Bundesverfassungsgericht, Stattgebender Kammerbeschluss vom 18.09.2019, Az. 2 BvR 1165/19

2. Senat 2. Kammer | REWIS RS 2019, 3464

Foto: © Bundesverfassungsgericht │ foto USW. Uwe Stohrer, Freiburg

STRAFRECHT BUNDESVERFASSUNGSGERICHT (BVERFG) STAATSRECHT UND STAATSORGANISATIONSRECHT HAFT GRUNDRECHTE STRAFVOLLZUG

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Gegenstand

Stattgebender Kammerbeschluss: Verletzung des Resozialisierungsanspruchs durch Versagung von Vollzugslockerungen - Anspruch auf Ausführungen nicht erst bei Auftreten von Anzeichen haftbedingter Einschränkungen der Lebenstüchtigkeit des betroffenen Strafgefangenen - sowie zu den Anforderungen an die Bejahung von Fluchtgefahr als Versagungsgrund für Lockerungen


Tenor

Die Beschlüsse des [X.] vom 9. Mai 2019 - III - 1 Vollz([X.]) 92/19 - und des [X.] vom 15. Januar 2019 - 101 [X.] - verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 1 Absatz 1 des Grundgesetzes.

Die Beschlüsse werden aufgehoben. Die Sache wird zur Entscheidung über die Kosten an das [X.] zurückverwiesen.

Das [X.] hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen zu erstatten.

Gründe

1

Die [X.]beschwerde betrifft die Gewährung von Ausführungen zur Erhaltung der [X.] des strafgefangenen Beschwerdeführers.

2

1. Der Beschwerdeführer verbüßt seit dem 29. Januar 2015 eine zeitige Freiheitsstrafe von zwölf Jahren wegen Totschlags in der [X.] und befand sich zuvor, vom 27. Februar 2012 bis zum 28. Januar 2015, in Untersuchungshaft. Zwei Drittel der Freiheitsstrafe werden am 26. Februar 2020 vollstreckt sein. Das [X.] ist auf den 26. Februar 2024 notiert.

3

2. Unter dem 7. Mai 2018 beantragte der Beschwerdeführer bei der Justizvollzugsanstalt eine erste Ausführung zum Erhalt der [X.]. Dies lehnte die Justizvollzugsanstalt unter dem 19. Juni 2018 mit der Begründung ab, dass der Beschwerdeführer keine Anzeichen einer drohenden Einschränkung der [X.] zeige und dessen Verlegung in den offenen Vollzug in Bearbeitung sei. Das [X.] hob auf Antrag des Beschwerdeführers mit Beschluss vom 27. September 2018 den Bescheid der Justizvollzugsanstalt auf, soweit dem Beschwerdeführer hierin Ausführungen versagt wurden, und verpflichtete sie zur Neubescheidung. Es führte aus, gemäß § 53 Abs. 3 Strafvollzugsgesetz [X.] ([X.])seien langjährig in Vollzug befindlichen Gefangenen Ausführungen zu gewähren, wenn weitergehende Vollzugsöffnungen nicht in Betracht kämen. Der Bescheid habe nicht erkennen lassen, dass die Justizvollzugsanstalt ihren Beurteilungsspielraum hinsichtlich der Frage, ob weitergehende Lockerungen möglich seien, überhaupt ausgeübt habe.

4

3. Mit anwaltlichem Schreiben vom 23. Oktober 2018 beantragte der Beschwerdeführer unter Berufung auf den Beschluss des [X.] vom 27. September 2018bei der Justizvollzugsanstalt, ihm in der 46. oder 47. [X.] des Jahres 2018 eine erste Ausführung und in der 12. beziehungsweise 13. [X.] des Jahres 2019 eine zweite Ausführung zu gewähren.

5

4. Die Justizvollzugsanstalt lehnte dies mit Bescheid vom 6. November 2018 ab. § 53 Abs. 3 [X.] greife die Rechtsprechung des [X.] auf, wonach Ausführungen bei Gefangenen, die zu langen Freiheitsstrafen verurteilt worden seien, nicht erst dann zu gewähren seien, wenn sie bereits haftbedingte [X.]en aufwiesen, sondern bereits dann, wenn solche drohten. Dies werde in der Justizvollzugsanstalt anhand von Leitlinien der [X.] überprüft. Nach diesen Maßstäben weise der Beschwerdeführer keine Einschränkungen in lebenspraktischen Fähigkeiten auf, zum Beispiel sei er in der Lage, Hilfestellungen anzunehmen, er sei mit dem Antragswesen vertraut, nehme an [X.] teil, bewältige den Alltag selbstständig und verfüge über stabile Außenkontakte. Dementsprechend sei nicht zu vermuten, dass eine Einschränkung der [X.] drohe. Eine Ausführung habe zudem keinen behandlerischen Zweck, zumal der Beschwerdeführer über "ausreichende Kultur- und Lebenstechniken" verfüge. Es werde dabei nicht verkannt, dass der Beschwerdeführer eine lange Haftstrafe zu verbüßen habe und sich bereits seit mehr als sechs Jahren im Vollzug befinde. Ferner sei es derzeit nicht vertretbar, den Beschwerdeführer ungefesselt auszuführen, weil er das [X.] seiner derzeitigen Freiheitsstrafe aus dem offenen Vollzug heraus begangen habe. Dies belege eine Missbrauchsgefahr bei Ausführungen. Eine Fesselung stehe aber dem Zweck der Ausführung entgegen. Überdies sei angesichts des Strafrests von über fünf Jahren auch eine Fluchtgefahr nicht auszuschließen.

6

5. Mit Anwaltsschreiben vom 21. November 2018 beantragte der Beschwerdeführer beim [X.], den Bescheid der Justizvollzugsanstalt vom 6. November 2018 aufzuheben und diese zu verpflichten, ihm für die 50. oder 51. [X.] beziehungsweise an [X.] in den ersten [X.]n des Jahres 2019 eine Ausführung zum Erhalt der [X.] zu gewähren. Er führte aus, die Argumente der Justizvollzugsanstalt würden eine Versagung nicht tragen. Dass er die Lebenssituation im Vollzug bewältige, sei für Ausführungen zum Erhalt der [X.] nicht von Relevanz. Eine etwaige Missbrauchsgefahr, die zur Versagung von Ausführungen herangezogen werde, müsse aus der aktuellen Situation heraus begründet werden. Außerdem sei die Situation des offenen Vollzugs nicht mit einer durch Justizvollzugsbeamte begleiteten Ausführung vergleichbar. Der Bescheid der Justizvollzugsanstalt verstoße insbesondere gegen das [X.] und den grundrechtlichen Schutz der Familie. Er sei unverhältnismäßig.

7

6. Mit angegriffenem Beschluss vom 15. Januar 2019 wies das [X.] den Antrag des Beschwerdeführers zurück. Die Versagung einer ersten Ausführung durch die Justizvollzugsanstalt sei in rechtmäßiger Weise ergangen. Bei den Fragen, ob Vollzugsöffnungen verantwortet werden könnten und ob Einschränkungen der [X.] drohten, sei der Justizvollzugsanstalt ein Beurteilungsspielraum eingeräumt, den das [X.] nur daraufhin überprüfen könne, ob die Anstalt von einem zutreffenden Sachverhalt ausgegangen sei und den Spielraum eingehalten habe. Diese Überprüfung ergebe keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Beschwerdeführers. Der angegriffene Bescheid lasse in detaillierter Weise erkennen, welche Gründe für und gegen eine Ausführung sprächen. Eine drohende Beschränkung der [X.] sei mit nachvollziehbarer Argumentation abgelehnt worden. Die Justizvollzugsanstalt habe die verfassungsrechtlichen Anforderungen erkannt und durch die Anwendung der Leitlinien der [X.] berücksichtigt. Auch soweit sie meine, eine Ausführung sei aus Sicherheitsgesichtspunkten derzeit nicht vertretbar, habe sie ihren "Beurteilungsspielraum ausgeübt". Nachvollziehbar sei zudem, dass die durch die Justizvollzugsanstalt als allein vertretbar angesehene gefesselte Ausführung nicht zur Zweckerreichung des Einübens von Kultur- und Lebenstechniken geeignet und demnach auch nicht geboten sei. Denn die sichtbare Fesselung schaffe eine psychische Hürde im Umgang mit Dritten, was einer Realerfahrung entgegenstehe. Auch die Darlegung der Missbrauchsgefahr sei nachvollziehbar. Gleiches gelte für die Annahme von Fluchtgefahr wegen des langen Strafrests.

8

7. Mit der mit anwaltlichem Schreiben erhobenen Rechtsbeschwerde vom 4. Februar 2019 verfolgte der Beschwerdeführer sein Rechtsschutzziel weiter. Er führte im Rahmen seiner Sachrüge aus, das [X.] habe verkannt, dass es sich bei Ausführungen nicht um Lockerungen handele und auf Ausführungen ein subjektiver Anspruch bestehe. Auch verkenne das Gericht, dass die Versagungsentscheidung der Justizvollzugsanstalt nicht den gesetzlichen Grundlagen genüge. Das [X.] habe lediglich den Vortrag der Justizvollzugsanstalt übernommen, wonach das Verhalten des Beschwerdeführers im Vollzug keinen Verlust der [X.] befürchten lasse. Das [X.] habe aber gerade festgestellt, dass Ausführungen nicht erst erfolgen sollen, wenn Anzeichen des Verlustes der [X.] festzustellen seien. Sie dienten vielmehr dem Zweck, diesen Anzeichen vorzubeugen. Soweit das [X.] die Darlegungen zu Missbrauchs- und Fluchtgefahr pauschal als nachvollziehbar bewertet habe, weil der Beschwerdeführer die [X.] seinerzeit im offenen Vollzug begangen habe, gehe auch dies fehl. Insoweit werde darauf verwiesen, dass die Situation im offenen Vollzug nicht mit der bei begleiteten Ausführungen vergleichbar sei. Die [X.] habe der Beschwerdeführer im [X.] verübt. Daraus im Jahr 2019 eine Missbrauchs- und Fluchtgefahr herzuleiten, entspreche nicht den rechtlichen Anforderungen. Diese Erwägung rechtfertige auch keine Fesselungsanordnung. Abgesehen davon gebe es Fesselungsarten wie das [X.] Modell, bei denen eine Einübung von Kultur- und Lebenstechniken trotz Fesselung möglich sei. Dass die Justizvollzugsanstalt auch sieben Jahre, nachdem das [X.] die Ausführungen zum Erhalt der [X.] in den Fokus gestellt habe, diese verdeckte Form der Fesselung nicht vorhalte, könne nicht dem Beschwerdeführer angelastet werden. Überdies habe die Anstalt dem [X.] ermöglicht, sich auf einen Gruppenausgang mit weiteren Inhaftierten zu bewerben. Zudem überprüfe sie ihrem eigenen Bekunden zufolge die Verlegung des Beschwerdeführers in den offenen Vollzug. Ihre Argumentation sei insoweit widersprüchlich. Festzustellen sei, dass der Antrag des Beschwerdeführers nur schleppend bearbeitet und am Ende verkannt worden sei, dass er die Anspruchsvoraussetzungen für Ausführungen erfülle. Er sei langjährig inhaftiert, arbeite aktiv an der Erreichung des Vollzugsziels mit und führe sich im Vollzug während seiner gesamten Inhaftierung beanstandungsfrei.

9

8. Mit angegriffenem Beschluss vom 9. Mai 2019, dem Beschwerdeführer am 27. Mai 2019 zugestellt, verwarf das [X.] die Rechtsbeschwerde als unzulässig. Es sei nicht geboten, die Nachprüfung des angefochtenen Beschlusses zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung zu ermöglichen. Ergänzend führte es aus, drohende Beeinträchtigungen der [X.] als Voraussetzung von Ausführungen folgten nicht allein aus einer langen Haftdauer. Das [X.] habe rechtsfehlerfrei ausgeführt, dass die [X.] zu dem Ergebnis gekommen sei, dass Einschränkungen der [X.] im Fall des Betroffenen derzeit nicht feststellbar seien und noch nicht im Sinne der zu § 53 Abs. 3 Satz 1 [X.] ergangenen Senatsrechtsprechung drohten, so dass die "Eingangsvoraussetzungen" für einen Anspruch auf Gewährung von Ausführungen zum Erhalt der [X.] nicht gegeben seien. Dementsprechend komme es nicht darauf an, dass Justizvollzugsanstalt und [X.] in bedenklicher Weise darauf abgestellt hätten, dass eine gefesselte Ausführung dem Zweck der Maßnahme widerspreche, ohne mildere Maßnahmen wie die [X.] Fesselung in Betracht zu ziehen.

1. Mit seiner [X.]beschwerde vom 21. Juni 2019 rügt der anwaltlich nicht vertretene Beschwerdeführer eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 beziehungsweise Abs. 2 GG seines [X.]s und der Rechtsschutzgarantie durch die angegriffenen Entscheidungen.

Er habe sich bereits in seinem Antrag bei der Justizvollzugsanstalt auf die Rechtsprechung des [X.] berufen, wonach Ausführungen bei Langzeitinhaftierten zu gewähren seien, um Einschränkungen der [X.] vorzubeugen, also nicht erst, wenn solche Einschränkungen festzustellen seien. Dies mache er nun auch mit der [X.]beschwerde geltend. Anderen Mitinhaftierten würden Ausführungen gewährt. [X.] und [X.] hätten die Versagung ausschließlich auf die Argumentation der Justizvollzugsanstalt gestützt und damit die erforderliche Aufklärung der Sach- und Rechtslage unterlassen. Sein beanstandungsfreies Verhalten im Vollzug lasse zudem keine Rückschlüsse darauf zu, dass er nicht doch in seiner [X.] eingeschränkt sei. Die [X.] beziehe sich nämlich nicht auf das Leben im Vollzug, sondern auf das Leben in Freiheit. Aus den Erzählungen seiner Kinder sei ihm bekannt, wie rasant sich das Leben in Freiheit in den letzten Jahren gewandelt habe. In der Justizvollzugsanstalt herrsche [X.] und der Anstaltsleiter habe bereits mehrfach geäußert, dass allein er entscheide, welche Entscheidungen des [X.] er beachte.

2. Das [X.] des Landes [X.] hat unter dem 22. Juli 2019 von einer Stellungnahme im [X.] abgesehen.

3. [X.] hat dem [X.] vorgelegen.

Die Kammer nimmt die [X.]beschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt. Die Voraussetzungen des § 93c Abs. 1 Satz 1 [X.] liegen vor. Die Annahme ist nach § 93a Abs. 2 Buchstabe b [X.] zur Durchsetzung der als verletzt gerügten Rechte des Beschwerdeführers aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG angezeigt.

1. Die zulässige [X.]beschwerde ist begründet, soweit der Beschwerdeführer geltend macht, dass die angegriffenen gerichtlichen Entscheidungen gegen sein Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG verstoßen. Die Beschlüsse des [X.] und des [X.]s verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht auf Resozialisierung.

a) Das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG verpflichtet den Staat, den Strafvollzug auf das Ziel auszurichten, dem Inhaftierten ein zukünftiges straffreies Leben in Freiheit zu ermöglichen (vgl. [X.] 116, 69 <85 f.> m.w.N.; stRspr). Besonders bei langjährig im Vollzug befindlichen Personen erfordert dies, aktiv den schädlichen Auswirkungen des [X.] entgegenzuwirken und ihre [X.] zu erhalten und zu festigen (vgl. [X.] 45, 187 <238>; 64, 261 <277>; 98, 169 <200>; 109, 133 <150 f.>; [X.]K 17, 459 <462>; 19, 306 <315>; 20, 307 <312>; stRspr). Dabei greift das Gebot, die [X.] des Gefangenen zu erhalten und zu festigen, nicht erst dann ein, wenn er bereits Anzeichen einer haftbedingten [X.] aufweist ([X.]K 19, 157 <165>; [X.], Beschluss der [X.] des Zweiten Senats vom 4. Mai 2015 - 2 BvR 1753/14 -, Rn. 27). Das Interesse des Gefangenen, vor den schädlichen Folgen aus der langjährigen Inhaftierung bewahrt zu werden und seine [X.] im Falle der Entlassung aus der Haft zu behalten, hat ein umso höheres Gewicht, je länger die Vollstreckung einer Freiheitsstrafe bereits andauert (vgl. [X.] 64, 261 <272 f.>; 70, 297 <315>; [X.], Beschluss der [X.] des Zweiten Senats vom 4. Mai 2015 - 2 BvR 1753/14 -, Rn. 27).

Androhung und Vollstreckung der Freiheitsstrafe finden ihre verfassungsrechtlich notwendige Ergänzung in einem sinnvollen Behandlungsvollzug (vgl. [X.] 45, 187 <238>; 64, 261 <272 f.>; 109, 133 <150 f.>). Dementsprechend hat der Gesetzgeber dem Vollzug der Freiheitsstrafe ein Behandlungs- und Resozialisierungskonzept zugrunde gelegt (vgl. [X.] 117, 71 <91>). Der Wiedereingliederung des Gefangenen dienen unter anderem die Vorschriften über [X.] vollzugsöffnende Maßnahmen (vgl. [X.] 117, 71 <92>). Durch diese Maßnahmen werden dem Gefangenen zudem Chancen eingeräumt, sich zu beweisen und zu einer günstigeren Entlassungsprognose zu gelangen (vgl. [X.], Beschluss der [X.] des Zweiten Senats vom 5. August 2010 - 2 BvR 729/08 -, Rn. 32). [X.] ein Gefangener diese Maßnahmen, so wird er durch deren Versagung in seinem durch Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG grundrechtlich geschützten [X.] berührt (vgl. [X.], Beschlüsse der [X.] des Zweiten Senats vom 5. August 2010 - 2 BvR 729/08 -, Rn. 32, und vom 26. Oktober 2011 - 2 BvR 1539/09 -, Rn. 17).

Gerade bei Gefangenen, die die Voraussetzungen für vollzugslockernde Maßnahmen im eigentlichen Sinne etwa wegen einer konkret bestehenden Flucht- oder Missbrauchsgefahr noch nicht erfüllen, dienen Ausführungen dem Erhalt und der Festigung der Lebensfähigkeit und -tüchtigkeit (vgl. [X.]K 17, 459 <462>; 19, 306 <315 f.>; 20, 307 <312>). Bei langjährig Inhaftierten kann es daher, selbst wenn noch keine konkrete [X.] besteht, jedenfalls geboten sein, zumindest Lockerungen in Gestalt von Ausführungen dadurch zu ermöglichen, dass die Justizvollzugsanstalt einer von ihr angenommenen Flucht- oder Missbrauchsgefahr durch geeignete Sicherheitsvorkehrungen entgegenwirkt (vgl. [X.], Beschlüsse der [X.] des Zweiten Senats vom 10. September 2008 - 2 BvR 719/08 -, Rn. 3, und vom 5. August 2010 - 2 BvR 729/08 -, Rn. 32). Der damit verbundene personelle Aufwand ist dann hinzunehmen (vgl. [X.]K 17, 459 <462 f.>; 19, 306 <316>; 20, 307 <313>).

Aufgrund dieser Bedeutung darf sich eine Justizvollzugsanstalt, wenn sie vollzugslockernde Maßnahmen und Ausführungen versagt, nicht auf bloße pauschale Wertungen oder auf den Hinweis einer abstrakten Flucht- oder Missbrauchsgefahr beschränken. Sie hat vielmehr im Rahmen einer Gesamtwürdigung nähere Anhaltspunkte darzulegen, welche geeignet sind, die Prognose einer Flucht- oder Missbrauchsgefahr in der Person des Gefangenen zu konkretisieren. Ob dies geschehen ist, hat die Strafvollstreckungskammer zu überprüfen (vgl. [X.] 70, 297 <308>; dazu auch [X.], Beschluss der [X.] des Zweiten Senats vom 5. August 2010 - 2 BvR 729/08 -, Rn. 32 m.w.N.; Beschluss der [X.] des Zweiten Senats vom 15. Mai 2018 - 2 BvR 287/17 -, Rn. 32).

Versagt die Justizvollzugsanstalt eine Vollzugslockerung unter Annahme ei- ner Flucht- oder Missbrauchsgefahr, prüfen die Fachgerichte im Verfahren nach §§ 109 ff. [X.], ob die Vollzugsbehörde die unbestimmten Rechtsbegriffe richtig ausgelegt und angewandt hat. Zwar verlangt der Versagungsgrund der Flucht- und Missbrauchsgefahr eine Prognoseentscheidung und eröffnet der Vollzugsbehörde einen - verfassungsrechtlich nicht zu beanstandenden - Beurteilungsspielraum, in dessen Rahmen sie bei Achtung der Grundrechte des Gefangenen mehrere Entscheidungen treffen kann, die gleichermaßen rechtlich vertretbar sind (vgl. [X.], 320<324 f.>). Der Beurteilungsspielraum entbindet die Vollstreckungsgerichte indes nicht von ihrer rechtsstaatlich fundierten Prüfungspflicht (vgl. [X.], Beschluss der [X.] des Zweiten Senats vom 1. April 1998 - 2 BvR 1951/96 -, Rn. 20). Das Gericht hat dementsprechend den Sachverhalt umfassend aufzuklären und dabei festzustellen, ob die Vollzugsbehörde den zugrunde gelegten Sachverhalt insgesamt vollständig ermittelt und damit eine hinreichende tatsächliche Grundlage für ihre Entscheidung geschaffen hat (vgl. [X.] 70, 297 <308>).

Legt das Strafvollstreckungsgericht seiner Entscheidung diesen Maßstab zugrunde, prüft das [X.] lediglich, ob das Strafvollstreckungsgericht der Vollzugsbehörde einen zu weiten Beurteilungsspielraum zugebilligt und damit Bedeutung und Tragweite des verfassungsrechtlich geschützten Resozialisierungsanspruchs verkannt hat und ob die angegriffene Entscheidung unter Zugrundelegung des dargelegten fachgerichtlichen Maßstabs schlechthin nicht mehr nachvollziehbar ist und damit den aus dem allgemeinen Gleichheitssatz abzuleitenden Anspruch auf willkürfreie Entscheidung (Art. 3 Abs. 1 GG) verletzt (vgl. [X.], Beschluss der [X.] des Zweiten Senats vom 1. April 1998 - 2 BvR 1951/96 -, Rn. 21).

b) Nach diesem Maßstab können die angegriffenen Entscheidungen keinen Bestand haben.

aa) Die Entscheidung des [X.] genügt nicht den verfassungsrechtlichen Anforderungen. Wenn das Gericht dem Beschwerdeführer entgegenhält, die Justizvollzugsanstalt sei rechtsfehlerfrei davon ausgegangen, dass die Voraussetzung von Ausführungen die (konkrete) Gefahr sei, dass Einschränkungen der [X.] drohten, was diese anhand von Prognosekriterien verneint habe, verfehlt es - wie zuvor schon die Justizvollzugsanstalt - den Sinn des grundrechtlichen Gebots, einem Verlust der [X.] des Beschwerdeführers nach Möglichkeit entgegenzuwirken beziehungsweise dessen [X.] zu festigen. Dieses Gebot bezieht sich als Element der staatlichen Verpflichtung, den Haftvollzug am Resozialisierungsziel auszurichten, offensichtlich nicht nur auf den drohenden Verlust von für das Leben in Haft bedeutsamen Fähigkeiten, sondern gerade auch auf die Erhaltung der Tüchtigkeit für ein Leben in Freiheit. Der Gefangene soll so lebenstüchtig bleiben, dass er sich im Falle einer Entlassung aus der Haft im normalen Leben wieder zurechtfindet (vgl. [X.] 45, 187 <240>; [X.], Beschlüsse der [X.] des Zweiten Senats vom 12. November 1997 - 2 BvR 615/97 -,Rn. 10, und vom 13. Dezember 1997 - 2 BvR 1404/96 -, Rn. 15; Beschlüsse der [X.] des Zweiten Senats vom 5. August 2010 - 2 BvR 729/08 -, Rn. 32, und vom 26. Oktober 2011 - 2 BvR 1539/09 -, Rn. 23). Mit der Annahme, das Gebot, die [X.] des Gefangenen zu erhalten und zu festigen, greife erst ein, wenn der Gefangene Anzeichen einer drohenden haftbedingten [X.] aufweist, die sich bereits als Einschränkung seiner [X.] unter den Verhältnissen der Haft bemerkbar macht, wird es daher grundlegend missverstanden (vgl. [X.], Beschluss der [X.] des Zweiten Senats vom 26. Oktober 2011 - 2 BvR 1539/09 -, Rn. 23). Bei den von der Justizvollzugsanstalt herangezogenen Leitlinien der [X.], wonach Ausführungen zum Erhalt der [X.] im Ergebnis erst gewährt werden, wenn sich Einschränkungen in lebenspraktischen Fähigkeiten abzeichnen, handelt es sich um nichts anderes als bereits konkret vorliegende haftbedingte Schädigungen. Dies hat das [X.], wie zuvor schon die Justizvollzugsanstalt, verkannt. Dem hohen Gewicht, das dem [X.] des Beschwerdeführers nach rund siebenjährigem Freiheitsentzug für die Ermessensentscheidung der Justizvollzugsanstalt zukam, hat es auf diese Weise nicht hinreichend Rechnung getragen.

Auch der Bewertung des [X.], dass die von der Justizvollzugsanstalt herangezogene Missbrauchs- und Fluchtgefahr die Versagung von Ausführungen trage, verkennt die Bedeutung und Tragweite des [X.]s und die trotz des [X.] bei der Bewertung von Flucht- und Missbrauchsgefahr fortbestehende Prüfungspflicht der Gerichte. Denn insoweit erschöpft sich die Versagungsentscheidung der Justizvollzugsanstalt in dem pauschalen Verweis auf eine vor zehn Jahren aus dem offenen Vollzug heraus begangene Tat des Beschwerdeführers, von der, ohne dass aktuelle Erkenntnisse die Gefahrenprognose untermauern, nicht ohne Weiteres auf eine bis heute fortbestehende Missbrauchsgefahr geschlossen werden kann. Dasselbe gilt für die lediglich mit der ausstehenden Reststrafe begründete Fluchtgefahr. Diese Erwägungen tragen die Versagung demnach erkennbar nicht. Beide Wertungen stehen überdies in einem - im fachgerichtlichen Verfahren trotz Hinweis des Beschwerdeführers nicht aufgeklärten - Widerspruch zu der Einlassung der Justizvollzugsanstalt, die Überstellung des Beschwerdeführers in den offenen Vollzug - die üblicherweise ein besonderes Vertrauen in die Absprachefähigkeit des Gefangenen voraussetzt - sei in Bearbeitung.

Darauf, dass das [X.] auch nicht hinreichend geprüft hat, inwiefern die Justizvollzugsanstalt der von ihr angenommenen Flucht- oder Missbrauchsgefahr durch geeignete Sicherheitsvorkehrungen, etwa auch einer verdeckten Fesselung, hätte entgegenwirken können, kommt es demnach nicht mehr an. Insoweit ist jedoch darauf hinzuweisen, dass die pauschale Versagung einer Ausführung mit dem Argument, sie entspreche nicht dem realen Erleben und verfehle ihren Zweck, wenn sie unter Sicherheitsvorkehrungen stattfinde, nicht nur die Eigenarten einer Ausführung im System der vollzugsöffnenden Maßnahmen verkennt, sondern auch deren Bedeutung für den Erhalt und die Festigung der [X.] langjährig Inhaftierter grundlegend falsch gewichtet.

bb) Das [X.] hat seinem Beschluss über die Rechtsbeschwerde ergänzende Bemerkungen hinzugefügt, die den Beschwerdeführer ebenfalls in seinen Rechten aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG verletzen. Auch das [X.] berücksichtigt die Bedeutung und Tragweite des [X.]s nicht hinreichend, wenn es - unter Hinweis auf die eigene Rechtsprechung - feststellt, dass Ausführungen auch bei langjährig Inhaftierten nur geboten seien, wenn Einschränkungen der [X.] konkret drohten, und dies im vorliegenden Fall verneint. Wie zuvor schon das [X.] verkennt das [X.], dass es, indem es ein durch Anzeichen belegtes Drohen von Einschränkungen der [X.] in der Haft zur Voraussetzung von Ausführungen macht, nichts anderes als das Vorliegen von haftbedingten [X.]en fordert, denen durch Gewährung von Ausführungen gerade vorgebeugt werden soll. Solche bereits bemerkbaren Defizite dürfen demnach von [X.] wegen nicht zur Voraussetzung von Ausführungen langjährig Inhaftierter erhoben werden. Auch wenn ein langjährig inhaftierter Strafgefangener, wie der Beschwerdeführer, noch keine Anzeichen haftbedingter Schädigungen und keine Einschränkungen in lebenspraktischen Fähigkeiten unter den Bedingungen der Haft zeigt, folgt aus dem [X.], dass ihm Ausführungen zu gewähren sind, es sei denn, einer konkret und durch aktuelle Tatsachen belegten Missbrauchs- oder Fluchtgefahr kann durch die Begleitung von Bediensteten und, soweit erforderlich, durch zusätzliche Weisungen und Auflagen wie etwa der verhältnismäßigen Anordnung einer (verdeckten) Fesselung nicht hinreichend begegnet werden. Auch der Beschluss des [X.]s leidet demnach unter den verfassungsrechtlich zu beanstandenden Mängeln, die bereits der landgerichtliche Beschluss aufweist.

2. Da die angegriffenen Entscheidungen schon wegen Verstoßes gegen das [X.] verfassungswidrig sind, kann offenbleiben, ob sie auch weitere Grundrechte oder grundrechtsgleiche Rechte des Beschwerdeführers verletzen.

Nach § 93c Abs. 2, § 95 Abs. 2 [X.] sind die angegriffenen Beschlüsse aufzuheben. Der dem fachgerichtlichen Verfahren zugrundeliegende Antrag des Beschwerdeführers dürfte sich infolge seiner Termingebundenheit zwar erledigt haben. Die Sache ist jedoch zur erneuten Entscheidung über die Kosten an das [X.] zurückzuverweisen (vgl. [X.] 35, 202 <245>; 128, 326 <407>).

Die Entscheidung über die Auslagenerstattung folgt aus § 34a Abs. 2 [X.].

Meta

2 BvR 1165/19

18.09.2019

Bundesverfassungsgericht 2. Senat 2. Kammer

Stattgebender Kammerbeschluss

Sachgebiet: BvR

vorgehend OLG Hamm, 9. Mai 2019, Az: III - 1 Vollz(Ws) 92/19, Beschluss

Art 1 Abs 1 GG, Art 2 Abs 1 GG, § 93c Abs 1 S 1 BVerfGG, § 2 S 1 StVollzG, § 11 Abs 1 Nr 2 StVollzG, § 53 Abs 3 StVollzG NW

Zitier­vorschlag: Bundesverfassungsgericht, Stattgebender Kammerbeschluss vom 18.09.2019, Az. 2 BvR 1165/19 (REWIS RS 2019, 3464)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2019, 3464

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