Bundesverfassungsgericht, Stattgebender Kammerbeschluss vom 31.07.2018, Az. 2 BvR 714/18

2. Senat 1. Kammer | REWIS RS 2018, 5270

Foto: © Bundesverfassungsgericht │ foto USW. Uwe Stohrer, Freiburg

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Gegenstand

Stattgebender Kammerbeschluss: Unzureichende fachgerichtliche Sachaufklärung bzgl der Aufnahmebedingungen für anerkannt Schutzberechtigte in Griechenland verletzt Art 19 Abs 4 S 1 GG  iVm Art 2 Abs 2 S 1 GG - Gegenstandswertfestsetzung


Tenor

Die Beschlüsse des [X.] vom 29. März 2018 - [X.]/18.A - und - [X.] K 3355/17.A - sowie vom 6. März 2018 - [X.] 727/17.A - und - [X.] L 727/17.A, [X.] K 3355/17.A - verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 19 Absatz 4 Satz 1 in Verbindung mit Artikel 2 Absatz 2 Satz 1 des Grundgesetzes. Die Beschlüsse werden aufgehoben.

Damit erledigt sich der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung.

Das [X.] hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen für das Verfassungsbeschwerdeverfahren und für das Verfahren auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zu erstatten.

Damit erledigt sich der Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung von Rechtsanwalt D…, für das Verfassungsbeschwerdeverfahren und für das Verfahren auf Erlass einer einstweiligen Anordnung.

Der Gegenstandswert der anwaltlichen Tätigkeit wird für das Verfassungsbeschwerdeverfahren auf 10.000 € (in Worten: zehntausend [X.]) und für den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung auf 5.000 € (in Worten: fünftausend [X.]) festgesetzt.

Gründe

1

1. Der am 1. Januar 1998 geborene Beschwerdeführer ist [X.] Staatsangehöriger, [X.] Volkszugehörigkeit und muslimischen Glaubens. Er reiste am 1. März 2017 in die [X.] ein und stellte am 3. März 2017 einen Asylantrag. Auf Anfrage des [X.] mit Schreiben vom 28. April 2017 mit, dass dem Beschwerdeführer internationaler Schutz zuerkannt worden sei.

2

2. Das [X.] lehnte den Asylantrag mit Bescheid vom 20. Mai 2017 als unzulässig ab, stellte fest, dass keine Abschiebungsverbote vorlägen und drohte dem Beschwerdeführer die Abschiebung nach [X.] an. Der Asylantrag sei aufgrund der Schutzgewährung in [X.] gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 2 [X.] unzulässig. Abschiebungsverbote lägen nicht vor. Eine Verletzung der Rechte des Beschwerdeführers aus Art. 3 [X.] bei einer Rückführung nach [X.] aufgrund der dortigen humanitären Verhältnisse drohe nicht. [X.] sei Mitglied der [X.]. Die [X.] habe zahlreiche Regelungen zur Behandlung von Flüchtlingen erlassen. Es sei davon auszugehen, dass [X.] diese Regelungen einhalte. Das Abschiebungsverbot des § 60 Abs. 7 Satz 1 [X.] könne ebenfalls nicht zugunsten des Beschwerdeführers festgestellt werden. Er habe nicht vorgetragen, weshalb ihm im zuständigen [X.] [X.] künftig eine Gefahr der wesentlichen Gesundheitsverschlechterung drohen sollte.

3

3. Der Beschwerdeführer erhob fristgerecht Klage gegen den Bescheid und beantragte vorläufigen Rechtsschutz sowie die Bewilligung von Prozesskostenhilfe. Mit Schreiben vom 26. Juni 2017 führte er aus: Bei einem Raketenangriff auf das [X.] in [X.], einer [X.] Stadt auf den [X.], seien Ende 2015 seine Eltern und zwei jüngere Brüder getötet worden; er selbst habe schwer verletzt überlebt. Er habe noch einen älteren Bruder, der seit Anfang 2016 in [X.] als Flüchtling anerkannt sei. Er - der Beschwerdeführer - habe [X.] am Kopf, am rechten Bein und an der linken Hand erlitten. Seither benötige er dauerhaft Schmerzmittel. Zur Entfernung der [X.] aus dem Handgelenk bedürfe es einer [X.]. Er habe sich auch in psychiatrische Behandlung begeben. Im Hinblick auf die Lage anerkannter Schutzberechtigter in [X.] machte der Beschwerdeführer ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 [X.] in Verbindung mit Art. 3 [X.] geltend und berief sich auf den Beschluss der [X.] des Zweiten Senats des [X.] vom 8. Mai 2017 - 2 BvR 157/17 -. Die Situation für anerkannte Schutzberechtigte sei noch dramatischer als die Lage für Asylbewerber. Unterkünfte würden nicht zur Verfügung gestellt, finanzielle Unterstützung werde nicht gewährt, die medizinische Versorgung sei nicht gewährleistet. Die von Artikel 34 der [X.] geforderten Integrationsmaßnahmen, die über eine Inländergleichbehandlung hinausgingen, würden nicht angeboten. Bei anerkannten Schutzberechtigten handele es sich generell um eine besonders verletzliche Gruppe, die zumindest für eine Übergangszeit auf staatliche Hilfe angewiesen sei. Er selbst sei jedenfalls unter anderem aufgrund der behandlungsbedürftigen körperlichen und seelischen Verletzungen und seines jungen Alters eine besonders vulnerable Person. Der Beschwerdeführer wies unter anderem auf den Bericht von [X.] vom 23. Juni 2017 hin, nach dem die Rechte für anerkannte Flüchtlinge nur auf dem Papier bestünden und effektiver Schutz daher praktisch nicht zu erlangen sei. Er legte zudem eine eidesstattliche Versicherung vor, nach der er nicht in [X.] habe bleiben wollen, weil er unbedingt zu seinem Bruder als einzigem überlebenden Familienmitglied gewollt habe. Er habe aber auch in [X.] nicht länger bleiben können. Vier Monate lang habe er auf [X.] in einem Flüchtlingslager wie in einem Gefängnis gelebt. Danach habe er sich in [X.] aufgehalten. Auch nachdem er im Oktober 2016 eine Flüchtlingsanerkennung erhalten hatte, sei er obdachlos gewesen. Zum Teil habe er mit anderen in einem besetzten Haus gelebt, im letzten Monat habe ein Bekannter ihn vorübergehend aufgenommen. Er habe keine finanzielle Unterstützung erhalten. Die nötigen Schmerzmittel habe er von dem Geld gekauft, das ihm sein Bruder geschickt habe. Er habe mehrmals vergeblich im Krankenhaus wegen eines [X.]stermins vorgesprochen. Der Beschwerdeführer berief sich auch auf ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 [X.] in Verbindung mit Art. 8 [X.] wegen der Beziehung zu seinem Bruder, der seine verbliebene "Kernfamilie" sei. Diese Beziehung sei jedenfalls - unter dem Aspekt des Privatlebens - durch Art. 8 [X.] geschützt, aber auch durch Art. 6 GG. Ferner machte der Beschwerdeführer ein Abschiebeverbot gemäß § 60 Abs. 7 [X.] mit der Begründung geltend, die gebotene Behandlung seiner physischen und psychischen Verletzungen sei in [X.] nicht gewährleistet. Im Falle einer Abschiebung sei eine rapide Verschlechterung seines Gesundheitszustandes wahrscheinlich; eine Suizidalität sei nicht auszuschließen.

4

4. Das [X.] lehnte den Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz mit Beschluss vom 6. März 2018 ab und nahm zur Begründung auf die Feststellungen und Gründe des angegriffenen Bescheides Bezug. Nach einer aktuellen Gesamtwürdigung der vorliegenden Berichte und Stellungnahmen sehe das Gericht hinsichtlich anerkannter Schutzberechtigter in [X.] keine Anhaltspunkte für einen generellen Verstoß gegen Art. 3 [X.]. Anerkannten Schutzberechtigten werde grundsätzlich unter gleichen Voraussetzungen wie Inländern Zugang zu Bildung, Gesundheitsversorgung, Arbeitsmarkt und zur Sozialversicherung gewährt. Allerdings sorge in der Praxis die schlechte wirtschaftliche und [X.] Situation des [X.] für starke Einschränkungen bei der tatsächlichen Inanspruchnahme dieser Rechte. Die beabsichtigte Einführung eines Sozialhilfesystems ab Januar 2017, zu dem anerkannte Flüchtlinge gleichberechtigten Zugang erhalten sollten, sei noch nicht erfolgt. Insgesamt hätten aber anerkannte Schutzberechtigte in [X.] im Grundsatz die gleichen (eingeschränkten) Rechte wie die einheimische Bevölkerung, von der ebenfalls erwartet werde, dass sie selbst für ihre Unterbringung und ihren Lebensunterhalt sorge. Der Beschwerdeführer gehöre auch nicht zur Gruppe der besonders vulnerablen Personen, weil die von ihm vorgelegten ärztlichen Atteste nicht den Anforderungen des § 60a Abs. 2c Satz 2 und 3 [X.] entsprächen; auf frühere Rechtsprechung des [X.] wurde Bezug genommen. Es bleibe daher bei der gesetzlichen Vermutung des § 60a Abs. 2c Satz 1 [X.], dass der Abschiebung keine gesundheitlichen Gründe entgegenstünden.

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5. Im Hauptsacheverfahren wies das Verwaltungsgericht die Klage des Beschwerdeführers mit Gerichtsbescheid vom 6. März 2018 als offensichtlich unbegründet ab; hiergegen beantragte der Beschwerdeführer mündliche Verhandlung, die bislang noch nicht durchgeführt wurde.

6

6. Mit weiterem Beschluss vom 6. März 2018 lehnte das Verwaltungsgericht die Anträge des Beschwerdeführers auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das fachgerichtliche Eil- und Hauptsacheverfahren unter Bezugnahme auf den Gerichtsbescheid im Klageverfahren und den ablehnenden Beschluss im vorläufigen Rechtsschutzverfahren ab.

7

7. Der Beschwerdeführer beantragte mit Schreiben vom 21. März 2018 die Abänderung der ablehnenden (Sach-)Entscheidung im vorläufigen Rechtsschutzverfahren, erhob Anhörungsrüge und begehrte die Abänderung der ablehnenden [X.]en. Er rügte, dass der Beschluss vom 6. März 2018 auf einer unzureichenden Tatsachengrundlage beruhe, weil nur auf verwaltungsgerichtliche Eilentscheidungen bis einschließlich 26. April 2017 sowie einen Bericht des [X.] vom 22. Dezember 2016 Bezug genommen werde. Der Beschluss der [X.] des Zweiten Senats des [X.] vom 8. Mai 2017 - 2 BvR 157/17 - werde nicht berücksichtigt. Ferner werde mehrfach auf den Beschluss des [X.] vom 17. Februar 2017 - 23 L 1629.16 A - (juris) verwiesen, obwohl das Verwaltungsgericht sich mit Urteil vom 30. November 2017 - 23 K 463.17 A - (juris) im zugehörigen Hauptsacheverfahren korrigiert und nach Auswertung der aktuellen Erkenntnislage angenommen habe, dass die Aufnahmebedingungen in [X.] nicht dem durch Art. 3 [X.] geforderten Mindeststandard entsprächen, insbesondere, weil - wie konkret bezogen auf den Zugang zu Arbeitsmarkt, Gesundheitsversorgung und Unterkünften näher ausgeführt werde - Teilhaberechte nur theoretisch zur Verfügung stünden und faktisch nicht realisiert werden könnten. Auf den Bericht von [X.] vom 23. Juni 2017, der zum gleichen Schluss komme, gehe das Verwaltungsgericht nicht ein. Wie das Gericht zu der Erkenntnis komme, dass der Beschwerdeführer keine besonders vulnerable Person sei, obwohl er mit Ausnahme des Bruders seine gesamte Familie verloren habe, sei nicht nachvollziehbar; insoweit liege ein Verstoß gegen das Recht des Beschwerdeführers auf Gewährung rechtlichen Gehörs vor. Eine Auseinandersetzung mit dem geltend gemachten Abschiebungshindernis nach § 60 Abs. 5 [X.] in Verbindung mit Art. 8 [X.] fehle. Auch insoweit liege ein Gehörsverstoß vor. Schließlich werde sein Anspruch auf rechtliches Gehör ebenfalls dadurch verletzt, dass das Verwaltungsgericht den Vortrag zu seinen gesundheitlichen Beeinträchtigungen nicht zur Kenntnis nehme. Der Maßstab des § 60a Abs. 2c [X.] gelte für inlandsbezogene [X.], nicht aber für zielstaatsbezogene Abschiebungsverbote wie § 60 Abs. 7 [X.]. Im Übrigen belegten die Atteste die besondere Vulnerabilität des Beschwerdeführers.

8

8. Mit Beschluss vom 29. März 2018 lehnte das Verwaltungsgericht im vorläufigen Rechtsschutzverfahren die Abänderung in der Sache und die Bewilligung von Prozesskostenhilfe ab. Der Abänderungsantrag sei jedenfalls unbegründet. Dass der für anerkannte Flüchtlinge geltende Maßstab der Inländergleichbehandlung in [X.] nicht erfüllt werde, mache der Beschwerdeführer nicht substantiiert geltend. Auf die Anforderungen an das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Asylsuchende komme es nicht an. Eine Gehörsverletzung hinsichtlich der ärztlichen Atteste liege nicht vor, weil diese nicht allein aufgrund der gesetzlichen Vermutungsregelung des § 60a Abs. 2c [X.], sondern auch im Hinblick auf die in der Rechtsprechung des [X.] entwickelten Anforderungen an die Glaubhaftmachung psychischer Erkrankungen unberücksichtigt geblieben seien. Schließlich sei der Bruder des volljährigen Beschwerdeführers kein Familienangehöriger im Sinne des Art. 2 Buchstabe g) der Dublin-III-Verordnung. Mit gesondertem Beschluss vom 29. März 2018 blieb der Antrag des Beschwerdeführers auf Abänderung der [X.] zum Hauptsacheverfahren erfolglos.

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1. Der Beschwerdeführer hat am 12. April 2018 fristgerecht Verfassungsbeschwerde erhoben und den Erlass einer einstweiligen Anordnung beantragt. Die Entscheidungen verletzten ihn in seinen Grundrechten aus Art. 19 Abs. 4 in Verbindung mit Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, Art. 103 Abs. 1 GG, Art. 3 Abs. 1 GG und Art. 19 Abs. 4 in Verbindung mit Art. 3 Abs. 1 GG.

a) Eine Verletzung in seinem Grundrecht aus Art. 19 Abs. 4 in Verbindung mit Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG resultiere daraus, dass - wie in dem Beschluss der [X.] des Zweiten Senats des [X.] vom 8. Mai 2017 - 2 BvR 157/17 - (Rn. 14, 16 f.) - die angegriffenen Entscheidungen auf der nicht fundierten Annahme beruhten, die Situation anerkannter Schutzberechtigter sei anders zu bewerten als die von Asylbewerbern; es genüge den unionsrechtlichen Vorgaben, dass sich anerkannte Schutzberechtigte - theoretisch - auf Inländergleichbehandlung berufen könnten. Trotz der Hinweise des Beschwerdeführers auf Erkenntnisse zur Lage anerkannter Schutzberechtigter in [X.] und auf die verfassungsrechtlich vorgegebenen Anforderungen an die Sachverhaltsaufklärung habe das Verwaltungsgericht sich mit einer kursorischen Darstellung zur Rechtslage hinsichtlich der Inländergleichbehandlung begnügt; die Auffassung, die Aufnahmebedingungen genügten den Anforderungen des Art. 3 [X.], entspreche im Übrigen nicht der aktuellen Auskunftslage. Diesbezüglich wiederholt der Beschwerdeführer seinen Vortrag aus dem fachgerichtlichen Verfahren. Das Verwaltungsgericht werde damit dem verfassungsrechtlichen Maßstab an die Beurteilung der Aufnahmebedingungen für anerkannte Schutzberechtigte nicht gerecht. Es setze den von ihm angeführten Erkenntnissen nicht etwa eigene, anderslautende Erkenntnisse entgegen, und unternehme auch nicht den Versuch einer Widerlegung. Vielmehr werde auf dem entgegengesetzten Standpunkt aufgrund veralteter Entscheidungen und einer oberflächlichen Auswertung der Rechtslage hinsichtlich der Inländergleichbehandlung beharrt. Die fachgerichtliche Beurteilung der Aufnahmebedingungen müsse aber nach der Rechtsprechung des [X.] auf einer hinreichend verlässlichen, auch ihrem Umfang nach zureichenden tatsächlichen Grundlage beruhen. Es fehle an einer Auseinandersetzung mit der Auffassung, bei anerkannt Schutzberechtigten handele es sich generell ebenso wie bei Asylbewerbern um eine besonders verletzliche Gruppe, die zumindest für eine Übergangszeit auf staatliche Hilfe bei der Integration in den [X.] angewiesen sei. Soweit das Verwaltungsgericht den Beschwerdeführer nicht für eine besonders vulnerable Person halte, werde nicht gewürdigt, dass dieser in [X.] fast seine gesamte Familie verloren habe. Auch die vorgelegte Bescheinigung eines Facharztes für Psychiatrie bleibe unberücksichtigt, ebenso wie die weiteren ärztlichen Bescheinigungen über Verletzungen durch [X.].

b) Die Entscheidungen des [X.] im vorläufigen Rechtsschutzverfahren verletzten auch den Anspruch des Beschwerdeführers auf Gewährung rechtlichen Gehörs aus Art. 103 Abs. 1 GG. Das Vorbringen zu seinen persönlichen Erlebnissen in [X.] sei ebenso völlig unberücksichtigt geblieben wie der aktuelle Bericht von [X.]. Auch das Vorbringen zum Abänderungsantrag werde weitgehend ignoriert. Es liege ein Fall evidenter Nichtberücksichtigung vor.

c) Nach dem Maßstab des Beschlusses der [X.] des Zweiten Senats des [X.] vom 21. April 2016 - 2 BvR 273/16 - (Rn. 11) verstießen die Entscheidungen des [X.] im vorläufigen Rechtsschutzverfahren auch gegen das in Art. 3 Abs. 1 GG verankerte Willkürverbot, weil es gänzlich an einer Auseinandersetzung mit aktuellen Erkenntnismitteln fehle, ebenso an der Stellungnahme zu den im Beschluss des [X.] vom 8. Mai 2017 aufgeworfenen Fragestellungen zur tatsächlichen Lage in [X.] und an einer Anwendung der vom [X.] vorgegebenen Maßstäbe.

d) Schließlich verletzten die Entscheidungen des [X.] über die Ablehnung von Prozesskostenhilfe für Eil- und Hauptsacheverfahren das Grundrecht auf effektiven und gleichen Rechtsschutz aus Art. 19 Abs. 4 in Verbindung mit Art. 3 Abs. 1 GG. Sowohl dem Eilantrag als auch der Klage habe nicht von vornherein die Erfolgsaussicht abgesprochen werden können, weil die Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen anerkannte Schutzberechtigte nach [X.] abgeschoben werden dürften, in der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung gerade nicht abschließend geklärt sei.

2. Die Akten der Ausgangsverfahren haben dem [X.] vorgelegen. Das [X.] und Verbraucherschutz des [X.] Brandenburg hatte Gelegenheit zur Stellungnahme.

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt, weil dies zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 [X.] genannten Rechte des Beschwerdeführers angezeigt ist (§ 93b [X.]. § 93a Abs. 2 Buchstabe b [X.]). Das [X.] hat die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen bereits entschieden (§ 93c Abs. 1 Satz 1 [X.]). Damit erledigt sich der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung.

1. Die Verfassungsbeschwerde ist in einer die Entscheidungskompetenz der Kammer begründenden Weise offensichtlich begründet im Sinne von § 93c Abs. 1 Satz 1 [X.]. Das Verwaltungsgericht hat die sich aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 in Verbindung mit Art. 2 Abs. 2 Satz 1 und 2 GG ergebenden Anforderungen an die Beurteilung der Aufnahmebedingungen in dem [X.] als unmenschliche und entwürdigende Behandlung im Sinne von § 60 Abs. 5 [X.] in Verbindung mit Art. 3 [X.] verfehlt (vgl. zu [X.] bereits: [X.], Beschluss der [X.] des Zweiten Senats vom 8. Mai 2017 - 2 BvR 157/17 -, juris).

Den schutzwürdigen Interessen des Betroffenen muss im Anwendungsbereich des Art. 2 Abs. 2 GG wirksam Rechnung getragen werden (vgl. [X.]K 10, 108 <112 f.>). Die Verfahrensgewährleistung des Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG beschränkt sich nicht auf die Einräumung der Möglichkeit, die Gerichte gegen Akte der öffentlichen Gewalt anzurufen; sie gibt dem Bürger darüber hinaus einen Anspruch auf eine wirksame gerichtliche Kontrolle. Das Gebot effektiven Rechtsschutzes verlangt nicht nur, dass jeder potenziell rechtsverletzende Akt der Exekutive in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht der richterlichen Prüfung unterstellt werden kann; vielmehr müssen die Gerichte den betroffenen Rechten auch tatsächliche Wirksamkeit verschaffen (vgl. [X.]E 35, 263 <274>; 40, 272 <275>; 67, 43 <58>; 84, 34 <49>; stRspr). Das Maß dessen, was wirkungsvoller Rechtsschutz ist, bestimmt sich entscheidend auch nach dem sachlichen Gehalt des als verletzt behaupteten Rechts (vgl. [X.]E 60, 253 <297>), hier des Rechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit in Verbindung mit der Gewährleistung des Art. 3 [X.] im Lichte der Rechtsprechung des [X.] für Menschenrechte.

In der Rechtsprechung des [X.] für Menschenrechte ist anerkannt, dass die Rückführung eines Flüchtlings in einen anderen Konventionsstaat eine Verletzung des Art. 3 [X.] auch durch den [X.] darstellen kann, wenn den Behörden bekannt ist oder bekannt sein muss, dass dort gegen Art. 3 [X.] verstoßende Bedingungen herrschen. Solche Bedingungen können dann anzunehmen sein, wenn ein Flüchtling völlig auf sich allein gestellt ist und er über einen langen Zeitraum gezwungen sein wird, auf der Straße zu leben, ohne Zugang zu sanitären Einrichtungen oder Nahrungsmitteln (vgl. hierzu insgesamt [X.], Urteil vom 21. Januar 2011 - 30696/09 - M.S.S. gg. [X.] und [X.], Rn. 263 f. und 365 ff.).

Die verfahrensrechtlichen Anforderungen an die Sachverhaltsaufklärung haben dem hohen Wert dieser Rechte Rechnung zu tragen (vgl. zu den Anforderungen an einen wirkungsvollen Rechtsschutz im Zusammenhang mit Art. 2 Abs. 2 GG [X.]E 117, 71 <106 f.>) und die Vorgaben der Europäischen Menschenrechtskonvention zu berücksichtigen (vgl. [X.]E 111, 307 <323 ff.>). In Fällen, in denen es um die Beurteilung der Aufnahmebedingungen in einem [X.] als unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne des Art. 3 [X.] geht, kommt der verfahrensrechtlichen Sachaufklärungspflicht (§ 86 Abs. 1 VwGO) verfassungsrechtliches Gewicht zu. Die fachgerichtliche Beurteilung solcher möglicherweise gegen Art. 3 [X.] verstoßenden Aufnahmebedingungen muss daher, jedenfalls wenn diese ernsthaft zweifelhaft sind, etwa weil dies in der jüngsten Vergangenheit noch von der Bundesregierung und der [X.] bejaht wurde und damit der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens erschüttert ist, auf einer hinreichend verlässlichen, auch ihrem Umfang nach zureichenden tatsächlichen Grundlage beruhen (vgl. hierzu [X.], Beschluss der [X.] des Zweiten Senats vom 21. April 2016 - 2 BvR 273/16 -, juris, Rn. 11; [X.], Beschluss der [X.] des Zweiten Senats vom 8. Mai 2017 - 2 BvR 157/17 -, juris, Rn. 16). Dabei kann es sowohl verfassungsrechtlich als auch konventionsrechtlich geboten sein, dass sich die zuständigen Behörden und Gerichte vor einer Rückführung in den [X.] über die dortigen Verhältnisse informieren und gegebenenfalls Zusicherungen der zuständigen Behörden einholen (vgl. [X.]E 94, 49 <100>; [X.], Beschluss der [X.] des Zweiten Senats vom 17. September 2014 - 2 BvR 732/14 -, juris, Rn. 15 f., [X.], Urteil vom 21. Januar 2011 - 30696/09 - M.S.S. gg. [X.] und [X.], Rn. 353 f. und [X.], Urteil vom 4. November 2014 - 29217/12 - Tarakhel gg. [X.], Rn. 121).

Soweit entsprechende Erkenntnisse und Zusicherungen im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nicht vorliegen und nicht eingeholt werden können, ist es zur Sicherung effektiven Rechtsschutzes geboten, die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen (vgl. zur Bedeutung des Verfahrens des einstweiligen Rechtsschutzes für das Grundrecht aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG [X.]E 126, 1 <27 ff.>; zuletzt [X.], Beschluss der [X.] des Zweiten Senats vom 17. Januar 2017 - 2 BvR 2013/16 -, juris, Rn. 17).

2. Die angegriffenen Entscheidungen werden diesen Vorgaben nicht gerecht. Die Schlussfolgerung des [X.] beruht im Wesentlichen auf der Annahme, die Situation des Beschwerdeführers als anerkannter Schutzberechtigter in [X.] sei anders zu bewerten als jene von Asylbewerbern; der Umstand, dass sich anerkannt Schutzberechtigte auf eine Gleichbehandlung mit Inländern berufen könnten, genüge den unionsrechtlichen Vorgaben. Auch habe die [X.] am 8. Dezember 2016 empfohlen, wieder [X.] nach [X.] durchzuführen.

Mit dieser Begründung verfehlt das Verwaltungsgericht die aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG in Verbindung mit Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG folgenden Anforderungen. Der Beschwerdeführer hat im fachgerichtlichen Verfahren zahlreiche Erkenntnisse vorgelegt, aus denen sich ergibt, dass anerkannt Schutzberechtigten in [X.] nicht einmal die geringen Unterstützungsleistungen zugänglich sind, die Personen zustehen, über deren Antrag auf internationalen Schutz noch nicht entschieden wurde. Anerkannt Schutzberechtigte hätten - auch angesichts der Wirtschaftskrise in [X.] - keinen Zugang zu Arbeit oder zu Sozialleistungen, erhielten keinerlei Unterstützung bei der Suche nach einer Wohnung und müssten gleichwohl unmittelbar nach ihrer Anerkennung die Flüchtlingsunterkünfte verlassen. Ihnen drohe von diesem Zeitpunkt an die Obdachlosigkeit; Integrationsmaßnahmen würden von staatlicher Seite nicht angeboten.

Zwar trifft die Grundannahme des [X.] zu, dass anerkannt Schutzberechtigten nach Art. 20 ff. der Richtlinie 2011/95/[X.] (Qualifikationsricht-linie) und den [X.] der [X.] im Wesentlichen - nur - ein Anspruch auf Inländergleichbehandlung zusteht. Das Verwaltungsgericht setzt sich jedoch nicht damit auseinander, dass zum einen die von Artikel 34 [X.] geforderten, über die Inländergleichbehandlung hinausgehenden Integrationsmaßnahmen nicht angeboten werden (vgl. zur Relevanz dieser Maßnahmen bei der Prüfung einer Verletzung des Art. 3 [X.]: [X.] [X.]hof, Urteil vom 4. November 2016 - 3 A 1292/16.A -, juris, Rn. 29 ff.). Zum anderen knüpfen die in [X.] verfügbaren Sozialleistungen an einen bis zu 20jährigen legalen Aufenthalt an, weshalb anerkannt Schutzberechtigte von der Inanspruchnahme dieser Leistungen faktisch ausgeschlossen sind (vgl. [X.], Beschluss der [X.] des Zweiten Senats vom 8. Mai 2017 - 2 BvR 157/17 -, juris, Rn. 20).

Zudem bedarf es einer Auseinandersetzung mit der Einschätzung, bei anerkannt Schutzberechtigten ebenso wie bei Asylbewerbern treffe die Annahme des [X.] für Menschenrechte zu, dass es sich hierbei um eine besonders verletzliche Gruppe handelt, die zumindest für eine Übergangszeit auf staatliche Hilfe bei der Integration in den [X.] angewiesen ist (vgl. [X.] [X.]hof, Urteil vom 4. November 2016 - 3 A 1292/16.A -, juris, Rn. 24 f.). Es hätte daher - insbesondere vor dem Hintergrund, dass die von Artikel 34 [X.] vorgeschriebenen Integrationsmaßnahmen nicht existieren - weiterer Feststellungen dazu bedurft, ob und wie für nach [X.] zurückgeführte anerkannt Schutzberechtigte zumindest in der [X.] nach ihrer Ankunft der Zugang zu Obdach, Nahrungsmitteln und sanitären Einrichtungen sichergestellt wird.

Die erforderlichen Erkenntnisse hierzu enthält jedenfalls nicht die vom Verwaltungsgericht benannte Empfehlung der [X.] vom 8. Dezember 2016. Denn diese legt nur Verbesserungen - auch der humanitären Standards - für die Dauer des [X.] Asylverfahrens dar, bezieht sich also nicht auf die hier relevante Problematik der anerkannt Schutzberechtigten. Insbesondere ist nicht die Rede davon, dass erweiterte - nach wie vor nicht ausreichende - Unterbringungskapazitäten für Asylbewerber auch rückgeführten anerkannt Schutzberechtigten zur Verfügung stünden. Im Übrigen empfiehlt die [X.] Rückführungen zur Durchführung von Asylverfahren ohnehin nur für den Fall, dass jeweils im Einzelfall aufgrund einer Zusicherung der [X.] Behörde feststeht, dass der [X.] in einer Flüchtlingsunterkunft unterkommen kann (vgl. Ziff. 10 der empfohlenen Maßnahmen zur Verbesserung des [X.] Asylsystems). Eine solche Zusicherung seitens der [X.] Behörde, den Beschwerdeführer zumindest für eine Übergangszeit unterzubringen, ist im vorliegenden Verfahren jedoch nicht abgegeben und von [X.] oder Bundesregierung - soweit ersichtlich - auch nicht angefordert worden. Vielmehr hat das [X.] in seinem Bescheid vom 20. Mai 2017 lediglich ausgeführt, dass davon auszugehen sei, dass [X.] die einschlägigen Regelungen des [X.]-Rechts einhalte. Auf welcher Grundlage diese Annahme beruht, wird nicht offengelegt. Sie ist auch angesichts der seit sieben Jahren bejahten systemischen Mängel im [X.] Asylsystem nicht nachvollziehbar.

3. Die angegriffenen Beschlüsse des [X.] beruhen auf der Grundrechtsverletzung. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Verwaltungsgericht bei hinreichender Berücksichtigung der verfassungsrechtlichen Vorgaben zu einer anderen, für den Beschwerdeführer günstigeren Entscheidung gekommen wäre. Bei einer erneuten Entscheidung wird das Verwaltungsgericht zu prüfen und berücksichtigen haben, inwieweit seit der Einführung allgemeiner Sozialhilfeleistungen zum 1. Januar 2017 anerkannt Schutzberechtigten in [X.] in der Praxis Zugang zu diesen effektiv offensteht.

Die Kammer hebt nach § 93c Abs. 2 in Verbindung mit § 95 Abs. 2 [X.] die Beschlüsse auf und verweist die Sache an das Verwaltungsgericht zur erneuten Entscheidung zurück. Auf das Vorliegen der weiter gerügten Grundrechtsverletzungen kommt es nicht an.

4. Das [X.] hat dem Beschwerdeführer gemäß § 34a Abs. 2 [X.] die notwendigen Auslagen für das Verfassungsbeschwerdeverfahren und den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zu erstatten. Damit erledigt sich der Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe. Der Wert des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit war gegenüber dem regelmäßigen Gegenstandswert im Falle stattgebender Kammerbeschlüsse (vgl. [X.]E 79, 365 <366 ff.> und zur konkreten Höhe statt vieler [X.], Beschluss der [X.] des Zweiten Senats vom 21. April 2016 - 2 BvR 273/16 -, juris, Rn. 16; [X.], Beschluss der [X.] des Zweiten Senats vom 17. Januar 2017 - 2 BvR 2013/16 -, juris, Rn. 25) nicht zu erhöhen (vgl. [X.], Beschluss der [X.] des Zweiten Senats vom 15. März 2017 - 2 BvR 890/16 -, juris, Rn. 2), nachdem mit der Entscheidung des [X.], Beschluss der [X.] des Zweiten Senats vom 8. Mai 2017 - 2 BvR 157/17 - bereits eine Leitentscheidung vorlag, an der sich der Beschwerdeführer maßgeblich orientiert hat.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Meta

2 BvR 714/18

31.07.2018

Bundesverfassungsgericht 2. Senat 1. Kammer

Stattgebender Kammerbeschluss

Sachgebiet: BvR

vorgehend VG Potsdam, 29. März 2018, Az: 11 L 277/18.A, Beschluss

Art 2 Abs 2 S 1 GG, Art 19 Abs 4 S 1 GG, § 93c Abs 1 S 1 BVerfGG, § 60 Abs 5 AufenthG 2004, Art 34 EURL 95/2011, Art 3 MRK, § 14 Abs 1 RVG, § 37 Abs 2 S 2 RVG, § 86 Abs 1 VwGO

Zitier­vorschlag: Bundesverfassungsgericht, Stattgebender Kammerbeschluss vom 31.07.2018, Az. 2 BvR 714/18 (REWIS RS 2018, 5270)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2018, 5270

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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