Bundesverfassungsgericht, Ablehnung einstweilige Anordnung vom 07.12.2020, Az. 1 BvR 2719/20

1. Senat 1. Kammer | REWIS RS 2020, 3112

Foto: © Bundesverfassungsgericht │ foto USW. Uwe Stohrer, Freiburg

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Gegenstand

Erfolgloser Eilantrag bzgl des versammlungsrechtlichen Verbots einer "Abseilaktion" von einer Autobahnbrücke - Folgenabwägung


Tenor

1. Der Antrag auf Prozesskostenhilfe und Beiordnung von Rechtsanwalt … aus … wird für das Verfahren über die einstweilige Anordnung abgelehnt.

2. Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird abgelehnt.

Gründe

1

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung hat keinen Erfolg.

2

1. Nach § 32 Abs. 1 [X.] kann das [X.] im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Bei dieser Entscheidung haben die Gründe, die der Antragsteller für die Verfassungswidrigkeit des angegriffenen Hoheitsakts anführt, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben, es sei denn, die Verfassungsbeschwerde in der Hauptsache erweist sich von vornherein als unzulässig oder offensichtlich unbegründet (vgl. [X.] 7, 367 <371>; 134, 138 <140 Rn. 6>; stRspr). Erkennbare Erfolgsaussichten einer Verfassungsbeschwerde gegen eine verwaltungsgerichtliche Eilentscheidung sind zu berücksichtigen, wenn ein Abwarten den Grundrechtsschutz mit hoher Wahrscheinlichkeit vereitelte (vgl. [X.] 111, 147 <153>; [X.], Beschluss der [X.] des [X.] vom 24. März 2018 - 1 BvQ 18/18 -, Rn. 5; Beschluss der [X.] des [X.] vom 17. April 2020 - 1 BvQ 37/20 -, Rn. 13; Beschluss der [X.] des [X.] vom 29. April 2020 - 1 BvQ 44/20 -, Rn. 7). Bei einem offenen Ausgang der Verfassungsbeschwerde sind die Folgen, die eintreten würden, wenn die einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber später Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen abzuwägen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfassungsbeschwerde jedoch der Erfolg versagt bliebe (vgl. [X.] 131, 47 <55>; 132, 195 <232>; stRspr). Wegen der meist weittragenden Folgen, die eine einstweilige Anordnung in einem verfassungsgerichtlichen Verfahren auslöst, ist bei der Prüfung der Voraussetzungen des § 32 Abs. 1 [X.] ein strenger Maßstab anzulegen (vgl. [X.] 131, 47 <55>; 132, 195 <232>; stRspr). Maßgebend für die Beurteilung ist der Verfahrensstand im Zeitpunkt der Entscheidung ([X.], Beschluss der [X.] des [X.] vom 10. März 2010 - 1 BvQ 4/10 -, Rn. 14).

3

2. Danach liegen die Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung nicht vor, weil nicht nachvollziehbar dargelegt ist, dass die Verfassungsbeschwerde weder unzulässig noch offensichtlich unbegründet ist. Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung kann nur Erfolg haben, wenn er so begründet ist, dass das [X.] wenigstens summarisch verantwortbar beurteilen kann, dass die Verfassungsbeschwerde nicht von vornherein unzulässig oder offensichtlich unbegründet ist. Dazu müssen auch die für eine hinreichende Begründung der Verfassungsbeschwerde (§ 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 [X.]) erforderlichen Unterlagen vorgelegt werden, sofern nicht nachvollziehbar dargelegt wird, dass dies gegenwärtig nicht möglich ist. Insbesondere müssen daher mit dem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung grundsätzlich der angegriffene Hoheitsakt sowie die zu seinem Verständnis notwendigen Unterlagen in Ablichtung vorgelegt oder zumindest ihrem Inhalt nach so dargestellt werden, dass eine verantwortbare verfassungsrechtliche Beurteilung erfolgen kann ([X.], Beschluss der [X.] des [X.] vom 27. Dezember 2016 - 1 BvQ 49/16 -, Rn. 6 m.w.N.).

4

Daran fehlt es hier hinsichtlich der Entscheidung des [X.]hofs. Der Beschwerdeführer hat diese Entscheidung nicht vorgelegt und teilt zu ihren Gründen nur mit, der [X.]hof zähle lediglich die vom Verwaltungsgericht angeführten Gründe auf und bezeichne diese als zutreffend. Außerdem zitiert der Beschwerdeführer einzelne Passagen aus dem Beschluss des [X.]hofs. Auf dieser Grundlage ist für das [X.] nicht nachvollziehbar, welche Erwägungen für die Entscheidung des [X.]hofs tragend waren und ob sie von dem Beschwerdeführer vollständig und zutreffend wiedergegeben werden.

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3. Ungeachtet dessen hat der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung auch deshalb keinen Erfolg, weil eine Folgenabwägung zum Nachteil des Beschwerdeführers ausgeht.

6

Dabei ist in tatsächlicher Hinsicht davon auszugehen, dass bei der von dem Beschwerdeführer geplanten Durchführung der Veranstaltung erhebliche Gefahren für Leib und Leben Dritter drohen. Im Rahmen der von dem Beschwerdeführer angemeldeten Versammlung ist insbesondere beabsichtigt, dass sich Personen an einer Brücke über der [X.] ([X.]) abseilen, um dort Transparente aufzuhängen. Das Verwaltungsgericht hat hierzu unter Bezugnahme auf die Verbotsverfügung der Antragsgegnerin des Ausgangsverfahrens sowie behördliche Stellungnahmen im Verwaltungsverfahren festgestellt, dass die Abseilaktion aus Sicherheitsgründen eine Sperrung der [X.] erforderlich machte, was wegen des hohen Verkehrsaufkommens auf der [X.] und ihrer zentralen Funktion im Straßennetz im Bereich des [X.] zu Staus und in der Folge zu Auffahrunfällen sowohl auf der [X.] selbst als auch auf anderen Autobahnen und Straßen führen könne. Entsprechende Gefahren bestünden auch bei einer Geschwindigkeitsreduzierung durch verkehrsleitende Maßnahmen sowie bei einer Beschränkung der Sperrung auf einzelne Fahrspuren.

7

Diese Einschätzungen bilden die Grundlage für die Folgenabwägung im Rahmen der Entscheidung nach § 32 Abs. 1 [X.]. Insoweit sind bei der Prüfung durch das [X.] grundsätzlich die Tatsachenfeststellungen und Tatsachenwürdigungen in den angegriffenen Entscheidungen zugrunde zu legen. Anderes wäre nur dann geboten, wenn die getroffenen Tatsachenfeststellungen offensichtlich fehlsam wären oder die Tatsachenwürdigungen unter Berücksichtigung der betroffenen Grundrechtsnormen offensichtlich nicht trügen ([X.]K 3, 97 <99>; [X.], Beschluss der [X.] des [X.] vom 29. August 2015 - 1 BvQ 32/15 -, Rn. 1; jeweils m.w.N.).

8

Dies ist vorliegend nicht der Fall. Der Beschwerdeführer setzt der Einschätzung des Veraltungsgerichts nichts [X.] entgegen. Das gilt insbesondere für seinen Hinweis darauf, auch an dem von der Antragsgegnerin des Ausgangsverfahrens vorgeschlagenen Alternativstandort könne es bei Durchführung der Abseilaktion zur Bildung von Staus und Auffahrunfällen kommen. Dieses Vorbringen könnte allenfalls Zweifel an der Eignung des [X.] begründen, erschüttert aber nicht die Gefahrenprognose des [X.] für den von dem Beschwerdeführer als alternativlos angesehenen Veranstaltungsort auf bzw. über der [X.].

9

Wenn die einstweilige Anordnung nicht erginge, sich aber nach Durchführung des Hauptsacheverfahrens herausstellte, dass das Versammlungsverbot verfassungswidrig war, wäre der Beschwerdeführer in seinem Grundrecht auf Versammlungsfreiheit gemäß Art. 8 Abs. 1 GG verletzt. Diese Grundrechtsverletzung wäre, weil die geplante Versammlung vollständig untersagt wurde, nicht nur für den Beschwerdeführer, sondern angesichts der Bedeutung der Versammlungsfreiheit für eine freiheitliche Staatsordnung auch im Hinblick auf das [X.] Gemeinwesen insgesamt von erheblichem Gewicht. [X.] demgegenüber eine einstweilige Anordnung und würde sich später herausstellen, dass das Verbot zur Verhinderung der von dem Verwaltungsgericht beschriebenen Gefahren rechtmäßig war, wären grundrechtlich durch Art. 2 Abs. 2 GG geschützte Interessen zahlreicher Verkehrsteilnehmer, die ebenfalls von hohem Gewicht sind, nachteilig betroffen. Bei Abwägung der berührten Interessen fällt zum Nachteil des Beschwerdeführers insbesondere ins Gewicht, dass er die angemeldete Versammlung in der vorgesehenen Weise grundsätzlich an anderer Stelle durchführen kann, wofür seitens der Antragsgegnerin des Ausgangsverfahrens bereits eine konkrete Örtlichkeit benannt worden ist. Zwar ist nach dem insoweit plausiblen Vorbringen des Beschwerdeführers der Standort an der [X.] für das mit der Versammlung verfolgte kommunikative Anliegen wegen des Zusammenhangs mit einer früheren Versammlung und der strafrechtlichen Verfolgung von Teilnehmern an dieser Versammlung von zentraler Bedeutung. Gegenüber der aufgrund von Verkehrsunfällen drohenden Gefahr insbesondere erheblicher Personenschäden muss das von Art. 8 Abs. 1 GG umfasste Bestimmungsrecht des Beschwerdeführers über den Versammlungsort allerdings zurücktreten.

4. [X.] sowie einer Beiordnung von Rechtsanwalt … aus … für das Verfahren auf einstweilige Anordnung beruht auf einer entsprechenden Anwendung der §§ 114 ff. ZPO. Der Antrag war abzulehnen, weil die Rechtsverfolgung aus den vorgenannten Gründen keine hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Meta

1 BvR 2719/20

07.12.2020

Bundesverfassungsgericht 1. Senat 1. Kammer

Ablehnung einstweilige Anordnung

Sachgebiet: BvR

vorgehend Hessischer Verwaltungsgerichtshof, 4. Dezember 2020, Az: 2 B 3007/20, Beschluss

Art 2 Abs 2 S 1 GG, Art 8 Abs 1 GG, Art 8 Abs 2 GG, § 32 Abs 1 BVerfGG, § 15 Abs 1 VersammlG

Zitier­vorschlag: Bundesverfassungsgericht, Ablehnung einstweilige Anordnung vom 07.12.2020, Az. 1 BvR 2719/20 (REWIS RS 2020, 3112)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2020, 3112

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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