Bundesgerichtshof, Entscheidung vom 20.04.2011, Az. VII ZB 78/09

VII. Zivilsenat | REWIS RS 2011, 7325

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BUN[X.]ESGERICHTSHOF BESCHLUSS [X.]/09
vom 20. April 2011 in dem Rechtsstreit Nachschlagewerk: ja [X.]: nein [X.]R: [X.] §§ 85 Abs. 2, 233 [X.] Kann der Vorsitzende des Berufungsgerichts anlässlich der Aktenvorlage zur [X.] prozessleitender Verfügungen ohne weiteres und einwandfrei erkennen, dass die örtliche Zuständigkeit des Berufungsgerichts unter keinem Gesichtspunkt eröffnet ist und veranlasst er gleichwohl nicht die noch rechtzeitig mögliche Einlegung der Berufung beim zuständigen Berufungsgericht, ist der Anspruch des [X.] auf ein faires Verfahren verletzt. Ein Verschulden der [X.] oder ihres Prozess-bevollmächtigten (§ 85 Abs. 2 ZPO) an der Fristversäumung wirkt sich dann nicht mehr aus, so dass der [X.] Wiedereinsetzung zu gewähren ist (im [X.] an [X.], Beschlüsse vom 5. Oktober 2005 - [X.], [X.], 3776, vom 24. Juni 2010 - [X.]/09, [X.], 592 und vom 14. [X.]ezember 2010 - [X.], NJW 2011, 683). [X.], Beschluss vom 20. April 2011 - [X.]/09 - [X.] - 2 - [X.]er [X.]. Zivilsenat des [X.] hat am 20. April 2011 durch [X.] [X.]r. [X.] und [X.], [X.]r. Eick, [X.] und Prof. [X.] beschlossen: Auf die Rechtsbeschwerde der [X.] wird der Beschluss der [X.] für Handelssachen des [X.] vom 12. Juni 2009 aufgehoben. [X.]er [X.] wird Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Berufungsfrist gewährt. [X.]ie Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das [X.] zurückverwiesen. [X.]: 2.888,40 • Gründe: [X.] [X.]as der Klage überwiegend stattgebende Urteil des Amtsgerichts ist den Prozessbevollmächtigten der [X.] am 5. November 2008 zugestellt [X.]. [X.]er [X.] vom 24. November 2008 ist am 25. [X.] beim [X.] eingegangen. In der Berufungsschrift ist das in erster Instanz tätige [X.] dreimal namentlich genannt. Zudem ist das 1 - 3 - Ersturteil als Anlage beigefügt gewesen. Zuständig für Berufungen gegen [X.] des [X.] ist das [X.] Am 26. November 2008 wurden der Klägerin Abschrift der Berufungsschrift erteilt und die Akten beim Amtsge-richt [X.] angefordert. An diesem Tag zeichnete [X.] der Be-rufungskammer des [X.] das [X.] und die Aktenanforde-rung beim [X.] ab. Nach Eingang der Vertretungsanzeige der Kläge-rin wies der Vorsitzende der Berufungskammer am 2. [X.]ezember 2008 die Ertei-lung einer Abschrift an den [X.]vertreter an. Am 5. [X.]ezember 2008 lief die Berufungsfrist ab. Am 19. März 2009 wurden die [X.]en vom [X.] auf dessen örtliche Unzuständigkeit hingewiesen. [X.]araufhin nahm die Beklagte ihre Berufung zum [X.] zurück, legte am 2. April 2009 [X.] beim [X.] ein und beantragte gleichzeitig Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Berufungsfrist. [X.]as Berufungsgericht hat die beantragte Wiedereinsetzung versagt und die Berufung der [X.] als unzulässig verworfen. [X.]agegen wendet sie sich mit der Rechtsbeschwerde. 2 I[X.] 1. [X.]ie gemäß § 238 Abs. 2 Satz 1, § 522 Abs. 1 Satz 4, § 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 ZPO statthafte Rechtsbeschwerde ist zulässig, weil zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des [X.] erforderlich ist (§ 574 Abs. 2 Nr. 2 ZPO). Indem das Berufungsgericht der [X.] zu Unrecht Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen der Versäumung der Berufungsfrist verweigert hat, hat es das Verfahrensgrund-recht der [X.] auf Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes (Art. 2 3 - 4 - Abs. 1 GG i.V.m. dem Rechtsstaatsprinzip) und auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) verletzt. 4 2. [X.]ie Rechtsbeschwerde ist begründet. 5 a) [X.]ie Beklagte hat den Wiedereinsetzungsantrag innerhalb der zweiwö-chigen Frist des § 234 Abs. 1 Satz 1 ZPO gestellt und die versäumte [X.]seinlegung beim zuständigen [X.] gleichzeitig nachgeholt. b) [X.]as Berufungsgericht hält den Wiedereinsetzungsantrag für unbe-gründet. [X.]ie Versäumung der Frist beruhe auf einem der [X.] nach § 85 Abs. 2 ZPO zuzurechnenden Verhalten ihres Prozessbevollmächtigten, der die Zuständigkeitsregelungen missachtet und die Berufung beim örtlich unzustän-digen [X.] eingelegt habe. 6 [X.]ie Beklagte könne sich auch nicht darauf berufen, dass das [X.] die Berufung innerhalb der Berufungsfrist an das zuständige [X.] hätte weiterleiten müssen. Zwar könne eine aus dem Gebot des fairen Verfahrens abgeleitete Fürsorgepflicht des Gerichts gegenüber den [X.]en es gebieten, dass Schriftsätze an das zuständige Gericht weitergeleitetet werden müssten. [X.]as gelte aber nach der Rechtssprechung des Bundesverfassungs-gerichts nur für das im vorangegangenen Rechtszug mit der Sache befasste Gericht. Allgemein könne einer [X.] und ihrem Prozessbevollmächtigten die Verantwortung für die Ermittlung des richtigen Adressaten fristgebundener [X.] nicht abgenommen und auf unzuständige Gerichte verlagert werden. [X.]aher sei lediglich in Fällen willkürlichen, offenkundig nachlässigen Fehlverhaltens des Gerichts die Kausalität des Fehlverhaltens der [X.] und ihres Prozessbevollmächtigten unterbrochen (Bezug auf [X.], NJW 2002, 3692 f.). 7 - 5 - Ein solcher Fall sei hier nicht gegeben. [X.]ie eigene Unzuständigkeit des [X.] sei nicht so offensichtlich gewesen, dass dieses seine Zustän-digkeit sofort habe prüfen müssen. Es beruhe daher nicht auf grober Nachläs-sigkeit, dass das [X.] seine Unzuständigkeit erst nach Ablauf der Berufungsfrist bemerkt habe. [X.]eshalb komme es auch nicht darauf an, dass zwischen dem ersten Befassen des Vorsitzenden der Berufungskammer und dem Ablauf der Berufungsfrist ein ausreichend langer Zeitraum von 10 Tagen gelegen habe, der die rechtzeitige Weiterleitung an das zuständige [X.] ermöglicht hätte. Hierauf abzustellen würde dem Gericht Prüfungspflich-ten aufbürden, die es im Hinblick auf das Interesse an einer funktionsfähigen Justiz nicht erfüllen könne. 8 c) [X.]as hält der rechtlichen Nachprüfung nicht stand. [X.]as Berufungsge-richt hat der [X.] zu Unrecht Wiedereinsetzung in den vorigen Stand we-gen Versäumung der Berufungsfrist versagt, weil sich das ihr zuzurechnende Verschulden ihrer Prozessbevollmächtigten im Hinblick auf die fehlerhafte [X.] des zunächst angerufenen Rechtsmittelgerichts nicht mehr [X.] hat. 9 aa) Rechtsfehlerfrei ist das Berufungsgericht allerdings davon [X.], dass die verspätete Einlegung der Berufung beim zuständigen Rechtsmittelgericht auf einem Verschulden der Prozessbevollmächtigten der [X.] beruhte. An einen mit der Berufungseinlegung betrauten [X.] sind hinsichtlich der Ermittlung des zuständigen Rechtsmittelgerichts hohe Sorgfaltsanforderungen zu stellen (vgl. etwa [X.], Beschluss vom 24. Juni 2010 - [X.]/09, [X.], 592, 593 Rn. 5). [X.]enn die Klärung der [X.] fällt in seinen Verantwortungsbereich. Er ist daher gehalten, die Rechtsmittelschrift und insbesondere die Rechtsmittelzuständig-keit des darin bezeichneten Gerichts selbst auf ihre Richtigkeit zu überprüfen 10 - 6 - ([X.], Beschluss vom 12. April 2010 - [X.], NJW-RR 2010, 1096 Rn. 12 m.w.N.). 11 bb) Nicht frei von [X.] ist dagegen die Annahme des [X.]s, die Ursächlichkeit der der [X.] gemäß § 85 Abs. 2 ZPO zuzurechnenden schuldhaften Fristversäumnis ihrer Prozessbevollmächtigten sei nicht im Hinblick auf das Verhalten des Vorsitzenden der Zivilkammer des [X.] nachträglich entfallen (vgl. zu diesem Gesichtspunkt [X.]E 93, 99, 114 ff. m.w.N.; [X.], Beschluss vom 5. Oktober 2005 - [X.], [X.], 3776 unter [X.] b aa m.w.N.). (1) Allerdings besteht anders als in Fällen, in denen fristgebundene Rechtsmittelschriftsätze irrtümlich bei dem im vorangegangenen Rechtszug mit der Sache bereits befassten Gericht eingereicht werden (vgl. dazu etwa [X.], Beschluss vom 28. Juni 2007 - [X.], M[X.]R 2007, 1276, 1277 m.w.N.), keine generelle Fürsorgepflicht des für die Rechtsmitteleinlegung unzuständi-gen Rechtsmittelgerichts, durch Hinweise oder andere geeignete Maßnahmen eine Fristversäumung des Rechtsmittelführers zu verhindern (vgl. [X.], [X.] vom 15. Juni 2004 - [X.], NJW-RR 2004, 1655, 1656 und vom 18. März 2008 - [X.]I ZB 4/06, [X.], 1890, 1891, jeweils m.w.N.). [X.]ie [X.] dessen, was im Rahmen einer fairen Verfahrensgestaltung an richter-licher Fürsorge von [X.] wegen geboten ist, kann sich nicht nur am [X.] an einer möglichst weitgehenden Verfahrenser-leichterung orientieren, sondern muss auch berücksichtigen, dass die Justiz im Interesse ihrer Funktionsfähigkeit vor zusätzlicher Belastung geschützt werden muss. Einer [X.] und ihrem Prozessbevollmächtigten muss die Verantwortung für die Ermittlung des richtigen Adressaten fristgebundener [X.] nicht allgemein abgenommen und auf unzuständige Gerichte verlagert werden (vgl. [X.]E 93, 99, 114; [X.] NJW 2001, 1343; 2006, 1579; [X.], 12 - 7 - Beschlüsse vom 5. Oktober 2005 - [X.], [X.], 3776, 3777; und vom 18. März 2008, aaO, 1891). 13 (2) Etwas anders gilt allerdings dann, wenn die Unzuständigkeit des an-gerufenen Gerichts "ohne weiteres" bzw. "leicht und einwandfrei" zu erkennen war und die nicht rechtzeitige Aufdeckung der nicht gegebenen Zuständigkeit auf einem offenkundig nachlässigen Fehlverhalten des angerufenen Gerichts beruht (vgl. [X.] NJW 2002, 3692, 3693; 2006, 1579). In diesen Fällen stellt es für die Funktionsfähigkeit des angerufenen Gerichts keine nennenswerte Belastung dar, einen fehlgeleiteten Schriftsatz im Rahmen des üblichen Ge-schäftsgangs an das zuständige Gericht weiterzuleiten. Geschieht dies nicht, geht die nachfolgende Fristversäumnis nicht zu Lasten des Rechtsuchenden ([X.] NJW 2006, 1579); das Verschulden des Prozessbevollmächtigten wirkt sich dann nicht mehr aus (vgl. [X.], Beschluss vom 5. Oktober 2005, [X.], 3776, 3777 m.w.N.). Ein solcher Fall liegt hier entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts vor. [X.]er Vorsitzende der Berufungskammer des [X.] war mit ei-nem Blick auf die Berufungsschrift vom 24. November 2008 und das als Anlage beigefügte Urteil des [X.] in der Lage zu erkennen, dass die [X.] seines Gerichts unter keinem denkbaren Gesichtspunkt gegeben war. Anders als in den entschiedenen Fällen der Zuständigkeit mit [X.] nach § 119 Abs. 1 Satz 1 Buchst. b GVG a.F. (vgl. [X.], Beschlüsse vom 5. Oktober 2005 - [X.], [X.], 3776 und vom [X.] - [X.], NJW 2011, 683; [X.], NJW 2006, 1579) war die Zuständigkeitsprüfung auch nicht schwierig oder nur mittels der Verfahrensakte zu ermitteln, sondern eindeutig allein auf Grund der Zuordnung des Amtsge-richts [X.] zum Gerichtsbezirk des [X.]s T. vorzunehmen. [X.]er [X.] war am 25. November und 2. [X.]ezember 2008 mit der Sache befasst und hat 14 - 8 - prozessleitende Verfügungen getroffen. [X.]abei musste ihm die offensichtliche örtliche Unzuständigkeit seines Gerichts sofort und ohne weitere Prüfung ins Auge fallen. Er war ohne Anstrengung und ohne nennenswerte Belastung sofort in der Lage, den fehlgeleiteten [X.] an das zuständige [X.] weiterzuleiten oder den Prozessbevollmächtigten der [X.] jeden-falls auf die fehlende örtliche Zuständigkeit des [X.] hinzuweisen. [X.]a die Berufungsfrist erst am 5. [X.]ezember 2008 ablief, mithin zwischen dem Eingang der Berufungsschrift und der ersten Möglichkeit des Gerichts, die [X.] zu bemerken und zu reagieren, ein vergleichsweise langer Zeit-raum von 10 Tagen lag, hätten alle Maßnahmen zu einem rechtzeitigen Ein-gang beim zuständigen [X.] geführt. In diesem Fall geht die nachfol-gende Fristversäumung nicht zu Lasten des Rechtssuchenden; das [X.] seines Prozessbevollmächtigten wirkt sich dann nicht mehr kausal aus. d) [X.]er [X.] war danach unter Aufhebung des angefochtenen [X.] Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Be-rufungsfrist zu gewähren. 15 - 9 - 16 [X.]ie Verwerfung der Berufung als unzulässig ist gegenstandslos. [X.] [X.] Eick [X.] [X.] Vorinstanzen: [X.], Entscheidung vom 24.10.2008 - 7 C 323/07 - [X.], Entscheidung vom 12.06.2009 - 20 S 1/09 -

Meta

VII ZB 78/09

20.04.2011

Bundesgerichtshof VII. Zivilsenat

Sachgebiet: ZB

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Entscheidung vom 20.04.2011, Az. VII ZB 78/09 (REWIS RS 2011, 7325)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2011, 7325

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VII ZB 78/09

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