Bundesverfassungsgericht, Ablehnung einstweilige Anordnung vom 01.05.2020, Az. 1 BvR 1003/20

1. Senat 1. Kammer | REWIS RS 2020, 2762

Foto: © Bundesverfassungsgericht │ foto USW. Uwe Stohrer, Freiburg

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Gegenstand

Ablehnung eines Eilantrags im Verfassungsbeschwerdeverfahren: Verweigerung einer Ausnahme von dem Versammlungsverbot gem § 2 Abs 1 S 1 der Hamburgischen SARS-CoV-2-Eindämmungsverordnung (juris: CoronaVV HA) – Folgenabwägung – erhebliche Überschreitung der als vertretbar angesehenen Teilnehmerzahl zu erwarten


Tenor

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird abgelehnt.

Gründe

1

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung hat keinen Erfolg.

2

1. Nach § 32 Abs. 1 [X.] kann das [X.] im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Dabei haben die Gründe, die der Antragsteller für die Verfassungswidrigkeit des angegriffenen Hoheitsakts anführt, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben, es sei denn, die Verfassungsbeschwerde in der Hauptsache erweist sich von vornherein als unzulässig oder offensichtlich unbegründet (vgl. [X.] 7, 367 <371>; 134, 138 <140 Rn. 6>; stRspr). Erkennbare Erfolgsaussichten einer Verfassungsbeschwerde gegen eine verwaltungsgerichtliche Eilentscheidung sind zu berücksichtigen, wenn ein Abwarten den Grundrechtsschutz mit hoher Wahrscheinlichkeit vereitelte (vgl. [X.] 111, 147 <153>; [X.], Beschluss der [X.] des [X.] vom 24. März 2018 - 1 BvQ 18/18 -, Rn. 5; Beschluss der [X.] des [X.] vom 17. April 2020 - 1 BvQ 37/20 -, Rn. 13; Beschluss der [X.] des [X.] vom 29. April 2020 - 1 BvQ 44/20 -, Rn. 7). Bei einem offenen Ausgang der Verfassungsbeschwerde sind die Folgen, die eintreten würden, wenn die einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber später Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen abzuwägen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfassungsbeschwerde jedoch der Erfolg versagt bliebe (vgl. [X.] 131, 47 <55>; 132, 195 <232 f. Rn. 87>; stRspr). Wegen der meist weittragenden Folgen, die eine einstweilige Anordnung in einem verfassungsgerichtlichen Verfahren auslöst, ist bei der Prüfung der Voraussetzungen des § 32 Abs. 1 [X.] ein strenger Maßstab anzulegen (vgl. [X.] 131, 47 <55>; 132, 195 <232 Rn. 86>; stRspr).

3

2. Ausgehend davon kommt der Erlass einer einstweiligen Anordnung nicht in Betracht.

4

a) Die Verfassungsbeschwerde erscheint zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht von vornherein unzulässig und zumindest nicht offensichtlich unbegründet.

5

b) Die danach gebotene Folgenabwägung geht zum Nachteil des Beschwerdeführers aus.

6

Wenn die einstweilige Anordnung nicht erginge, sich nach Durchführung des Hauptsacheverfahrens jedoch herausstellte, dass die Verweigerung der Zulassung einer Ausnahme von dem grundsätzlichen Versammlungsverbot in § 2 Abs. 1 Satz 1 der Verordnung zur Eindämmung der Ausbreitung des Coronavirus SARS-CoV-2 in der [X.] ([X.]) vom 2. April 2020 ([X.]), zuletzt geändert durch Verordnung vom 24. April 2020 (HmbGVBl S. 232), nach § 3 Abs. 2 HmbSARS-CoV-2-EindämmungsVO verfassungswidrig ist, wäre der Beschwerdeführer in seinem Grundrecht auf Versammlungsfreiheit gemäß Art. 8 Abs. 1 [X.] verletzt. Diese Grundrechtsverletzung wäre von erheblichem Gewicht nicht nur im Hinblick auf den Beschwerdeführer, dem die Ausübung seiner grundrechtlichen Freiheit in Bezug auf diese Versammlung verunmöglicht worden wäre, sondern angesichts der Bedeutung der Versammlungsfreiheit für eine freiheitliche Staatsordnung auch im Hinblick auf das [X.] Gemeinwesen insgesamt.

7

Erginge demgegenüber eine einstweilige Anordnung und würde sich später herausstellen, dass die [X.] zu Recht abgelehnt worden ist, weil die Antragsgegnerin des [X.] im Einklang mit verfassungsrechtlichen Vorgaben annehmen durfte, dass eine Zulassung - auch unter Auflagen, insbesondere zur Beschränkung der Teilnehmerzahl - nicht im Sinne von § 3 Abs. 2 Satz 1 HmbSARS-CoV-2-EindämmungsVO "aus infektionsschutzrechtlicher Sicht vertretbar ist", wären grundrechtlich geschützte Interessen einer großen Anzahl Dritter von hohem Gewicht betroffen. Das grundsätzliche Versammlungsverbot mit Ausnahmevorbehalt nach § 2 Abs. 1 Satz 1 HmbSARS-CoV-2-EindämmungsVO, dessen Vereinbarkeit mit Art. 8 [X.] im Eilverfahren offenbleiben muss (vgl. [X.], Beschluss der [X.] des [X.] vom 17. April 2020 - 1 BvQ 37/20 -, Rn. 23), dient in Ansehung der aktuellen [X.] dem in § 1 Abs. 1 des der Verordnung zugrunde liegenden Infektionsschutzgesetzes umschriebenen Zweck, übertragbaren Krankheiten beim Menschen vorzubeugen, Infektionen frühzeitig zu erkennen und ihre Weiterverbreitung zu verhindern. Ziel der Verordnung ist namentlich der Schutz von Leben und körperlicher Unversehrtheit, zu dem der Staat prinzipiell [X.] seiner grundrechtlichen Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 [X.] angehalten ist (vgl. [X.] 77, 170 <214>; 85, 191 <212>; 115, 25 <44 f.>).

8

Bei Durchführung der Versammlung stünde nach übereinstimmender und anhand der konkreten Umstände des Einzelfalls dargelegter Einschätzung der Antragsgegnerin des [X.], des [X.] und des [X.] insbesondere zu erwarten, dass es nicht bei der von dem Beschwerdeführer zuletzt angegebenen - von der Antragsgegnerin des [X.] als grundsätzlich infektionsschutzrechtlich vertretbar angesehenen - Zahl von 25 Versammlungsteilnehmern bliebe. Die bereits seit August 2019 in zunächst umfassenderer Form geplante Veranstaltung sei im [X.] sowie mit Flugblättern stark beworben worden. Deshalb sei ein erheblich größerer an einer Teilnahme interessierter Personenkreis zu erwarten, der überdies eine behördliche Beschränkung der Teilnehmerzahl nicht durchweg akzeptieren und sich dem steuernden Einfluss sowohl von Ordnern als auch der Polizei entziehen beziehungsweise widersetzen werde. In der Folge sei die Einhaltung der aus Gründen des Infektionsschutzes gebotenen Mindestabstände nicht gewährleistet. In der Folge bestünde die Gefahr einer weiteren und nicht nachvollziehbaren Ausbreitung des Virus.

9

Gegen diese Einschätzung ist nichts zu erinnern. Insoweit legt das [X.] der Prüfung des [X.] die Tatsachenfeststellungen und Tatsachenwürdigungen in den angegriffenen Entscheidungen zugrunde. Anderes wäre nur dann geboten, wenn die getroffenen Tatsachenfeststellungen offensichtlich fehlsam wären oder die Tatsachenwürdigungen unter Berücksichtigung der betroffenen Grundrechtsnormen offensichtlich nicht trüge ([X.]K 3, 97 <99>; [X.], Beschluss der [X.] des [X.] vom 29. August 2015 - 1 BvQ 32/15 -, Rn. 1; jeweils m.w.N.). Das ist hier nicht der Fall, insbesondere auch soweit sich der Beschwerdeführer gegen die Einschätzung einer die Zahl von 25 erheblich übersteigenden Zahl potentieller Versammlungsteilnehmer wendet. Sein Verweis auf eine öffentliche Versammlung seiner [X.] am 25. April 2020 in [X.], an der sich nur 27 Personen beteiligt hätten, sowie auf eine ebenfalls am 1. Mai 2020 geplante Kundgebung eines Kreisverbandes in [X.] und weitere ihm "kursorisch" bekannte [X.] der [X.] für den 1. Mai 2020 in [X.] ist nicht geeignet, die den angegriffenen Entscheidungen zugrunde liegende Teilnehmerprognose in Bezug auf die seit langem und ursprünglich in größerem Maßstab geplante sowie im [X.] und mit Flugblättern stark beworbene Versammlung des Beschwerdeführers als offensichtlich fehlerhaft erscheinen zu lassen.

Bei Gegenüberstellung der danach jeweils zu erwartenden Folgen muss das Interesse des Antragstellers an der Durchführung der geplanten Versammlung zurücktreten. Die Beeinträchtigung seiner Versammlungsfreiheit ist zwar schwerwiegend, zumal die angeführten gesundheitlichen Risiken wesentlich auch - aber nicht ausschließlich - auf dem Verhalten Dritter beruhen, vor deren Störungen der Staat eine Versammlung grundsätzlich zu schützen hat (vgl. [X.], Beschluss der [X.] des [X.] vom 11. September 2015 - 1 BvR 2211/15 -, Rn. 3 f.). Gleichwohl überwiegt im vorliegenden Fall das Interesse an der Abwehr infektionsbedingter Risiken für Leib und Leben einer Vielzahl von Personen, weil unter den hier gegebenen Umständen voraussichtlich eine enge räumliche Nähe bis hin zu unmittelbaren Körperkontakten unvermeidlich wäre.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Meta

1 BvR 1003/20

01.05.2020

Bundesverfassungsgericht 1. Senat 1. Kammer

Ablehnung einstweilige Anordnung

Sachgebiet: BvR

vorgehend Hamburgisches Oberverwaltungsgericht, 30. April 2020, Az: 5 Bs 66/20, Beschluss

Art 8 Abs 1 GG, Art 8 Abs 2 GG, § 32 Abs 1 BVerfGG, § 2 Abs 1 S 1 CoronaVV HA, § 3 Abs 2 S 1 CoronaVV HA

Zitier­vorschlag: Bundesverfassungsgericht, Ablehnung einstweilige Anordnung vom 01.05.2020, Az. 1 BvR 1003/20 (REWIS RS 2020, 2762)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2020, 2762

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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