 wird der Beschluss des 8. Zivilsenats des [X.] vom 18. Dezember 2008 aufgehoben, soweit darin die Berufung der Beklagten zu 1 und 2 als unzulässig verworfen und deren Antrag auf Wiedereinsetzung zurückgewiesen worden ist.

Den Beklagten zu 1 und 2 wird Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Frist zur Einlegung der Berufung gegen das Urteil des [X.] vom 5. September 2008 gewährt.

Die Sache wird zur erneuten Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Gegenstandswert der Rechtsbeschwerde: 86.007,41 €

Gründe

I.

1

Die in [X.] ansässige Klägerin hat die Beklagten auf Auskehrung von Mieten in Anspruch genommen, die ein Untermieter der Klägerin im Zeitraum von September 2000 bis einschließlich Mai 2003 an die Beklagte zu 1 als Hauptvermieterin gezahlt hatte. Die Beklagten zu 2 und 3 sind persönlich haftende Gesellschafter der Beklagten zu 1. Das Amtsgericht hat die Beklagten als Gesamtschuldner zur Zahlung von 86.007,41 € nebst Zinsen verurteilt. Das Urteil des Amtsgerichts ist den Prozessbevollmächtigten der Beklagten am 9. September 2008 zugestellt worden. Die hiergegen gerichtete Berufung der Beklagten ist am 16. September 2008 beim [X.] eingegangen. Die Berufungsschrift enthält den Hinweis, dass die Zustellung des erstinstanzlichen Urteils am 9. September 2008 bewirkt worden ist. Ihr lag als Anlage eine Ausfertigung der angefochtenen Entscheidung bei.

2

Die Sache ist zunächst der [X.] des [X.]s zugewiesen worden. Die Vorsitzende dieser Kammer hat unter dem 19. September 2008 eine Verfügung vorbereitet, nach der den Prozessbevollmächtigten der Beklagten unter Angabe des Aktenzeichens der Eingang der Berufung bestätigt und diesen mitgeteilt werden sollte, dass " …vorsorglich auf § 119 Abs. 1 Nr. 1 [X.] hingewiesen (wird)." Diese - von der Vorsitzenden nicht unterzeichnete - Verfügung wurde nicht ausgefertigt. [X.] später hat die Vorsitzende der [X.] ihren handschriftlichen Hinweis gestrichen und am 23. September 2008 die Vorlage der Akten an den Vorsitzenden der nach ihrer Ansicht zuständigen [X.] des [X.]s mit der Bitte um Übernahme des Verfahrens verfügt. Der Vorsitzende dieser Kammer hat sich zu diesem Zeitpunkt nach dem glaubhaft gemachten Vorbringen der Beklagten noch bis 12. Oktober 2009 in Urlaub befunden und ist während seiner Urlaubsabwesenheit von der Vorsitzenden der [X.] vertreten worden. Am 30. September 2008 hat die Vorsitzende der [X.] nach erneuter Vorlage der Berufungsschrift verfügt: "[X.]. nach Rückkehr". Die am 18. September 2008 angeforderten erstinstanzlichen Akten sind am 6. Oktober 2008 vom Amtsgericht versandt worden und gingen am 8. Oktober 2008 bei der "gemeinsamen Briefannahme Justizbehörden Mitte" ein.

3

Unmittelbar nach seiner Rückkehr aus dem Urlaub hat der Vorsitzende der [X.] mit Verfügung vom 13. Oktober 2008 angeordnet, den Prozessbevollmächtigten der Beklagten unter Bekanntgabe des neu vergebenen Aktenzeichens den Eingang der Berufung mit dem Zusatz zu bestätigen "Auf § 119 Abs. 1 Nr. 1 [X.] wird hingewiesen. Wird die unzulässige Berufung zurückgenommen?" Diese Verfügung ist am 14. Oktober 2008 ausgefertigt worden. Mit einem am 17. Oktober 2008 beim [X.] eingereichten Schriftsatz haben die Beklagten die Berufung zurückgenommen.

4

Im Hinblick auf den erteilten gerichtlichen Hinweis haben die Prozessbevollmächtigten der Beklagten mit am selben Tag beim [X.] eingegangenem Schriftsatz gegen das Urteil des Amtsgerichts erneut Berufung eingelegt und beantragt, den Beklagten wegen Versäumung der mit Ablauf des 9. Oktober 2008 verstrichenen Berufungsfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Nach antragsgemäß bewilligter Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist haben die Beklagten ihre Berufung mit Schriftsatz vom 9. Dezember 2008 begründet.

5

Das [X.] hat den Wiedereinsetzungsantrag zurückgewiesen und die Berufung der Beklagten als unzulässig verworfen. Zur Begründung hat es - soweit für das Rechtsbeschwerdeverfahren von Interesse - ausgeführt, die Beklagten seien nicht ohne ihr Verschulden gehindert gewesen, die Berufung fristgerecht beim [X.] einzulegen. Die Beachtung der bei der Berufungseinlegung zu wahrenden Förmlichkeiten sei ausschließlich Sache der Prozessbevollmächtigten der Beklagten. Deren Verschulden sei den Beklagten zuzurechnen (§ 85 Abs. 2 ZPO). Nach dem Vortrag der Beklagten habe ihre Prozessbevollmächtigte übersehen, dass die Berufungsschrift an das unzuständige [X.] gerichtet gewesen sei.

6

Wiedereinsetzung in den vorigen Stand sei auch nicht deswegen zu gewähren, weil es das [X.] unterlassen habe, den [X.] rechtzeitig an das [X.] weiterzuleiten oder wenigstens die Prozessbevollmächtigte der Beklagten auf die funktionelle Unzuständigkeit des [X.]s hinzuweisen. Der Vorsitzende einer Berufungskammer sei nach höchstrichterlicher Rechtsprechung nicht verpflichtet, bei einer noch innerhalb der Berufungsfrist erfolgenden Vorlage der Berufungsschrift, aus der sich - wie hier - gewichtige Anhaltspunkte für einen Auslandsbezug im Sinne des § 119 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. [X.] ergäben, die abschließende Prüfung der Zuständigkeit so zu beschleunigen, dass die Berufungsschrift noch vor Ablauf der Berufungsfrist an das [X.] weitergeleitet werden könne.

7

Die Vorsitzende der [X.] des [X.]s sei auch nicht wegen der bei ihrer vorläufigen Prüfung aufgekommenen Zweifel an der Zuständigkeit des [X.]s gehalten gewesen, den Beklagten vor Vorlage der erstinstanzlichen Akten den von ihr vorgesehenen, später aber im Hinblick auf die angenommene geschäftsplanmäßige Unzuständigkeit der [X.] gestrichenen Hinweis auf eine mögliche Unzuständigkeit des [X.]s zu erteilen. Eine solch weit reichende Verpflichtung hätte zur Konsequenz, dass die [X.]en ihrer primären Verantwortung für die Bestimmung des zuständigen [X.]s enthoben würden.

8

Dagegen wenden sich die Beklagten mit ihrer form- und fristgerecht eingelegten Rechtsbeschwerde. Während des [X.] ist am 16. September 2009 über das Vermögen der Beklagten zu 3 das Insolvenzverfahren eröffnet worden.

II.

9

Die Rechtsbeschwerde der Beklagten zu 1 und 2 hat Erfolg. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses, zur Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsfrist und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.

1. Hinsichtlich der Beklagten zu 3 ist das Verfahren nach § 240 ZPO unterbrochen. Die Unterbrechung wirkt sich jedoch nicht auf die weiteren Prozessrechtsverhältnisse aus.

a) Nach § 240 ZPO tritt eine Unterbrechung grundsätzlich nur in Bezug auf die [X.] ein, in deren Person die dort genannten Voraussetzungen vorliegen ([X.], Beschluss vom 14. November 2002 - [X.], [X.], 590 unter II 2 a). Etwas anderes ergibt sich auch nicht daraus, dass die Beklagten zu 2 und 3 persönlich haftende Gesellschafter der Beklagten zu 1, einer [X.], sind. Zwar wäre im Falle der Eröffnung des Insolvenzverfahrens über eine [X.] ein gegen die Gesellschafter wegen ihrer persönlichen Haftung geführter Rechtsstreit entsprechend § 17 Abs. 1 Nr. 1 [X.] unterbrochen (vgl. [X.], Beschlüsse vom 14. November 2002 - [X.], aaO unter II 2 b, und vom 20. November 2008 - [X.], NJW-RR 2009, 343 Rn. 6). Denn in diesen Fällen gilt es, im Interesse der Gleichbehandlung aller Gläubiger einen Gläubigerwettlauf um die Gesellschafterhaftung während der Gesellschaftsinsolvenz zu unterbinden ([X.], Beschluss vom 20. November 2008 - [X.], aaO).

b) Ist dagegen nicht über das Vermögen der [X.] selbst, sondern nur über das Vermögen eines ihrer persönlich haftenden Gesellschafter das Insolvenzverfahren eröffnet worden, gelten diese Überlegungen nicht. In Anbetracht der von der Rechtsprechung inzwischen anerkannten Teilrechts- und -parteifähigkeit einer (Außen-)[X.] führt die Insolvenz eines Gesellschafters nicht zur Unterbrechung eines gegen die Gesellschaft geführten Rechtsstreits (vgl. hierzu etwa [X.], NJW-RR 2002, 1277 f.; [X.], [X.] 2007, 174, 175; [X.]/[X.], 3. Aufl., § 240 Rn. 15; Musielak/[X.], ZPO, 7. Aufl., § 240 Rn. 2). Soweit der [X.]. Zivilsenat des [X.] in seinem Beschluss vom 24. Juli 2003 ([X.] ZR 209/01, [X.], 1758) noch eine abweichende Auffassung vertreten hat, beruht dies noch auf der mit der Anerkennung der Teilrechts- und -parteifähigkeit einer (Außen-)[X.] obsolet gewordenen Annahme (vgl. [X.], Urteile vom 29. Januar 2001 - II ZR 331/00, [X.]Z 146, 341, 348 ff., und vom 15. Januar 2003 - [X.], [X.], 1043 unter I a), die Mitglieder einer [X.] bildeten eine notwendige Streitgenossenschaft nach § 62 Abs. 1 Alt. 2 ZPO. Hinsichtlich der Beklagten zu 1 ist folglich keine Verfahrensunterbrechung eingetreten.

c) Entsprechendes gilt in Bezug auf das Prozessrechtsverhältnis zwischen der Beklagten zu 2 und der Klägerin. Da die Gesellschafter einer (teil-)rechts- und -parteifähigen [X.] nach neuerer Rechtsprechung nicht als notwendige Streitgenossen verbunden sind, bewirkt die Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen eines Gesellschafters keine Unterbrechung des Rechtsstreits gegen einen anderen Gesellschafter (vgl. [X.], aaO; Musielak/[X.], aaO; vgl. ferner allgemein zur Unterbrechungswirkung bei einfachen Streitgenossen [X.], Urteil vom 19. Dezember 2002 - [X.] ZR 176/02, NJW-RR 2003, 1002 unter II 1).

2. Die nach § 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 522 Abs. 1 Satz 4, § 238 Abs. 2 Satz 1 ZPO statthafte Rechtsbeschwerde der Beklagten zu 1 und 2 ist zulässig, weil eine Entscheidung des [X.] zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung gefordert ist (§ 574 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 2 ZPO). Die angegriffene Entscheidung verletzt den verfassungsrechtlich verbürgten Anspruch der Beklagten auf Gewährleistung wirkungsvollen Rechtsschutzes und eines fairen Verfahrens (Art. 2 Abs. 1 GG i. V. m. dem Rechtsstaatsprinzip; Art. 19 Abs. 4 GG). Das Berufungsgericht hat die Anforderungen an das Vorliegen von [X.] überspannt und dadurch den Beklagten zu 1 und 2 den Zugang zur Rechtsmittelinstanz in unzumutbarer, aus [X.] nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert (vgl. zu diesen Kriterien etwa [X.] 78, 88, 99; 84, 366, 369 f.; [X.], Beschluss vom 24. Juni 2010 - [X.]/09, [X.], 592 Rn. 4; jeweils [X.]).

3. Die Rechtsbeschwerde ist auch begründet. Den Beklagten zu 1 und 2 ist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (§ 233 ZPO) gegen die Versäumung der Berufungsfrist zu gewähren, weil sich das ihnen zuzurechnende Verschulden ihrer Prozessbevollmächtigten im Hinblick auf die fehlerhafte Vorgehensweise des zunächst angerufenen [X.]s nicht mehr ausgewirkt hat.

a) Rechtsfehlerfrei ist das Berufungsgericht allerdings davon ausgegangen, dass die verspätete Einlegung der Berufung beim zuständigen [X.] auf einem Verschulden der Prozessbevollmächtigten der Beklagten beruhte. An einen mit der Berufungseinlegung betrauten Rechtsanwalt sind hinsichtlich der Ermittlung des zuständigen [X.]s hohe Sorgfaltsanforderungen zu stellen (vgl. etwa [X.], Beschluss vom 24. Juni 2010 - [X.]/09, aaO Rn. 5). Denn die Klärung der [X.] fällt in seinen Verantwortungsbereich. Er ist daher gehalten, die [X.] und insbesondere die [X.] des darin bezeichneten Gerichts selbst auf ihre Richtigkeit zu überprüfen ([X.], Beschluss vom 12. April 2010 - [X.], NJW-RR 2010, 1096 Rn. 12 [X.]). Die mit der Einlegung des Rechtsmittels betraute Prozessbevollmächtigte der Beklagten hätte daher die von einer Kanzleiangestellten vorgenommene Adressierung der [X.] nicht - wie vorliegend geschehen - ungeprüft übernehmen dürfen.

b) Nicht frei von [X.] ist dagegen die Annahme des Berufungsgerichts, die Ursächlichkeit der den Beklagten zu 1 und 2 gemäß § 85 Abs. 2 ZPO zuzurechnenden schuldhaften Fristversäumnis ihrer Prozessbevollmächtigten sei nicht im Hinblick auf das Verhalten der Vorsitzenden der [X.] des [X.]s nachträglich entfallen (vgl. zu diesem Gesichtspunkt [X.] 93, 99, 114 ff. [X.]; Senatsbeschluss vom 5. Oktober 2005 - [X.]I ZB 125/04, NJW 2005, 3776 unter I[X.] aa [X.]).

aa) Allerdings besteht, wie das Berufungsgericht zutreffend ausgeführt hat, keine generelle Fürsorgepflicht des für das eingelegte Rechtsmittel unzuständigen und vorher mit der Sache nicht befassten Gerichts, durch Hinweise oder durch andere geeignete Maßnahmen eine Fristversäumung des Rechtsmittelführers zu verhindern (st. Rspr.; vgl. etwa [X.], Beschlüsse vom. 15. Juni 2004 - VI ZB 75/03, NJW-RR 2004, 1655 unter [X.], c, und vom 24. Juni 2010 - V [X.], aaO Rn. 7). Eine solch weit reichende Verpflichtung würde die [X.]en und ihre Prozessbevollmächtigten ihrer eigenen Verantwortung für die Einhaltung der [X.] entheben und die Anforderungen an die Grundsätze des fairen Verfahrens überspannen (vgl. Senatsbeschluss vom 18. März 2008 - [X.]I ZB 4/06, [X.], 1890 Rn. 11). Diese Konsequenz wäre nicht mit dem Grundsatz vereinbar, dass die Abgrenzung dessen, was im Rahmen einer fairen Verfahrensgestaltung an richterlicher Fürsorge von [X.] wegen geboten ist, sich nicht nur am Interesse der Rechtsuchenden an einer möglichst weitgehenden Verfahrenserleichterung orientieren, sondern auch berücksichtigen muss, dass die Justiz im Interesse ihrer Funktionsfähigkeit vor zusätzlicher Belastung geschützt werden muss (vgl. [X.] 93, 99, 114; [X.], NJW 2001, 1343; NJW 2006, 1579; Senatsbeschlüsse vom 5. Oktober 2005 - [X.]I ZB 125/04, aaO, und vom 18. März 2008 - [X.]I ZB 4/06, aaO; [X.], Beschlüsse vom 15. Juni 2004 - VI ZB 75/03, aaO unter [X.], und vom 24. Juni 2010 - V [X.], aaO).

In Anbetracht dieser gegenläufigen Interessen besteht keine Veranlassung, einer [X.] und ihrem Prozessbevollmächtigten die Verantwortung für die Ermittlung des richtigen Adressaten fristgebundener Verfahrenserklärungen allgemein abzunehmen und auf unzuständige Gerichte zu verlagern (vgl. [X.] aaO; [X.], Beschlüsse vom 5. Oktober 2005 - [X.]I ZB 125/04, aaO, und vom 24. Juni 2010 - [X.]/09, aaO). Damit lässt sich aus dem Grundrecht auf ein faires Verfahren (Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. dem Rechtsstaatsprinzip) und der sich daraus ergebenden verfassungsrechtlichen Fürsorgepflicht der Gerichte keine generelle Verpflichtung zur sofortigen Prüfung der funktionellen Zuständigkeit bei Eingang einer [X.] (vgl. [X.], Beschluss vom 15. Juni 2004 - [X.], aaO; Senatsbeschluss vom 18. März 2008 - [X.]I ZB 4/06, aaO) oder zur beschleunigten Vorlage der erstinstanzlichen Akten (vgl. hierzu Senatsbeschlüsse vom 18. März 2008 - [X.]I ZB 4/06, aaO Rn. 12, und vom 20. Januar 2010 - [X.]I ZB 36/08, juris Rn. 9) ableiten.

bb) Etwas anderes gilt allerdings dann, wenn die Unzuständigkeit des angerufenen [X.]s "ohne weiteres" bzw. "leicht und einwandfrei" zu erkennen war und die nicht rechtzeitige Aufdeckung der fehlenden Zuständigkeit auf einem offenkundig nachlässigen Fehlverhalten des angerufenen Gerichts beruht (vgl. [X.], NJW 2002, 3692, 3693; 2006, 1579; [X.], Beschlüsse vom 15. Juni 2004 - [X.], aaO, und vom 24. Juni 2010 - [X.]/09, aaO Rn. 8; Senatsbeschluss vom 5. Oktober 2005 - [X.]I ZB 125/04, aaO unter I[X.] bb). In diesen Fällen stellt es für die Funktionsfähigkeit des angerufenen Gerichts keine nennenswerte Belastung dar, einen fehlgeleiteten Schriftsatz im Rahmen des üblichen Geschäftsgangs an das zuständige Gericht weiterzuleiten. Geschieht dies nicht, geht die nachfolgende Fristversäumnis nicht zu Lasten des Rechtsuchenden ([X.], NJW 2006, aaO); das Verschulden des Prozessbevollmächtigten wirkt sich dann nicht mehr aus (vgl. nur [X.], Beschluss vom 24. Juni 2010 - V [X.], aaO [X.]). Entsprechendes hat zu gelten, wenn das angerufene [X.] anhand der [X.] und der ihr beigefügten Anlagen - wie hier - frühzeitig eine vorläufige Prüfung seiner funktionellen Zuständigkeit vorgenommen und hierbei gewichtige Anhaltspunkte für einen Auslandsbezug im Sinne des - zum 1. September 2009 außer [X.] getretenen - § 119 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. [X.] erkannt und diese in den Akten vermerkt hat, jedoch den schriftlich dokumentierten Hinweis über die aufgekommenen Zuständigkeitsbedenken dem Rechtsmittelführer vorenthält. Bei einer solchen Fallgestaltung ist dem zunächst mit der Sache befassten [X.] ein Fehlverhalten anzulasten, das ausnahmsweise wie in den Fällen der offenkundigen Unzuständigkeit dazu führt, dass sich das Verschulden der Prozessbevollmächtigten der Beklagten zu 1 und 2 nicht mehr auswirkt und diesen Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsfrist (§ 233 ZPO) zu gewähren ist.

(1) Die Vorsitzende der [X.] des [X.]s war zwar bei Vorlage der Berufungsschrift nicht verpflichtet, eine vorläufige Prüfung der funktionellen Zuständigkeit des angerufenen Gerichts vorzunehmen. Auch bestand keine Verpflichtung, für eine beschleunigte Vorlage der erstinstanzlichen Akten Sorge zu tragen, um frühzeitig den für § 119 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. [X.] maßgebenden allgemeinen Gerichtsstand der [X.]en im Zeitpunkt des Eintritts der Rechtshängigkeit in erster Instanz abschließend klären zu können (vgl. hierzu Senatsbeschlüsse vom 18. März 2008 - [X.]I ZB 4/06, aaO, und vom 20. Januar 2010 - [X.]I ZB 36/08, aaO). Ein Fall einer offensichtlichen funktionellen Unzuständigkeit des [X.]s lag ebenfalls nicht vor, denn aus den Angaben im Rubrum der der Berufungsschrift beigefügten Ausfertigung des angefochtenen Urteils ergab sich nicht abschließend, dass die Klägerin bereits bei Klageerhebung ihren allgemeinen Gerichtsstand in [X.] hatte.

(2) Die fehlende Prüfungspflicht entband die Vorsitzende der [X.] jedoch nicht davon, die von ihr frühzeitig erkannten Bedenken gegen die funktionelle Zuständigkeit des angerufenen Gerichts dem Rechtsmittelführer - wie zunächst beabsichtigt - mitzuteilen. Die Vorsitzende der [X.] hatte beim Studium der [X.] erkannt, dass gewichtige Anhaltspunkte für eine [X.] des [X.]s nach § 119 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. [X.] bestehen. Die aufgekommenen Zuständigkeitsbedenken hat sie zunächst auch mit der Absicht, diese dem Rechtsmittelführer frühzeitig mitzuteilen, am 19. September 2008 aktenkundig gemacht. Diese Absicht hat sie jedoch nicht verwirklicht, sondern den geplanten richterlichen Hinweis im Hinblick auf die am 23. September 2008 vermerkte geschäftsplanmäßige Unzuständigkeit ihrer Kammer wieder gestrichen und stattdessen die Vorlage der Akten an den bis zum 12. Oktober 2008 urlaubsabwesenden Vorsitzenden der [X.] verfügt. Dabei musste ihr als Urlaubsvertreterin dieses Vorsitzenden und in Anbetracht des in der Berufungsschrift angegebenen Zeitpunkts der Zustellung des angefochtenen Urteils bewusst sein, dass bei dieser Vorgehensweise eine Unterrichtung der Prozessbevollmächtigten der Beklagten über die bestehenden Zuständigkeitsbedenken vor Ablauf der am 9. Oktober 2008 endenden Berufungsfrist ausgeschlossen war.

(3) Bei dieser Sachlage lässt sich das Unterlassen des frühzeitig geplanten Hinweises auf eine mögliche Unzuständigkeit des zunächst angerufenen [X.]s nicht mit dem verfassungsrechtlich verbürgten Anspruch auf ein faires Verfahren in Einklang bringen. Die Abwägung zwischen den betroffenen Belangen muss hier zugunsten der Rechtsuchenden ausfallen. Für die Funktionsfähigkeit des angerufenen Gerichts stellt eine Unterrichtung des Rechtsmittelführers über die anlässlich einer vorläufigen Prüfung aufgekommenen Bedenken an seiner Zuständigkeit keine nennenswerte Belastung dar (vgl. zu diesem Gesichtspunkt etwa [X.], Beschluss vom 24. Juni 2010 - [X.]/09, aaO). Dies gilt jedenfalls dann, wenn - wie hier - der Hinweis auf eine mögliche Unzuständigkeit dem Rechtsmittelführer zusammen mit der - vom Gericht ohnehin zu veranlassenden - Bestätigung des Eingangs des Rechtsmittels erfolgen sollte. Dieser sonach gering einzustufenden Belastung des angerufenen Gerichts bei Ausführung der vorgesehenen Hinweisverfügung steht ein erhebliches Interesse der Beklagten an einer - bei Erteilung des geplanten Hinweises frühzeitig möglichen - Unterrichtung über bestehende Zuständigkeitsbedenken gegenüber. In Anbetracht dieser Interessenlage wäre die Vorsitzende der [X.] daher verpflichtet gewesen, den vorgesehenen Hinweis der Prozessbevollmächtigten der Beklagten im ordentlichen Geschäftsgang zu übermitteln, um hierdurch einer möglicherweise drohenden Fristversäumung vorzubeugen.

cc) Wie das nachfolgende Verhalten der Beklagten zu 1 und 2 zeigt, ist das Fehlverhalten des zunächst angerufenen [X.]s ursächlich für die Fristversäumung geworden. Die Beklagten haben dem nach Fristablauf erteilten Hinweis auf die [X.] des [X.]s umgehend Rechnung getragen und bei diesem am 17. Oktober 2008 (erneut) Berufung eingelegt. Wäre der am 19. September 2008 vermerkte Hinweis den Beklagten innerhalb der üblichen Geschäftslaufzeiten erteilt worden, hätten sie vor Ablauf der Berufungsfrist das zuständige [X.] anrufen können. In Anbetracht der zu beanstandenden Vorgehensweise des [X.]s wirkt sich das Verschulden der Prozessbevollmächtigten der Beklagten an der nachfolgenden Fristversäumnis nicht mehr aus (vgl. [X.] 93, 99, 114; Senatsbeschluss vom 5. Oktober 2005 - [X.]I ZB 125/04, aaO unter I[X.] aa; [X.], Beschluss vom 24. Juni 2010 - [X.]/09, aaO).

Ball                                    Dr. Milger                                    Dr. Hessel

                 Dr. Fetzer                                  Dr. Bünger

Meta

VIII ZB 20/09

14.12.2010

Bundesgerichtshof 8. Zivilsenat

Beschluss

Sachgebiet: ZB

vorgehend KG Berlin, 18. Dezember 2008, Az: 8 U 196/08, Beschluss

§ 85 Abs 2 ZPO, § 233 ZPO, § 234 ZPO, § 517 ZPO, § 119 Abs 1 Nr 1 Buchst b GVG, Art 2 Abs 1 GG, Art 19 Abs 4 GG

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 14.12.2010, Az. VIII ZB 20/09 (REWIS RS 2010, 416)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2010, 416

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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