Bundesverfassungsgericht, Ablehnung einstweilige Anordnung vom 16.05.2020, Az. 1 BvQ 55/20

1. Senat 1. Kammer | REWIS RS 2020, 2784

Foto: © Bundesverfassungsgericht │ foto USW. Uwe Stohrer, Freiburg

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Gegenstand

Ablehnung eines Antrags auf Erlass einer einstweiligen Anordnung, gerichtet auf die Erteilung einer Ausnahmegenehmigung vom Versammlungsverbot des § 5 Abs 1, Abs 3 CoronaV4V BB: Subsidiarität bei unzureichendem Vortrag im fachgerichtlichen Eilrechtsschutzverfahren - zudem Folgenabwägung zu Lasten des Antragstellers


Tenor

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird abgelehnt.

Gründe

1

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung hat keinen Erfolg.

2

1. Nach § 32 Abs. 1 [X.] kann das [X.] im Streitfall - auch schon vor Anhängigkeit eines Verfahrens zur Hauptsache (vgl. [X.] 134, 135 <137 Rn. 3> m.w.N.; stRspr) - einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Dabei haben die Gründe, die der Antragsteller für die Verfassungswidrigkeit des angegriffenen Hoheitsakts anführt, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben, es sei denn, die Verfassungsbeschwerde in der Hauptsache erweist sich von vornherein als unzulässig oder offensichtlich unbegründet (vgl. [X.] 7, 367 <371>; 134, 138 <140 Rn. 6>; stRspr). Erkennbare Erfolgsaussichten einer Verfassungsbeschwerde gegen eine verwaltungsgerichtliche Eilentscheidung sind zu berücksichtigen, wenn ein Abwarten den Grundrechtsschutz mit hoher Wahrscheinlichkeit vereitelte (vgl. [X.] 111, 147 <153>; [X.], Beschluss der [X.] des [X.] vom 24. März 2018 - 1 BvQ 18/18 -, Rn. 5; Beschluss der [X.] des [X.] vom 17. April 2020 - 1 BvQ 37/20 -, Rn. 13; Beschluss der [X.] des [X.] vom 29. April 2020 - 1 BvQ 44/20 -, Rn. 7). Bei einem offenen Ausgang der Verfassungsbeschwerde sind die Folgen, die eintreten würden, wenn die einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber später Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen abzuwägen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfassungsbeschwerde jedoch der Erfolg versagt bliebe (vgl. [X.] 131, 47 <55>; 132, 195 <232>; stRspr). Wegen der meist weittragenden Folgen, die eine einstweilige Anordnung in einem verfassungsgerichtlichen Verfahren auslöst, ist bei der Prüfung der Voraussetzungen des § 32 Abs. 1 [X.] ein strenger Maßstab anzulegen (vgl. [X.] 131, 47 <55>; 132, 195 <232>; stRspr). Maßgebend für die Beurteilung ist der Verfahrensstand im Zeitpunkt der Entscheidung ([X.], Beschluss der [X.] des [X.] vom 10. März 2010 - 1 BvQ 4/10 -, Rn. 14).

3

2. Hier kommt der Erlass einer einstweiligen Anordnung nicht in Betracht.

4

a) Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist unzulässig, weil er dem auch im Verfahren des verfassungsgerichtlichen [X.]es geltenden Grundsatz der Subsidiarität (vgl. [X.], Beschluss der [X.] des Erstens Senats vom 13. August 2019 - 1 BvQ 66/19 -, Rn. 2; Beschluss der [X.] des Zweiten Senats vom 4. Dezember 2019 - 2 BvQ 91/19 -, Rn. 2; stRspr) nicht genügt. Der Antragsteller hat im fachgerichtlichen Verfahren des [X.]es nicht hinreichend vorgetragen.

5

Das Oberverwaltungsgericht, das gemäß § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO im Beschwerdeverfahren des verwaltungsgerichtlichen [X.]es nur die von dem Beschwerdeführer dargelegten Gründe prüft, hat entscheidungstragend (auch) darauf abgestellt, der Antragsteller habe die auf die konkrete Versammlung bezogenen Annahmen des [X.] nicht angegriffen. Danach habe das Verwaltungsgericht zur Begründung seiner die Gewährung von [X.] ablehnenden Entscheidung darauf abgestellt, es erscheine lebensfremd, dass es bei einer Versammlung mit nahezu 1.000 Teilnehmern auch unter Berücksichtigung der begrenzten örtlichen Gegebenheiten nicht zu gravierenden Verstößen gegen die nach wie vor geltenden und auch von dem Antragsteller nicht in Abrede gestellten [X.] und damit zur Infektion von Versammlungsteilnehmern und mit ihnen in Kontakt tretenden dritten Personen kommen könne. Dieses Risiko werde dadurch erhöht, dass - anders als zum Teil in anderen Bundesländern - eine Verpflichtung zum Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung bei der Teilnahme an Versammlungen in [X.] nicht vorgeschrieben sei.

6

Aus den Darlegungen des Antragstellers im verfassungsgerichtlichen Eilverfahren ergibt sich nicht, dass er insoweit seiner prozessualen Darlegungsobliegenheit gemäß § 146 Abs. 4 Satz 3 und 6 VwGO tatsächlich nachgekommen wäre und das Oberverwaltungsgericht insoweit etwa Beschwerdevorbringen übergangen hätte. Soweit er diesbezüglich ausführt, das Oberverwaltungsgericht habe seinen Vortrag zu den Erfahrungen mit zwei von ihm bereits in den beiden Vorwochen veranstalteten Versammlungen übersehen, greift dies schon deshalb nicht durch, weil nach seinen eigenen Angaben an diesen Versammlungen lediglich 120 bzw. 300 Personen teilgenommen hatten. Selbst wenn dabei, wie der Antragsteller geltend macht, die Einhaltung infektionsschutzrechtlich gebotener Abstände gewährleistet gewesen sein sollte, ist dies nicht geeignet, die - im Übrigen auch nach Einschätzung der Kammer plausible und verfassungsrechtlich grundsätzlich nicht zu beanstandende - Auffassung des [X.] in Zweifel zu ziehen, dass bei einer Versammlung mit nahezu 1.000 Teilnehmern eine Einhaltung der hier maßgeblichen [X.] nicht hinreichend gesichert sei.

7

b) Überdies geht auch eine Folgenabwägung zum Nachteil des Antragstellers aus.

8

Wenn die einstweilige Anordnung nicht erginge, sich nach Durchführung eines Hauptsacheverfahrens jedoch herausstellte, dass die Verweigerung einer Ausnahmegenehmigung für mehr als 50 Teilnehmer nach § 5 Abs. 3 der Verordnung über Maßnahmen zur Eindämmung des neuartigen Coronavirus SARS-CoV-2 und COVID-19 in [X.] ([X.] - [X.]) vom 8. Mai 2020 ([X.]. GVBl. II Nr. 30) verfassungswidrig ist, wäre der Antragsteller in seinem Grundrecht auf Versammlungsfreiheit gemäß Art. 8 Abs. 1 [X.] verletzt. Diese Grundrechtsverletzung wäre von Gewicht nicht nur im Hinblick auf den Antragsteller, sondern angesichts der Bedeutung der Versammlungsfreiheit für eine freiheitliche Staatsordnung auch im Hinblick auf das [X.] Gemeinwesen insgesamt.

9

Erginge demgegenüber eine einstweilige Anordnung und würde sich später herausstellen, dass die Genehmigung einer größeren Teilnehmerzahl zu Recht abgelehnt worden ist, weil die in § 5 Abs. 3 [X.] vorgegebene Obergrenze von 50 Versammlungsteilnehmern verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden ist, wären grundrechtlich geschützte Interessen einer großen Anzahl Dritter von hohem Gewicht betroffen. Das grundsätzliche Versammlungsverbot mit Ausnahmevorbehalt nach § 5 Abs. 1 und 3 [X.], dessen Vereinbarkeit mit Art. 8 [X.] im Eilverfahren offenbleiben muss (vgl. [X.], Beschluss der [X.] des [X.] vom 17. April 2020 - 1 BvQ 37/20 -, Rn. 23), dient in Ansehung der aktuellen [X.] dem in § 1 Abs. 1 des der Verordnung zugrunde liegenden Infektionsschutzgesetzes umschriebenen Zweck, übertragbaren Krankheiten beim Menschen vorzubeugen, Infektionen frühzeitig zu erkennen und ihre Weiterverbreitung zu verhindern. Ziel der Verordnung ist namentlich der Schutz von Leben und körperlicher Unversehrtheit, zu dem der Staat prinzipiell [X.] seiner grundrechtlichen Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 [X.] angehalten ist (vgl. [X.] 77, 170 <214>; 85, 191 <212>; 115, 25 <44 f.>).

Bei Durchführung der Versammlung stünde nach übereinstimmender Einschätzung des [X.] und des [X.] zu befürchten, dass infektionsschutzrechtlich gebotene Mindestabstände unterschritten würden. Gegen diese Einschätzung ist nichts zu erinnern. Insoweit legt das [X.] der Prüfung des [X.] die Tatsachenfeststellungen und Tatsachenwürdigungen in den angegriffenen Entscheidungen zugrunde. Anderes wäre nur dann geboten, wenn die getroffenen Tatsachenfeststellungen offensichtlich fehlsam wären oder die Tatsachenwürdigungen unter Berücksichtigung der betroffenen Grundrechtsnormen offensichtlich nicht trüge ([X.]K 3, 97 <99>; [X.], Beschluss vom 29. August 2015 - 1 BvQ 32/15 -, Rn. 1; jeweils m.w.N.). Das ist nicht der Fall. Das gilt insbesondere für den Hinweis des Antragstellers auf örtlich geringe Fallzahlen von Erkrankungen. Die Einschätzung des [X.], nach der aktuellen Risikoeinschätzung des [X.] bestehe nach wie vor ein erhebliches Infektionsrisiko, wird hierdurch nicht durchgreifend in Frage gestellt. Auch hat der Antragsteller nicht nachvollziehbar dargelegt, wie es praktisch umsetzbar sein könnte, die von ihm gewünschte Ausnahme von den [X.] für verheiratete, verpartnerte oder in einem gemeinsamen Haushalt lebende Versammlungsteilnehmer tatsächlich auf diesen Personenkreis zu beschränken.

Bei Gegenüberstellung der jeweiligen Folgen muss das Interesse des Antragstellers an der Durchführung der Versammlung mit 975 anstelle der vom Antragsgegner des Ausgangsverfahrens im Einklang mit § 5 Abs. 3 [X.] genehmigten Teilnehmerzahl von 50 zurücktreten. Dafür fällt insbesondere ins Gewicht, dass dem Antragsteller die Ausübung seiner grundrechtlichen Freiheit nicht verunmöglicht ist. Er kann die Versammlung sowohl in örtlicher als auch zeitlicher Hinsicht so wie von ihm gewünscht durchführen.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Meta

1 BvQ 55/20

16.05.2020

Bundesverfassungsgericht 1. Senat 1. Kammer

Ablehnung einstweilige Anordnung

Sachgebiet: BvQ

Art 8 Abs 1 GG, Art 8 Abs 2 GG, § 32 Abs 1 BVerfGG, § 5 Abs 1 CoronaV4V BB, § 5 Abs 3 CoronaV4V BB, § 28 IfSG, § 32 IfSG

Zitier­vorschlag: Bundesverfassungsgericht, Ablehnung einstweilige Anordnung vom 16.05.2020, Az. 1 BvQ 55/20 (REWIS RS 2020, 2784)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2020, 2784

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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