Bundesverfassungsgericht, Stattgebender Kammerbeschluss vom 08.05.2017, Az. 2 BvR 157/17

2. Senat 1. Kammer | REWIS RS 2017, 11415

Foto: © Bundesverfassungsgericht │ foto USW. Uwe Stohrer, Freiburg

ASYL- UND AUSLÄNDERRECHT FLÜCHTLINGE MENSCHENRECHTE ASYL ABSCHIEBUNG

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Gegenstand

Stattgebender Kammerbeschluss: Zu den Anforderungen des Art 19 Abs 4 S 1 iVm Art 2 Abs 2 S 1, S 2 GG an die gerichtliche Beurteilung der Aufnahmebedingungen im Zielstaat einer Abschiebung als unmenschliche und entwürdigende Behandlung iSv § 60 Abs 5 AufenthG 2004 iVm Art 3 MRK - hier: Erfolgreiche Verfassungsbeschwerde eines bereits in Griechenland anerkannt schutzberechtigten Asylsuchenden gegen die Abschiebung nach Griechenland - Gegenstandswertfestsetzung


Tenor

Die Beschlüsse des [X.] vom 14. Dezember 2016 - 1 L 2033/16.A -, vom 6. Januar 2017 - 1 L 23/17.A - und vom 26. Januar 2017 - 1 L 151/17.A - verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 19 Absatz 4 Satz 1 in Verbindung mit Artikel 2 Absatz 2 Satz 1 des Grundgesetzes. Die Beschlüsse werden aufgehoben.

Damit erledigt sich der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung.

Das [X.] hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen für das Verfassungsbeschwerdeverfahren und für das Verfahren auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zu erstatten.

Der Gegenstandswert der anwaltlichen Tätigkeit wird für das Verfassungsbeschwerdeverfahren auf 20.000 € (in Worten: zwanzigtausend Euro) und für den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung auf 10.000 € (in Worten: zehntausend Euro) festgesetzt.

Gründe

1

1. Der am 9. April 1993 geborene Beschwerdeführer ist [X.] Staatsangehöriger, [X.] Volkszugehörigkeit und sunnitischen Glaubens. Er reiste am 19. Juli 2015 in die [X.] ein und stellte am 2. Dezember 2015 einen Asylantrag. Im Rahmen seiner persönlichen Anhörung am 30. August 2016 gab er an, sein Asylantrag sei in [X.] positiv beschieden worden. Auf Anfrage des [X.] [X.] mit Schreiben vom 19. Oktober 2016 mit, dass dem Beschwerdeführer internationaler Schutz gewährt worden sei. Mit dem Beschwerdeführer wurde am 8. November 2016 ein Gespräch zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats zur Durchführung des Asylverfahrens geführt, in dem er angab, in [X.] auf der [X.] gelebt zu haben. Er habe keine Unterstützung vom [X.] Staat erhalten.

2

2. Das [X.] lehnte den Asylantrag mit Bescheid vom 8. November 2016 als unzulässig ab, stellte fest, dass keine Abschiebungsverbote vorlägen und drohte die Abschiebung nach [X.] an. Der Asylantrag sei aufgrund der Schutzgewährung in [X.] gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 2 [X.] unzulässig. Eine Verletzung der Rechte des Beschwerdeführers aus Art. 3 [X.] bei einer Rückführung nach [X.] aufgrund der dortigen humanitären Verhältnisse drohe nicht. [X.] sei Mitgliedstaat der [X.]. Die [X.] habe zahlreiche Regelungen zur Behandlung von Flüchtlingen erlassen. Es sei davon auszugehen, dass [X.] diese Regelungen einhalte. Dies gelte selbst bei traumatisierten und sonst vulnerablen Personen.

3

3. a) Der Beschwerdeführer erhob fristgerecht Klage gegen den Bescheid, stellte einen Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung. Mit Schreiben vom 28. November 2016 begründete er Klage und Eilantrag unter Bezugnahme auf Berichte von [X.], [X.], der [X.] und Pro Asyl. Er führte aus, dass die Lage in [X.] für anerkannt Schutzberechtigte noch schlechter sei als für Asylbewerber, die nach wie vor nicht nach [X.] zurückgeführt würden. Es stünde kein Wohnraum zur Verfügung, ein Integrationsprogramm fehle. In [X.] sei er nach seiner Anerkennung einfach auf der [X.] gelassen worden. Viele anerkannt Schutzberechtigte blieben arbeits- und mittellos. Zwar stünde anerkannten Schutzberechtigten im Wesentlichen ein Anspruch auf Inländergleichbehandlung zu. Die Kriterien einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung durch die Aufnahmebedingungen müsse jedoch gleichlautend zu Asylbewerbern beurteilt werden. Mit Schreiben vom 6. Dezember 2016 wies er auf einen Beschluss des [X.] hin, in dem dieses dem Eilantrag eines in [X.] anerkannten Flüchtlings, der transsexuell war, stattgegeben hatte.

4

b) Das [X.] wies den Antrag mit Beschluss vom 14. Dezember 2016 ab. Das Konzept der normativen Vergewisserung sei für [X.] nicht widerlegt. Für anerkannte Flüchtlinge sehe die [X.] im Wesentlichen eine Inländergleichbehandlung vor. Aus den zugänglichen Quellen lasse sich nicht entnehmen, dass anerkannt Schutzberechtigte in [X.] systematisch schlechter behandelt würden als Inländer. Etwas anderes folge nicht daraus, dass aufgrund des Urteils des [X.] vom 21. Januar 2011 derzeit keine Überstellungen nach [X.] im Rahmen der [X.] stattfänden. Zum einen beziehe sich diese Rechtsprechung nicht auf anerkannt Schutzberechtigte. Zum anderen habe sich die Situation für Flüchtlinge in den letzten Monaten deutlich verbessert, weshalb die [X.] am 8. Dezember 2016 empfohlen habe, ab März 2017 wieder [X.] nach [X.] durchzuführen. Aus der von dem Beschwerdeführer angeführten Entscheidung des [X.] folge nichts anderes, da es sich dort um einen Angehörigen einer besonders vulnerablen Personengruppe gehandelt habe.

5

4. a) Unter dem 4. Januar 2017 erhob der Beschwerdeführer Anhörungsrüge und stellte hilfsweise einen Antrag nach § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO. Das Verwaltungsgericht habe entscheidungserheblichen Vortrag übergangen und sich insbesondere nicht mit den von ihm zitierten Berichten und Stellungnahmen auseinandergesetzt, sondern einseitig die Empfehlung der [X.] herangezogen. Weiterhin verwies er auf ein Interview von [X.] mit einer [X.] Anwältin, laut dem Flüchtlinge unter den Sparmaßnahmen am stärksten leiden würden. Sozialleistungen erhielten nur noch diejenigen, die [X.] in [X.] gelebt hätten. Flüchtlinge seien damit faktisch ausgeschlossen.

6

b) Mit Beschluss vom 6. Januar 2017 lehnte das Verwaltungsgericht die Anträge ab. Es habe die Ausführungen des Beschwerdeführers zur Kenntnis genommen, hieraus jedoch andere rechtliche Schlussfolgerungen gezogen.

7

5. a) Der Beschwerdeführer erhob am 23. Januar 2017 eine weitere Gehörsrüge und stellte einen Antrag nach § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO, mit der er eine Auskunft der [X.] vom 20. Januar 2017 vorlegte, die ihrerseits auf weitere Auskünfte Bezug nahm. Die Auskunft legte insbesondere dar, dass anerkannt Schutzberechtigte in [X.] faktisch keine staatlichen Hilfen erhielten und vielfach obdachlos seien.

8

b) Das Verwaltungsgericht lehnte den weiteren Antrag mit Beschluss vom 26. Januar 2017 ab. Es handle sich beim Beschwerdeführer um [X.] und nicht um eine vulnerable Person, zu denen die [X.] Auskünfte enthielten.

9

1. Der Beschwerdeführer hat am 23. Januar 2017 Verfassungsbeschwerde erhoben und diese mit Schreiben vom 31. Januar 2017 auf den Beschluss des [X.] vom 26. Januar 2017 erweitert. Die Entscheidungen verletzten ihn in seinen Grundrechten aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG, Art. 2 Abs. 1 Satz 1 GG, Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, Art. 2 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 104 GG, Art. 3 GG, Art. 16a GG, Art. 19 Abs. 4 GG, Art. 20 GG, Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG und Art. 103 GG. Die zahlreichen von ihm schon im fachgerichtlichen Verfahren vorgelegten [X.] belegten klar, dass es für anerkannte Schutzberechtigte in [X.] keine Unterstützung gebe. Der Zugang zu den Sozialleistungen, die [X.] Bürgern gewährt würden, bestehe nur auf dem Papier. Infolge der Sparmaßnahmen habe sich die Situation in den letzten Jahren zumindest für anerkannt Schutzberechtigte noch verschlechtert und nicht, wie das Verwaltungsgericht anzunehmen scheine, verbessert. Die in [X.] zu erwartende Behandlung verletze ihn in seinem Grundrecht aus Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG. Er habe dort keine reelle Chance, sich ein Existenzminimum zu schaffen. Er werde keine Beschäftigung finden und habe, anders als [X.] Staatsangehörige, dort kein [X.] Netzwerk, auf das er nach seiner Rückkehr zugreifen könne. Zwar gewähre das Unionsrecht grundsätzlich nur eine Inländergleichbehandlung. Schutzberechtigten müssten jedoch zumindest die Hilfen zur Befriedigung elementarer Grundbedürfnisse (Unterkunft, Nahrungsbeschaffung, Hygiene) gewährt werden. Dieser Standard sei der Geltungsgrund des gemeinsamen [X.] Asylsystems. Die Entscheidungen des [X.] verstießen weiterhin gegen Art. 3 Abs. 1 GG, da die lapidare Behauptung, dass das Konzept der normativen Vergewisserung nicht verletzt werde, angesichts des Tatsachenvortrags des Beschwerdeführers unter keinem Gesichtspunkt vertretbar sei. Das Verwaltungsgericht habe nur ausgeführt, den Vortrag des Beschwerdeführers zur Kenntnis genommen zu haben, ohne deutlich zu machen, auf welchen abweichenden [X.]n die eigene Würdigung beruhe. Weiterhin sei auch gegen Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG in Verbindung mit Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG verstoßen worden, da die Rechtswidrigkeit des Bescheids nahe gelegen habe und sich das Verwaltungsgericht mit dieser Frage im Hauptsacheverfahren, gegebenenfalls durch Einholung neuer [X.], weiter habe beschäftigen müssen.

2. Die Akten der Ausgangsverfahren haben dem [X.] vorgelegen. Das [X.] des Landes Nordrhein-Westfalen und das [X.] hatten Gelegenheit zur Stellungnahme. Das [X.] hat darauf hingewiesen, dass zum 1. Januar 2017 in [X.] eine allgemeine Sozialleistung in Höhe von 200 € eingeführt werden sollte, die auch anerkannt Schutzberechtigten offen stehen werde. Anträge könnten erst ab dem 1. Februar 2017 gestellt werden, praktische Erfahrungen bestünden noch keine.

Mit Schreiben vom 16. April 2017 hat der Beschwerdeführer beantragt, den Wert der anwaltlichen Tätigkeit auf mindestens 115.000 € festzusetzen.

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt, weil dies zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 [X.] genannten Rechte des Beschwerdeführers angezeigt ist (§ 93b [X.]. § 93a Abs. 2 Buchstabe b [X.]). Das [X.] hat die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen bereits entschieden (§ 93c Abs. 1 Satz 1 [X.]).

1. Die Verfassungsbeschwerde ist in einer die Entscheidungskompetenz der Kammer begründenden Weise offensichtlich begründet im Sinne von § 93c Abs. 1 Satz 1 [X.]. Das Verwaltungsgericht hat die sich aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 in Verbindung mit Art. 2 Abs. 2 Satz 1 und 2 GG ergebenden Anforderungen an die Beurteilung der Aufnahmebedingungen in dem [X.] als unmenschliche und entwürdigende Behandlung im Sinne von § 60 Abs. 5 [X.] in Verbindung mit Art. 3 [X.] verfehlt.

Den schutzwürdigen Interessen des Betroffenen muss im Anwendungsbereich des Art. 2 Abs. 2 GG wirksam Rechnung getragen werden (vgl. [X.], 108 <112 f.>). Die Verfahrensgewährleistung des Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG beschränkt sich nicht auf die Einräumung der Möglichkeit, die Gerichte gegen Akte der öffentlichen Gewalt anzurufen; sie gibt dem Bürger darüber hinaus einen Anspruch auf eine wirksame gerichtliche Kontrolle. Das Gebot effektiven Rechtsschutzes verlangt nicht nur, dass jeder potenziell rechtsverletzende Akt der Exekutive in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht der richterlichen Prüfung unterstellt werden kann; vielmehr müssen die Gerichte den betroffenen Rechten auch tatsächliche Wirksamkeit verschaffen (vgl. [X.] 35, 263 <274>; 40, 272 <275>; 67, 43 <58>; 84, 34 <49>; stRspr). Das Maß dessen, was wirkungsvoller Rechtsschutz ist, bestimmt sich entscheidend auch nach dem sachlichen Gehalt des als verletzt behaupteten Rechts (vgl. [X.] 60, 253 <297>), hier des Rechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit in Verbindung mit der Gewährleistung des Art. 3 [X.] im Lichte der Rechtsprechung des [X.].

In der Rechtsprechung des [X.] ist anerkannt, dass die Rückführung eines Flüchtlings in einen anderen Konventionsstaat eine Verletzung des Art. 3 [X.] auch durch den [X.] darstellen kann, wenn den Behörden bekannt ist oder bekannt sein muss, dass dort gegen Art. 3 [X.] verstoßende Bedingungen herrschen. Solche Bedingungen können dann anzunehmen sein, wenn ein Flüchtling völlig auf sich allein gestellt ist und er über einen langen Zeitraum gezwungen sein wird, auf der [X.] zu leben, ohne Zugang zu sanitären Einrichtungen oder Nahrungsmitteln (vgl. hierzu insgesamt [X.], Urteil vom 21. Januar 2011 - 30696/09 - M.S.S. gg. [X.] und [X.], Rn. 263 f. und 365 ff.).

Die verfahrensrechtlichen Anforderungen an die Sachverhaltsaufklärung haben dem hohen Wert dieser Rechte Rechnung zu tragen (vgl. zu den Anforderungen an einen wirkungsvollen Rechtsschutz im Zusammenhang mit Art. 2 Abs. 2 GG [X.] 117, 71 <106 f.>) und die Vorgaben der Europäischen Menschenrechtskonvention zu berücksichtigen (vgl. [X.] 111, 307 <323 ff.>). In Fällen, in denen es um die Beurteilung der Aufnahmebedingungen in einem [X.] als unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne des Art. 3 [X.] geht, kommt der verfahrensrechtlichen Sachaufklärungspflicht (§ 86 Abs. 1 VwGO) verfassungsrechtliches Gewicht zu. Die fachgerichtliche Beurteilung solcher möglicherweise gegen Art. 3 [X.] verstoßenden Aufnahmebedingungen muss daher, jedenfalls wenn diese ernsthaft zweifelhaft sind, etwa weil dies in der jüngsten Vergangenheit noch von der Bundesregierung und der [X.] bejaht wurde und damit der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens erschüttert ist, auf einer hinreichend verlässlichen, auch ihrem Umfang nach zureichenden tatsächlichen Grundlage beruhen (vgl. hierzu [X.], Beschluss der [X.] des Zweiten Senats vom 21. April 2016 - 2 BvR 273/16 -, juris, Rn. 11). Dabei kann es sowohl verfassungsrechtlich als auch konventionsrechtlich geboten sein, dass sich die zuständigen Behörden und Gerichte vor einer Rückführung in den [X.] über die dortigen Verhältnisse informieren und gegebenenfalls Zusicherungen der zuständigen Behörden einholen (vgl. [X.] 94, 49 <100>; [X.], Beschluss der [X.] des Zweiten Senats vom 17. September 2014 - 2 BvR 732/14 -, juris, Rn. 15 f., [X.], Urteil vom 21. Januar 2011 - 30696/09 - M.S.S. gg. [X.] und [X.], Rn. 353 f. und [X.], Urteil vom 4. November 2014 - 29217/12 - Tarakhel gg. [X.], Rn. 121).

Soweit entsprechende Erkenntnisse und Zusicherungen im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nicht vorliegen und nicht eingeholt werden können, ist es zur Sicherung effektiven Rechtsschutzes geboten, die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen (vgl. zur Bedeutung des Verfahrens des einstweiligen Rechtsschutzes für das Grundrecht aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 [X.] 126, 1 <27 ff.>; zuletzt [X.], Beschluss der [X.] des Zweiten Senats vom 17. Januar 2017 - 2 BvR 2013/16 -, juris, Rn. 17).

2. Die angegriffenen Entscheidungen werden diesen Vorgaben nicht gerecht. Die Schlussfolgerung des [X.] beruht im Wesentlichen auf der Annahme, die Situation des Beschwerdeführers als anerkannter Schutzberechtigter in [X.] sei anders zu bewerten als jene von Asylbewerbern; der Umstand, dass sich anerkannt Schutzberechtigte auf eine Gleichbehandlung mit Inländern berufen könnten, genüge den unionsrechtlichen Vorgaben. Auch habe die [X.] am 8. Dezember 2016 empfohlen, ab März 2017 wieder [X.] nach [X.] durchzuführen und zur Begründung auf Verbesserungen im [X.] Asylsystem hingewiesen.

Mit dieser Begründung verfehlt das Verwaltungsgericht die aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG in Verbindung mit Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG folgenden Anforderungen; auch der - bloße - Hinweis, das Verwaltungsgericht habe den Vortrag des Beschwerdeführers umfassend zur Kenntnis genommen, werte ihn lediglich anders als dieser, lässt eine den angeführten Anforderungen genügende Befassung mit den aufgeworfenen Problemen nicht erkennen. Der Beschwerdeführer hat im fachgerichtlichen Verfahren zahlreiche Erkenntnisse vorgelegt, aus denen sich ergibt, dass anerkannt Schutzberechtigten in [X.] nicht einmal die geringen Unterstützungsleistungen zugänglich sind, die Personen zustehen, über deren Antrag auf internationalen Schutz noch nicht entschieden wurde. Anerkannt Schutzberechtigte hätten - auch angesichts der Wirtschaftskrise in [X.] - keinen Zugang zu Arbeit oder zu Sozialleistungen, erhielten keinerlei Unterstützung bei der Suche nach einer Wohnung und müssten gleichwohl unmittelbar nach ihrer Anerkennung die Flüchtlingsunterkünfte verlassen. Ihnen drohe von diesem Zeitpunkt an die Obdachlosigkeit; Integrationsmaßnahmen würden von staatlicher Seite nicht angeboten.

Zwar trifft die Grundannahme des [X.] zu, dass anerkannt Schutzberechtigten nach Art. 20 ff. der Richtlinie 2011/95/[X.] (Qualifikationsricht-linie) und den [X.] der [X.] im Wesentlichen - nur - ein Anspruch auf Inländergleichbehandlung zusteht. Das Verwaltungsgericht setzt sich jedoch nicht damit auseinander, dass zum einen die von Art. 34 Qualifikationsrichtlinie geforderten, über die Inländergleichbehandlung hinausgehenden Integrationsmaßnahmen nicht angeboten werden (vgl. zur Relevanz dieser Maßnahmen bei der Prüfung einer Verletzung des Art. 3 [X.]: [X.] [X.]hof, Urteil vom 4. November 2016 - 3 A 1292/16.A -, juris, Rn. 29 ff.). Zum anderen knüpfen - nach den vom Beschwerdeführer vorgelegten Erkenntnissen - die in [X.] verfügbaren Sozialleistungen an einen bis zu 20jährigen legalen Aufenthalt an, weshalb anerkannt Schutzberechtigte von der Inanspruchnahme dieser Leistungen faktisch ausgeschlossen sind.

Zudem bedarf es einer Auseinandersetzung mit der Einschätzung, bei anerkannt Schutzberechtigten ebenso wie bei Asylbewerbern treffe die Annahme des [X.] zu, dass es sich hierbei um eine besonders verletzliche Gruppe handelt, die zumindest für eine Übergangszeit auf staatliche Hilfe bei der Integration in den [X.] angewiesen ist (vgl. [X.] [X.]hof, Urteil vom 4. November 2016 - 3 A 1292/16.A -, juris, Rn. 24 f.). Es hätte daher - insbesondere vor dem Hintergrund, dass die von Art. 34 Qualifikationsrichtlinie vorgeschriebenen Integrationsmaßnahmen nicht existieren - weiterer Feststellungen dazu bedurft, ob und wie für nach [X.] zurückgeführte anerkannt Schutzberechtigte zumindest in der [X.] nach ihrer Ankunft der Zugang zu Obdach, Nahrungsmitteln und sanitären Einrichtungen sichergestellt wird.

Die erforderlichen Erkenntnisse hierzu enthält jedenfalls nicht die vom Verwaltungsgericht benannte Empfehlung der [X.] vom 8. Dezember 2016. Denn diese legt nur Verbesserungen - auch der humanitären Standards - für die Dauer des [X.] Asylverfahrens dar, bezieht sich also nicht auf die hier relevante Problematik der anerkannt Schutzberechtigten. Insbesondere ist nicht die Rede davon, dass erweiterte - nach wie vor nicht ausreichende - Unterbringungskapazitäten für Asylbewerber auch rückgeführten anerkannt Schutzberechtigten zur Verfügung stünden. Im Übrigen empfiehlt die [X.] Rückführungen zur Durchführung von Asylverfahren ohnehin nur für den Fall, dass jeweils im Einzelfall aufgrund einer Zusicherung der [X.] Behörde feststeht, dass der [X.] in einer Flüchtlingsunterkunft unterkommen kann (vgl. Ziff. 10 der empfohlenen Maßnahmen zur Verbesserung des [X.] Asylsystems). Eine solche Zusicherung seitens der [X.] Behörde, den Beschwerdeführer zumindest für eine Übergangszeit unterzubringen, ist im vorliegenden Verfahren jedoch nicht abgegeben und von [X.] oder Bundesregierung - soweit ersichtlich - auch nicht angefordert worden. Vielmehr hat das [X.] in seinem Bescheid vom 8. November 2016 lediglich ausgeführt, dass davon auszugehen sei, dass [X.] die einschlägigen Regelungen des [X.]-Rechts einhalte. Auf welcher Grundlage diese Annahme beruht, wird nicht offengelegt. Sie ist auch angesichts der seit sechs Jahren bejahten systemischen Mängel im [X.] Asylsystem nicht nachvollziehbar.

3. Die angegriffenen Beschlüsse des [X.] beruhen auf der Grundrechtsverletzung. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Verwaltungsgericht bei hinreichender Berücksichtigung der verfassungsrechtlichen Vorgaben zu einer anderen, für den Beschwerdeführer günstigeren Entscheidung gekommen wäre. Bei einer erneuten Entscheidung wird das Verwaltungsgericht zu prüfen und berücksichtigen haben, inwieweit seit der Einführung allgemeiner Sozialhilfeleistungen zum 1. Januar 2017 anerkannt Schutzberechtigten in [X.] in der Praxis Zugang zu diesen effektiv offen steht.

Die Kammer hebt nach § 93c Abs. 2 in Verbindung mit § 95 Abs. 2 [X.] die Beschlüsse auf und verweist die Sache an das Verwaltungsgericht zur erneuten Entscheidung zurück. Auf das Vorliegen der weiter gerügten Grundrechtsverletzungen kommt es nicht an.

4. Das [X.] hat dem Beschwerdeführer gemäß § 34a Abs. 2 [X.] die notwendigen Auslagen für das Verfassungsbeschwerdeverfahren und den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zu erstatten. Der Wert des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit war angesichts des erheblichen Aufwands dieser Tätigkeit und den hohen Anforderungen, die an den Vortrag bezüglich der Verhältnisse in anderen Mitgliedstaaten der [X.] anzulegen sind, gegenüber dem regelmäßigen Gegenstandswert im Falle stattgebender Kammerbeschlüsse (vgl. [X.] 79, 365 <366 ff.> und zur konkreten Höhe statt vieler [X.], Beschluss der [X.] des Zweiten Senats vom 21. April 2016 - 2 BvR 273/16 -, juris, Rn. 16; [X.], Beschluss der [X.] des Zweiten Senats vom 17. Januar 2017 - 2 BvR 2013/16 -, juris, Rn. 25) zu erhöhen (vgl. [X.], Beschluss der [X.] des Zweiten Senats vom 15. März 2017 - 2 BvR 890/16 -, juris, Rn. 2).

Meta

2 BvR 157/17

08.05.2017

Bundesverfassungsgericht 2. Senat 1. Kammer

Stattgebender Kammerbeschluss

Sachgebiet: BvR

vorgehend VG Minden, 26. Januar 2017, Az: 1 L 151/17.A, Beschluss

Art 2 Abs 2 S 1 GG, Art 19 Abs 4 S 1 GG, § 93c Abs 1 S 1 BVerfGG, § 29 Abs 1 Nr 2 AsylVfG 1992, § 60 Abs 5 AufenthG 2004, Art 34 EURL 95/2011, FlüAbk, Art 3 MRK, § 86 Abs 1 VwGO

Zitier­vorschlag: Bundesverfassungsgericht, Stattgebender Kammerbeschluss vom 08.05.2017, Az. 2 BvR 157/17 (REWIS RS 2017, 11415)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2017, 11415

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