Bundesverfassungsgericht, Ablehnung einstweilige Anordnung vom 31.01.2022, Az. 1 BvR 208/22

1. Senat 1. Kammer | REWIS RS 2022, 1620

Foto: © Bundesverfassungsgericht │ foto USW. Uwe Stohrer, Freiburg

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Gegenstand

Erfolgloser Eilantrag bzgl der Allgemeinverfügung der Stadt Freiburg über die Untersagung der sogenannten "Montagsspaziergänge" im Wege der Allgemeinverfügung - Zulässigkeit eines solchen präventiven Versammlungsverbot im Hauptsacheverfahren zu klären - eA-Ablehnung aufgrund einer Folgenabwägung


Tenor

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird abgelehnt.

Gründe

1

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung hat keinen Erfolg.

2

1. Nach § 32 Abs. 1 [X.] kann das [X.] einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Dabei haben die Gründe, die der Antragsteller für die Verfassungswidrigkeit des angegriffenen Hoheitsakts anführt, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben, es sei denn, die Verfassungsbeschwerde in der Hauptsache erweist sich von vornherein als unzulässig oder offensichtlich unbegründet (vgl. [X.] 7, 367 <371>; 134, 138 <140 Rn. 6>; stRspr). Erkennbare Erfolgsaussichten einer Verfassungsbeschwerde gegen eine verwaltungsgerichtliche Eilentscheidung sind zu berücksichtigen, wenn ein Abwarten den Grundrechtsschutz mit hoher Wahrscheinlichkeit vereitelte (vgl. [X.] 111, 147 <153>; [X.], Beschluss der [X.] des [X.] vom 24. März 2018 - 1 BvQ 18/18 -, Rn. 5; Beschluss der [X.] des [X.] vom 17. April 2020 - 1 BvQ 37/20 -, Rn. 27; Beschluss der [X.] des [X.] vom 29. April 2020 - 1 BvQ 44/20 -, Rn. 7). Bei einem offenen Ausgang der Verfassungsbeschwerde sind die Folgen, die eintreten würden, wenn die einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber später Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen abzuwägen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfassungsbeschwerde jedoch der Erfolg versagt bliebe (vgl. [X.] 131, 47 <55>; 132, 195 <232 f. Rn. 87>; stRspr). Wegen der meist weittragenden Folgen, die eine einstweilige Anordnung in einem verfassungsgerichtlichen Verfahren auslöst, ist bei der Prüfung der Voraussetzungen des § 32 Abs. 1 [X.] ein strenger Maßstab anzulegen (vgl. [X.] 131, 47 <55>; 132, 195 <232 Rn. 86>; stRspr). Maßgebend für die Beurteilung ist der Verfahrensstand im Zeitpunkt der Entscheidung ([X.], Beschluss der [X.] des [X.] vom 10. März 2010 - 1 BvQ 4/10 -, Rn. 14).

3

2. Ausgehend hiervon kommt der Erlass einer einstweiligen Anordnung nicht in Betracht.

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Die Erfolgsaussichten der mit dem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung verbundenen Verfassungsbeschwerde sind nicht derart offensichtlich, dass hier allein schon deshalb in der Nichtgewährung von Rechtsschutz ein schwerer Nachteil für das gemeine Wohl im Sinne von § 32 Abs. 1 [X.] läge.

5

a) Art. 8 Abs. 1 GG schützt die Freiheit, mit anderen Personen zum Zwecke einer gemeinschaftlichen, auf die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichteten Erörterung oder Kundgebung örtlich zusammen zu kommen (vgl. [X.] 104, 92 <104>; 111, 147 <154 f.>; 128, 226 <250>). Als Freiheit zur kollektiven Meinungskundgabe ist die Versammlungsfreiheit für eine freiheitlich [X.] Staatsordnung konstituierend (vgl. [X.] 69, 315 <344 f.>; 128, 226 <250>). In ihrer idealtypischen Ausformung sind Demonstrationen die gemeinsame körperliche Sichtbarmachung von Überzeugungen, bei der die Teilnehmer in der [X.] mit anderen eine Vergewisserung dieser Überzeugungen erfahren und andererseits nach außen - schon durch die bloße Anwesenheit, die Art des Auftretens und die Wahl des Ortes - im eigentlichen Sinne des Wortes Stellung nehmen und ihren Standpunkt bezeugen (vgl. [X.] 69, 315 <345>; 128, 226 <250>). Nach Art. 8 Abs. 2 GG kann dieses Recht für Versammlungen unter freiem Himmel durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes beschränkt werden. Derartige Beschränkungen sind im Lichte der grundlegenden Bedeutung von Art. 8 Abs. 1 GG auszulegen ([X.] 87, 399 <407>). Eingriffe in die Versammlungsfreiheit sind nur zum Schutz gleichgewichtiger anderer Rechtsgüter unter strikter Wahrung der Verhältnismäßigkeit zulässig (vgl. [X.] 69, 315 <349>; 87, 399 <407>). Insbesondere [X.] dürfen nur verhängt werden, wenn mildere Mittel nicht zur Verfügung stehen und soweit der hierdurch bewirkte tiefgreifende Eingriff in das Grundrecht aus Art. 8 Abs. 1 GG auch in Ansehung der grundlegenden Bedeutung der Versammlungsfreiheit für das [X.] und freiheitliche Gemeinwesen insgesamt nicht außer Verhältnis steht zu den jeweils zu bekämpfenden Gefahren und dem Beitrag, den ein Verbot zur Gefahrenabwehr beizutragen vermag ([X.], Beschlüsse der [X.] des [X.] vom 30. August 2020 - 1 BvQ 94/20 -, Rn. 16 und vom 21. November 2020 - 1 [X.]/20 -, Rn. 6).

6

Bei der Prüfung durch das [X.] sind grundsätzlich die Tatsachenfeststellungen und Tatsachenwürdigungen in den angegriffenen Entscheidungen zugrunde zu legen. Anderes wäre nur dann geboten, wenn die getroffenen Tatsachenfeststellungen offensichtlich fehlsam wären oder die Tatsachenwürdigungen unter Berücksichtigung der betroffenen Grundrechtsnormen offensichtlich nicht trügen ([X.]K 3, 97 <99>; [X.], Beschluss der [X.] des [X.] vom 29. August 2015 - 1 BvQ 32/15 -, Rn. 1; jeweils m.w.N.).

7

b) Ob es mit Bedeutung und Tragweite des Art. 8 GG unter bestimmten Voraussetzungen vereinbar sein kann, präventiv ein Versammlungsverbot durch Allgemeinverfügung für eine prinzipiell unbestimmte Vielzahl von Versammlungen im [X.]gebiet zu erlassen, die mit Aufrufen zu "Montagsspaziergängen" oder "Spaziergängen" im Zusammenhang stehen, ist eine verfassungsrechtlich offene Frage, deren Klärung dem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben muss (siehe dazu einerseits [X.], Beschluss vom 19. Januar 2022 - 10 CS 22.162 -, n.v.; andererseits [X.], Beschluss vom 12. Januar 2022 - 1 K 80/22 -, Rn. 42, juris).

8

3. Angesichts der nicht offensichtlichen Erfolgsaussichten in der Hauptsache ist eine Folgenabwägung vorzunehmen. Diese geht zum Nachteil des Beschwerdeführers aus.

9

Es ist nicht aufgezeigt, dass die fachgerichtliche Würdigung, die Nichtanmeldung der "Montagsspaziergänge" verfolge offensichtlich den Zweck, vorbeugende Auflagen zu umgehen und es zu vermeiden, Verantwortliche und eine hinreichende Anzahl von Ordnern zu benennen, welche auf die Einhaltung der von der Versammlungsbehörde vorbeugend oder während der Versammlung erlassenen Auflagen hinwirkten, offensichtlich fehlsam ist. Vielmehr handelt es sich um eine naheliegende Feststellung. Hiervon ausgehend durften die Gerichte auch annehmen, dass diejenigen Personen, die zu solchen "Spaziergängen" aufriefen oder gewillt seien, an diesen teilzunehmen, überwiegend nicht dazu bereit seien, versammlungspolizeiliche, dem Infektionsschutz dienende Auflagen, wie insbesondere das Tragen von Masken oder das Einhalten von Abständen, zu beachten. Die Gerichte durften sich für die vorgenannten Annahmen auch - verfassungsrechtlich unbedenklich - auf Erfahrungen, die auf zwei in der jüngeren Vergangenheit liegenden "Montagsspaziergängen" in derselben [X.] gewonnen wurden und diese Annahmen belegen, stützen.

Von diesen tatsächlichen Erwägungen ausgehend fällt die Folgenabwägung zu Lasten des Beschwerdeführers aus. Wenn die einstweilige Anordnung nicht erginge, sich aber nach Durchführung des Hauptsacheverfahrens herausstellte, dass das Versammlungsverbot verfassungswidrig war, wäre der Beschwerdeführer in seinem Grundrecht auf Versammlungsfreiheit gemäß Art. 8 Abs. 1 GG verletzt. Diese Grundrechtsverletzung wäre von erheblichem Gewicht. [X.] demgegenüber eine einstweilige Anordnung und würde sich später herausstellen, dass das Verbot zur Verhinderung der von den Gerichten angenommenen infektionsschutzrechtlichen Gefahren, die nicht in verfassungsrechtlich relevanter Weise in Zweifel gezogen sind, rechtmäßig war, so wären grundrechtlich durch Art. 2 Abs. 2 GG geschützte Interessen der Allgemeinheit, nämlich der Schutz von Leben und körperlicher Unversehrtheit, zu dem der Staat [X.] seiner grundrechtlichen Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG grundsätzlich verpflichtet ist (vgl. [X.] 77, 170 <214>; 85, 191 <212>; 115, 25 <44 f.>), betroffen. Im Rahmen der Folgenabwägung fällt zum Nachteil des Beschwerdeführers insbesondere ins Gewicht, dass durch die Gestaltung der Versammlung als "Spaziergang" eine Vorfeldkooperation und damit eine gegenüber dem Verbot grundrechtsschonende Begleitung der Versammlung durch die Versammlungsbehörde und die - dezentral agierenden - Organisatoren im Vorfeld gezielt verunmöglicht worden ist, was dem Beschwerdeführer vor dem Hintergrund der Ausgestaltung der Versammlung als unangemeldetem Spaziergang offensichtlich bewusst ist.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Meta

1 BvR 208/22

31.01.2022

Bundesverfassungsgericht 1. Senat 1. Kammer

Ablehnung einstweilige Anordnung

Sachgebiet: BvR

vorgehend Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, 24. Januar 2022, Az: 9 S 178/22, Beschluss

Art 2 Abs 2 S 1 GG, Art 8 Abs 1 GG, Art 8 Abs 2 GG, § 32 Abs 1 BVerfGG, § 15 Abs 1 VersammlG, § 35 S 2 VwVfG

Zitier­vorschlag: Bundesverfassungsgericht, Ablehnung einstweilige Anordnung vom 31.01.2022, Az. 1 BvR 208/22 (REWIS RS 2022, 1620)

Papier­fundstellen: NJW 2022, 612 REWIS RS 2022, 1620

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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