Bundesgerichtshof, Beschluss vom 20.04.2011, Az. VII ZB 78/09

7. Zivilsenat | REWIS RS 2011, 7332

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Gegenstand

Wiedereinsetzung bei Verletzung des Anspruchs auf ein faires Verfahren: Unterlassene Weiterleitung eines Berufungsschriftsatzes an das örtlich zuständige Berufungsgericht


Leitsatz

Kann der Vorsitzende des Berufungsgerichts anlässlich der Aktenvorlage zur Vornahme prozessleitender Verfügungen ohne weiteres und einwandfrei erkennen, dass die örtliche Zuständigkeit des Berufungsgerichts unter keinem Gesichtspunkt eröffnet ist und veranlasst er gleichwohl nicht die noch rechtzeitig mögliche Einlegung der Berufung beim zuständigen Berufungsgericht, ist der Anspruch des Rechtsmittelführers auf ein faires Verfahren verletzt. Ein Verschulden der Partei oder ihres Prozessbevollmächtigten (§ 85 Abs. 2 ZPO) an der Fristversäumung wirkt sich dann nicht mehr aus, so dass der Partei Wiedereinsetzung zu gewähren ist (im Anschluss an BGH, Beschlüsse vom 5. Oktober 2005, VIII ZB 125/04, NJW 2005, 3776; vom 24. Juni 2010, V ZB 170/09, WuM 2010, 592 und vom 14. Dezember 2010, VIII ZB 20/09, NJW 2011, 683) .

Tenor

Auf die Rechtsbeschwerde der Beklagten wird der Beschluss der [X.] für Handelssachen des [X.] vom 12. Juni 2009 aufgehoben.

Der Beklagten wird Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Berufungsfrist gewährt.

Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

[X.]: 2.888,40 €

Gründe

I.

1

Das der Klage überwiegend stattgebende Urteil des Amtsgerichts ist den Prozessbevollmächtigten der [X.] am 5. November 2008 zugestellt worden. Der [X.] vom 24. November 2008 ist am 25. November 2008 beim [X.] eingegangen. In der Berufungsschrift ist das in erster Instanz tätige [X.] dreimal namentlich genannt. Zudem ist das Ersturteil als Anlage beigefügt gewesen. Zuständig für Berufungen gegen Urteile des [X.] ist das [X.] Am 26. November 2008 wurden der Klägerin Abschrift der Berufungsschrift erteilt und die Akten beim [X.] angefordert. An diesem Tag zeichnete [X.] der Berufungskammer des [X.] das [X.] und die Aktenanforderung beim [X.] ab. Nach Eingang der Vertretungsanzeige der Klägerin wies der Vorsitzende der Berufungskammer am 2. Dezember 2008 die Erteilung einer Abschrift an den [X.]vertreter an. Am 5. Dezember 2008 lief die Berufungsfrist ab. Am 19. März 2009 wurden die [X.]en vom [X.] auf dessen örtliche Unzuständigkeit hingewiesen. Daraufhin nahm die Beklagte ihre Berufung zum [X.] zurück, legte am 2. April 2009 Berufung beim [X.] ein und beantragte gleichzeitig Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Berufungsfrist.

2

Das Berufungsgericht hat die beantragte Wiedereinsetzung versagt und die Berufung der [X.] als unzulässig verworfen. Dagegen wendet sie sich mit der Rechtsbeschwerde.

II.

3

1. Die gemäß § 238 Abs. 2 Satz 1, § 522 Abs. 1 Satz 4, § 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 ZPO statthafte Rechtsbeschwerde ist zulässig, weil zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des [X.] erforderlich ist (§ 574 Abs. 2 Nr. 2 ZPO). Indem das Berufungsgericht der [X.] zu Unrecht Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen der Versäumung der Berufungsfrist verweigert hat, hat es das Verfahrensgrundrecht der [X.] auf Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes (Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. dem Rechtsstaatsprinzip) und auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) verletzt.

4

2. Die Rechtsbeschwerde ist begründet.

5

a) Die Beklagte hat den Wiedereinsetzungsantrag innerhalb der zweiwöchigen Frist des § 234 Abs. 1 Satz 1 ZPO gestellt und die versäumte Berufungseinlegung beim zuständigen [X.] gleichzeitig nachgeholt.

6

b) Das Berufungsgericht hält den Wiedereinsetzungsantrag für unbegründet. Die Versäumung der Frist beruhe auf einem der [X.] nach § 85 Abs. 2 ZPO zuzurechnenden Verhalten ihres Prozessbevollmächtigten, der die Zuständigkeitsregelungen missachtet und die Berufung beim örtlich unzuständigen [X.] eingelegt habe.

7

Die Beklagte könne sich auch nicht darauf berufen, dass das [X.] die Berufung innerhalb der Berufungsfrist an das zuständige [X.] hätte weiterleiten müssen. Zwar könne eine aus dem Gebot des fairen Verfahrens abgeleitete Fürsorgepflicht des Gerichts gegenüber den [X.]en es gebieten, dass Schriftsätze an das zuständige Gericht weitergeleitetet werden müssten. Das gelte aber nach der Rechtssprechung des [X.] nur für das im vorangegangenen Rechtszug mit der Sache befasste Gericht. Allgemein könne einer [X.] und ihrem Prozessbevollmächtigten die Verantwortung für die Ermittlung des richtigen Adressaten fristgebundener Prozesshandlungen nicht abgenommen und auf unzuständige Gerichte verlagert werden. Daher sei lediglich in Fällen willkürlichen, offenkundig nachlässigen Fehlverhaltens des Gerichts die Kausalität des Fehlverhaltens der [X.] und ihres Prozessbevollmächtigten unterbrochen (Bezug auf [X.], NJW 2002, 3692 f.).

8

Ein solcher Fall sei hier nicht gegeben. Die eigene Unzuständigkeit des [X.] sei nicht so offensichtlich gewesen, dass dieses seine Zuständigkeit sofort habe prüfen müssen. Es beruhe daher nicht auf grober Nachlässigkeit, dass das [X.] seine Unzuständigkeit erst nach Ablauf der Berufungsfrist bemerkt habe. Deshalb komme es auch nicht darauf an, dass zwischen dem ersten Befassen des Vorsitzenden der Berufungskammer und dem Ablauf der Berufungsfrist ein ausreichend langer Zeitraum von 10 Tagen gelegen habe, der die rechtzeitige Weiterleitung an das zuständige [X.] ermöglicht hätte. Hierauf abzustellen würde dem Gericht Prüfungspflichten aufbürden, die es im Hinblick auf das Interesse an einer funktionsfähigen Justiz nicht erfüllen könne.

9

c) Das hält der rechtlichen Nachprüfung nicht stand. Das Berufungsgericht hat der [X.] zu Unrecht Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Berufungsfrist versagt, weil sich das ihr zuzurechnende Verschulden ihrer Prozessbevollmächtigten im Hinblick auf die fehlerhafte Vorgehensweise des zunächst angerufenen Rechtsmittelgerichts nicht mehr ausgewirkt hat.

aa) Rechtsfehlerfrei ist das Berufungsgericht allerdings davon ausgegangen, dass die verspätete Einlegung der Berufung beim zuständigen Rechtsmittelgericht auf einem Verschulden der Prozessbevollmächtigten der [X.] beruhte. An einen mit der Berufungseinlegung betrauten Rechtsanwalt sind hinsichtlich der Ermittlung des zuständigen Rechtsmittelgerichts hohe Sorgfaltsanforderungen zu stellen (vgl. etwa [X.], Beschluss vom 24. Juni 2010 - [X.]/09, [X.], 592, 593 Rn. 5). Denn die Klärung der [X.] fällt in seinen Verantwortungsbereich. Er ist daher gehalten, die Rechtsmittelschrift und insbesondere die [X.] des darin bezeichneten Gerichts selbst auf ihre Richtigkeit zu überprüfen ([X.], Beschluss vom 12. April 2010 - [X.], NJW-RR 2010, 1096 Rn. 12 m.w.N.).

bb) Nicht frei von [X.] ist dagegen die Annahme des Berufungsgerichts, die Ursächlichkeit der der [X.] gemäß § 85 Abs. 2 ZPO zuzurechnenden schuldhaften Fristversäumnis ihrer Prozessbevollmächtigten sei nicht im Hinblick auf das Verhalten des Vorsitzenden der Zivilkammer des [X.] nachträglich entfallen (vgl. zu diesem Gesichtspunkt [X.]E 93, 99, 114 ff. m.w.N.; [X.], Beschluss vom 5. Oktober 2005 - [X.], [X.], 3776 unter [X.] b aa m.w.N.).

(1) Allerdings besteht anders als in Fällen, in denen fristgebundene Rechtsmittelschriftsätze irrtümlich bei dem im vorangegangenen Rechtszug mit der Sache bereits befassten Gericht eingereicht werden (vgl. dazu etwa [X.], Beschluss vom 28. Juni 2007 - [X.], [X.], 1276, 1277 m.w.N.), keine generelle Fürsorgepflicht des für die Rechtsmitteleinlegung unzuständigen Rechtsmittelgerichts, durch Hinweise oder andere geeignete Maßnahmen eine Fristversäumung des Rechtsmittelführers zu verhindern (vgl. [X.], Beschlüsse vom 15. Juni 2004 - [X.], NJW-RR 2004, 1655, 1656 und vom 18. März 2008 - [X.], [X.], 1890, 1891, jeweils m.w.N.). Die Abgrenzung dessen, was im Rahmen einer fairen Verfahrensgestaltung an richterlicher Fürsorge von [X.] wegen geboten ist, kann sich nicht nur am Interesse der Rechtsuchenden an einer möglichst weitgehenden Verfahrenserleichterung orientieren, sondern muss auch berücksichtigen, dass die Justiz im Interesse ihrer Funktionsfähigkeit vor zusätzlicher Belastung geschützt werden muss. Einer [X.] und ihrem Prozessbevollmächtigten muss die Verantwortung für die Ermittlung des richtigen Adressaten fristgebundener [X.] nicht allgemein abgenommen und auf unzuständige Gerichte verlagert werden (vgl. [X.]E 93, 99, 114; [X.] NJW 2001, 1343; 2006, 1579; [X.], Beschlüsse vom 5. Oktober 2005 - [X.], [X.], 3776, 3777; und vom 18. März 2008, aaO, 1891).

(2) Etwas anders gilt allerdings dann, wenn die Unzuständigkeit des angerufenen Gerichts "ohne weiteres" bzw. "leicht und einwandfrei" zu erkennen war und die nicht rechtzeitige Aufdeckung der nicht gegebenen Zuständigkeit auf einem offenkundig nachlässigen Fehlverhalten des angerufenen Gerichts beruht (vgl. [X.] NJW 2002, 3692, 3693; 2006, 1579). In diesen Fällen stellt es für die Funktionsfähigkeit des angerufenen Gerichts keine nennenswerte Belastung dar, einen fehlgeleiteten Schriftsatz im Rahmen des üblichen Geschäftsgangs an das zuständige Gericht weiterzuleiten. Geschieht dies nicht, geht die nachfolgende Fristversäumnis nicht zu Lasten des Rechtsuchenden ([X.] NJW 2006, 1579); das Verschulden des Prozessbevollmächtigten wirkt sich dann nicht mehr aus (vgl. [X.], Beschluss vom 5. Oktober 2005, [X.], 3776, 3777 m.w.N.). Ein solcher Fall liegt hier entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts vor.

Der Vorsitzende der Berufungskammer des [X.] war mit einem Blick auf die Berufungsschrift vom 24. November 2008 und das als Anlage beigefügte Urteil des [X.] in der Lage zu erkennen, dass die Zuständigkeit seines Gerichts unter keinem denkbaren Gesichtspunkt gegeben war. Anders als in den entschiedenen Fällen der Zuständigkeit mit Auslandsbezug nach § 119 Abs. 1 Satz 1 Buchst. b GVG a.F. (vgl. [X.], Beschlüsse vom 5. Oktober 2005 - [X.], [X.], 3776 und vom 14. Dezember 2010 - [X.], NJW 2011, 683; [X.], NJW 2006, 1579) war die Zuständigkeitsprüfung auch nicht schwierig oder nur mittels der Verfahrensakte zu ermitteln, sondern eindeutig allein auf Grund der Zuordnung des [X.] zum Gerichtsbezirk des [X.]s T. vorzunehmen. Der Vorsitzende war am 25. November und 2. Dezember 2008 mit der Sache befasst und hat prozessleitende Verfügungen getroffen. Dabei musste ihm die offensichtliche örtliche Unzuständigkeit seines Gerichts sofort und ohne weitere Prüfung ins Auge fallen. Er war ohne Anstrengung und ohne nennenswerte Belastung sofort in der Lage, den fehlgeleiteten [X.] an das zuständige [X.] weiterzuleiten oder den Prozessbevollmächtigten der [X.] jedenfalls auf die fehlende örtliche Zuständigkeit des [X.] hinzuweisen. Da die Berufungsfrist erst am 5. Dezember 2008 ablief, mithin zwischen dem Eingang der Berufungsschrift und der ersten Möglichkeit des Gerichts, die Unzuständigkeit zu bemerken und zu reagieren, ein vergleichsweise langer Zeitraum von 10 Tagen lag, hätten alle Maßnahmen zu einem rechtzeitigen Eingang beim zuständigen [X.] geführt. In diesem Fall geht die nachfolgende Fristversäumung nicht zu Lasten des Rechtssuchenden; das Verschulden seines Prozessbevollmächtigten wirkt sich dann nicht mehr kausal aus.

d) Der [X.] war danach unter Aufhebung des angefochtenen Beschlusses Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Berufungsfrist zu gewähren.

Die Verwerfung der Berufung als unzulässig ist gegenstandslos.

[X.]                                 [X.]

                      Halfmeier                               [X.]

Meta

VII ZB 78/09

20.04.2011

Bundesgerichtshof 7. Zivilsenat

Beschluss

Sachgebiet: ZB

vorgehend LG Tübingen, 12. Juni 2009, Az: 20 S 1/09, Beschluss

§ 85 Abs 2 ZPO, § 233 ZPO, Art 2 Abs 1 GG, Art 103 Abs 1 GG

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 20.04.2011, Az. VII ZB 78/09 (REWIS RS 2011, 7332)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2011, 7332

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