Bundesgerichtshof, Urteil vom 25.09.2012, Az. 1 StR 160/12

1. Strafsenat | REWIS RS 2012, 2934

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MORD STRAFRECHT BUNDESGERICHTSHOF (BGH) SICHERUNGSVERWAHRUNG

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Gegenstand

Nachträgliche Sicherungsverwahrung: Maßstab für die Prognoseentscheidung


Tenor

Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des [X.] vom 17. Oktober 2011 mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Jugendkammer des [X.] zurückverwiesen.

Von Rechts wegen

Gründe

1

Das [X.] hat die Anordnung der Unterbringung des Verurteilten [X.] (im Folgenden: [X.]) in der Sicherungsverwahrung abgelehnt. Es hat weiter ausgesprochen, dass [X.] für die einstweilige Unterbringung in der Sicherungsverwahrung in der [X.] vom 8. Mai 2010 bis 30. September 2010 sowie vom 14. Oktober 2010 bis 19. Dezember 2010 und vom 29. Dezember 2010 bis 17. Oktober 2011 aus der Staatskasse zu entschädigen ist.

2

Hiergegen richtet sich die Revision der Staatsanwaltschaft, mit der sie die Verletzung formellen und materiellen Rechts rügt. Das Rechtsmittel, das vom [X.] vertreten wird, hat mit der Sachrüge in vollem Umfang Erfolg. Eines [X.] auf die Verfahrensrüge, gegen deren Zulässigkeit ohnehin Bedenken bestehen (§ 344 Abs. 2 Satz 2 [X.]), bedarf es daher nicht.

I.

3

Prozessgeschichte:

4

Das [X.] München I hatte [X.] durch Urteil vom 2. März 1999 wegen Mordes - unter Anrechnung der in [X.] in dieser Sache erlittenen Freiheitsentziehung im Maßstab 1:1 - zu einer Jugendstrafe von sechs Jahren und zehn Monaten verurteilt. Dieses Urteil hat auf die Revision der Staatsanwaltschaft der [X.] durch Urteil vom 14. Dezember 1999 (1 [X.]) im Rechtsfolgenausspruch mit den Feststellungen aufgehoben und die Sache im Umfang der Aufhebung an eine andere [X.] zurückverwiesen.

5

Die neue [X.] des [X.]s hat [X.] durch Urteil vom 3. Januar 2001 wegen - insoweit bereits rechtskräftig - Mordes zu einer Jugendstrafe von zehn Jahren verurteilt und angeordnet, dass die in [X.] vom 7. November 1997 bis 6. März 1998 erlittene Auslieferungshaft im Verhältnis 1:1 angerechnet wird.

6

Die hiergegen gerichtete Revision des [X.] hat der [X.] durch Urteil vom 9. August 2001 (1 [X.]) verworfen. Auf die ebenfalls erhobene Revision der Staatsanwaltschaft hat er jedoch das angefochtene Urteil mit den Feststellungen (also im Rechtsfolgenausspruch) aufgehoben und die Sache insoweit an eine andere [X.] des [X.]s zurückverwiesen.

7

Diese [X.] hat den Angeklagten mit (am selben Tag rechtskräftig gewordenen) Urteil vom 16. Mai 2003 wegen Mordes zu einer Jugendstrafe von zehn Jahren verurteilt. Es hat weiter entschieden, dass die Anrechnung von zwei Jahren und sechs Monaten der erlittenen Untersuchungshaft unterbleibt und dass die in [X.] vom 7. November 1997 bis 6. März 1998 erlittene Auslieferungshaft im Verhältnis 1:1 angerechnet wird.

8

Aufgrund dieses rechtskräftigen (dritten) Urteils vom 16. Mai 2003 befand sich [X.] seit diesem [X.]punkt im Strafvollzug.
Die Staatsanwaltschaft stellte am 30. Oktober 2009 Antrag auf nachträgliche Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung. Durch Beschluss vom 23. April 2010 ordnete das [X.] die einstweilige Unterbringung des [X.] in der Sicherungsverwahrung an und hob diesen Beschluss am 29. September 2010 wieder auf. Auf die hiergegen gerichtete Beschwerde der Staatsanwaltschaft hob das [X.] durch Beschluss vom 6. Oktober 2010 den angefochtenen Beschluss des [X.]s auf; der [X.] wurde [X.] am 14. Oktober 2010 erneut eröffnet.
Durch Beschluss des [X.]s vom 10. Dezember 2010 wurde die einstweilige Unterbringung wiederum aufgehoben. Dieser Beschluss wurde seinerseits vom [X.] am 23. Dezember 2010 ebenfalls aufgehoben. Am 29. Dezember 2010 wurde daraufhin der [X.] vom 23. April 2010 dem [X.] erneut eröffnet.
Gegen [X.] wurde durch Beschluss des [X.] vom 28. Mai 2010 Abschiebehaft angeordnet, die im [X.]raum vom 1. Oktober 2010 bis 13. Oktober 2010, sowie weiter im [X.]raum vom 11. Dezember 2010 bis 28. Dezember 2010 vollzogen wurde. [X.] befindet sich nach Angaben seines Verteidigers in der Revisionshauptverhandlung derzeit im Ausland ([X.]/[X.]).

II.

9

Dem rechtskräftigen Urteil vom 16. Mai 2003 liegt folgende [X.] zugrunde:

Am 1. September 1993 erhielt [X.] eine Ausweisungsverfügung der [X.]. [X.] war hierüber wütend. Am Nachmittag des 15. Oktober 1993 besuchte er seine Freundin [X.] im Anwesen ihres [X.]. Ultimativ forderte er sie auf, mit ihm nach [X.] zu reisen. Da [X.] erst 17 Jahre alt war, noch zur Schule ging und sich nicht so früh binden wollte, lehnte sie dies ab. Hierüber kam es zum Streit mit [X.], in dessen Verlauf dieser ihr mehrere kräftige Ohrfeigen versetzte. Obwohl ihr Gesicht dadurch gerötet war und anschwoll, schickte [X.] sie in die Küche, um ihm etwas zu trinken zu holen. Hierbei bemerkte [X.]'s Stiefmutter, dass diese geschlagen worden war und informierte deren Vater, den Zeugen [X.]. Dieser ging daraufhin ins [X.] seiner Tochter und forderte [X.] auf, sofort sein Haus zu verlassen. Da dieser keine Anstalten machte, der Aufforderung nachzukommen, rief [X.] nach seinem Bekannten, der gerade zu Besuch war. Dann packte er [X.] vorne an dessen Jacke und beförderte ihn so mit Hilfe seines Bekannten aus dem Haus. Außerdem erteilte er ihm für die Zukunft Hausverbot.

[X.] war wütend und hasserfüllt, da er sich gegen [X.]'s Vater nicht hatte durchsetzen können, dieser ihn vielmehr in für ihn demütigender Weise hinausgeworfen hatte. Mit dem Gedanken, [X.] zu töten, ging er zur Wohnung des Zeugen [X.], wo sich sein Freundeskreis fast regelmäßig traf. Anwesend waren neben [X.] weitere Personen. Hier "rastete" der Angeklagte "völlig aus", war "endsauer", wie es der Zeuge [X.] beschrieb, und stieß Todesdrohungen gegen [X.] aus. Mehrmals holte er sein Butterfly-Messer aus seiner Jacke, klappte es auf, fingerte damit herum und schlug wiederholt mit beiden Fäusten gegen die Wand.

Zwischen 22.00 Uhr und 23.00 Uhr verließ [X.], der immer noch aufgebracht war, zusammen mit [X.] die Wohnung. Auf dem Weg zum nahen [X.] schrie er [X.] aus Wut auf. Im [X.] ging [X.] mit [X.] zum sogenannten Teehaus, einem Pavillon an einem Teich. Hier rauchten sie zusammen einen Joint. Während [X.] dort sitzen blieb, eine Zigarette rauchte und über das Wasser blickte, lief [X.] sein Messer in der Hand, gereizt um das Teehaus herum. Wieder trug er sich mit dem Gedanken, [X.]'s Vater oder als Ersatz irgendeinen anderen Menschen zu töten. Insoweit ging es ihm auch darum, schon aus Interesse und Freude an einer Tötung jemanden umzubringen, wobei jedes beliebige Zufallsopfer für ihn in Frage kam. Dies hatte ihn früher schon, etwa beim Betrachten eines Horrorfilms, fasziniert.

In dieser Situation ging der 40-jährige Architekt K. [X.], der sich auf dem Nachhauseweg von einem Saunabesuch befand, zu Fuß am Teehaus vorbei. Während [X.] weiter auf der dem Weg abgewandten Seite des [X.] saß und in Richtung des Teiches blickte, bemerkte [X.] von der anderen Seite des [X.] aus den allein den Weg entlanggehenden K. [X.]. Augenblicklich entschloss er sich, diesen zu töten. Er lief ca. 180 m quer über eine Wiese, um seinem Opfer den Weg abzuschneiden und traf auf dem Weg im südlichen Bereich des [X.]s zwischen 23.25 Uhr und 23.35 Uhr auf K. [X.]. Sofort versetzte er dem völlig unvorbereiteten K. [X.] einen kräftigen Faustschlag oder Kopfstoß auf die Nase, der zum Bruch des [X.] führte. Instinktiv hob K. [X.] seine Arme vor das Gesicht, um weiteren Schlägen zu entkommen. Diese Situation nutzte [X.] indem er mit seinem Messer zwölf mit Wucht geführte Stiche in den ungedeckten Oberkörper des K. [X.] setzte. [X.] kam es darauf an, sein Opfer zu töten, ohne dass dieses auch nur die geringste Gegenwehr aufbieten konnte. Er handelte hierbei mutwillig, um - wie er es schon seit längerer [X.] ins Auge gefasst hatte - irgendein Menschenleben zu vernichten. Zum anderen tötete er, um seine Wut, die sich im Laufe des [X.] in Folge der Behandlung durch [X.], die bevorstehende Abschiebung und die Weigerung seiner Freundin, ihn nach [X.] zu begleiten, aufgestaut hatte, abzureagieren.
K. [X.] erlitt mindestens 12 Stichverletzungen und starb wenige Minuten danach an Verbluten.

Das [X.] hat die Mordmerkmale "aus Mordlust" und "sonst aus niedrigen Beweggründen" bejaht. Es hat die Verhängung einer Jugendstrafe von zehn Jahren für geboten erachtet.

III.

Im jetzigen Verfahren (wegen nachträglicher Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung) hat das [X.] im angefochtenen Urteil unter anderem folgende Feststellungen getroffen:

1. [X.] wurde bereits am 20. Januar 1992 wegen zahlreicher Delikte (u.a. besonders schwerer Raub, räuberischer Erpressung) zu einer Jugendstrafe von einem Jahr und sechs Monaten verurteilt. Vom 28. Januar 1992 bis zum 23. März 1993 war er inhaftiert.  

2. Die oben (II.) dargestellte [X.] beging er am 15. Oktober 1993.

3. Am 11. Juli 1995 wurde er wegen versuchten Totschlags (begangen am 26. November 1993), Diebstahls in drei Fällen, räuberischer Erpressung, gefährlicher Körperverletzung in zwei Fällen und vorsätzlicher Körperverletzung unter Einbeziehung der vorausgegangenen Verurteilung (III. 1.) zu einer Jugendstrafe von fünf Jahren verurteilt. [X.] hatte bei dem versuchten Totschlag mit einem Butterfly-Messer mit voller Wucht auf ein Opfer eingestochen. Die Tat wurde auf einer Party im Rahmen "einer tätlichen Auseinandersetzung mit [X.]" begangen.

4. Vom 4. Februar 1994 bis 24. Januar 1996 befand er sich in Haft. Da er den Ärzten vorgespielt hatte, er leide an einer Geisteskrankheit, wurde bei ihm eine Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis diagnostiziert. Als er seine Täuschung gegenüber einem weiteren Arzt zugab, wurde er erneut untersucht. Es konnten keine Symptome einer Schizophrenie festgestellt werden, vielmehr wurde die Verdachtsdiagnose "Vorliegen einer dis[X.] Persönlichkeitsstörung" gestellt. Im Vollzug verhielt er sich körperlich und verbal aggressiv.
Am 24. Januar 1996 wurde er nach [X.] abgeschoben. Dort hatte er bisweilen kurzfristige intime Beziehungen zu Frauen.

Nachdem [X.] 1998 aus [X.] ausgeliefert worden war, befand er sich in verschiedenen Vollzugsanstalten. Durch Beschluss vom 14. Januar 2010 wurde er der Führungsaufsicht unterstellt. 2010 wurde ein undatierter Brief des [X.] beschlagnahmt, indem er in Bezug zu seiner Verurteilung wegen Mordes ([X.]) u.a. schrieb: "Schon alleine fünf und halb Jahre in U-Haft zu verbringen mit drei [X.] - für ein Stück [X.] totes fleisch, wo ich damit nichts zu tun habe … " ([X.] 57).
In der jetzigen Hauptverhandlung verhielt er sich respektlos und verbal aggressiv.

5. Das [X.] hat die Gutachten der drei von ihm angehörten Sachverständigen wiedergegeben. Nach dem Sachverständigen Prof. Dr. S.  liege bei [X.] eine kombinierte Persönlichkeitsstörung mit Krankheitswert vor. Es bestehe weiterhin die Gefahr der Begehung auch schwerster Gewalttaten. Diese sei aber ihrerseits abhängig von sozial belastenden Interaktionen, deren Genese aus heutiger Sicht in keiner Weise vorhersehbar sei ([X.] 90). Er sehe des weiteren keinerlei Anhaltspunkte für die Gefahr einer Begehung "auch lediglich schwererer Sexualstraftaten" ([X.] 93).
Der Sachverständige Dr. Ho.   habe ausgeführt, mangels hinreichender Anhaltspunkte sei eine Diagnose nicht möglich. Die Annahme einer für die Begehung von Gewaltstraftaten Gefahr begründenden zukünftigen Lebensgestaltung ….. sei rein spekulativ.
Der Sachverständige Prof. Dr. [X.].   (Kriminologe), der zum Vorliegen einer psychischen Störung aufgrund seiner Fachgebietsfremdheit keine Stellungnahme abgeben konnte, habe eine hochgradige Wahrscheinlichkeit für die Begehung schwerster Gewalttaten verneint ([X.] 93). Die Annahme einer eine Gefahr schwerster Straftaten begründenden negativen Entwicklung der Lebens- und Partnerschaftssituation des Betroffenen sei rein spekulativ ([X.] 98).

IV.

Das [X.] erkennt, dass die formellen Voraussetzungen des § 7 Abs. 2 JGG (vgl. hierzu auch [X.]surteil vom 9. März 2010 - 1 [X.]; [X.], 381 ff.) erfüllt sind, der bis zur Neuregelung durch den Gesetzgeber nur unter strengen Voraussetzungen anwendbar ist. Es geht auch von der Diagnose einer sogenannten "kombinierten Persönlichkeitsstörung" aus, welche eine psychische Störung im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 1 [X.] darstelle. Die Legalbiographie des [X.] lasse zwar auf eine erhebliche kriminelle Energie auch im Bereich der Gewaltdelikte schließen, [X.] habe aber auch zeitweise ein sozial angepasstes Leben geführt. Es sei bei ihm eine Nachreifung erfolgt. Zwar sei bei "ungünstiger situativer Verquickung" persönlichkeitsbedingt durchaus mit der Gefahr der Begehung auch schwerster Gewalttaten zu rechnen. Doch könne eine gefahrbegründende negative Entwicklung der Lebens- und Partnerschaftssituation des [X.] nur rein spekulativ angenommen werden. Es gebe keine Anhaltspunkte, dass er sich mit einer höheren Wahrscheinlichkeit in seiner Heimat in einem kriminogenen Umfeld aufhalten werde. Da der Eintritt von - eine prognoserelevante Gefahr auslösenden - Lebensumständen (insbesondere die Eingehung einer negativ verlaufenden Intimbeziehung oder ein "Abgleiten in kriminelle Strukturen") jedenfalls nicht mit einer zumindest überwiegenden Wahrscheinlichkeit angenommen werden könne, sei aus heutiger Sicht das Bestehen einer hochgradigen Gefahr für die Begehung schwerster Gewalt- oder Sexualstraftaten im Ergebnis nicht anzunehmen ([X.] 108).

V.

Die [X.] halten im Ergebnis sachlich-rechtlicher Nachprüfung aus mehreren Gründen nicht stand.

1. Allerdings ist das [X.] zunächst zutreffend von den im Urteil des [X.] vom 4. Mai 2011 - 2 BvR 2365/09 u.a. (NJW 2011, 1931; BGBl. I S. 1003) aufgestellten Grundsätzen ausgegangen ([X.] 99/100). Danach gilt folgendes:
Sämtliche die Anordnung von Sicherungsverwahrung betreffenden Bestimmungen (also auch § 7 Abs. 2 JGG) sind auch mangels ausreichender Wahrung des "Abstandsgebots" mit dem Grundgesetz unvereinbar. Zugleich hat das [X.] angeordnet (§ 35 [X.]), dass diese Bestimmungen nach Maßgabe der Gründe seiner Entscheidung noch bis zu einer Neuregelung durch den Gesetzgeber - längstens aber bis zum 31. Mai 2013 - unter Beachtung eines strikten Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes anzuwenden sind. Dieser Grundsatz wird dabei in der Regel nur dann gewahrt sein, wenn die hochgradige Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexualdelikte aus konkreten Umständen in der Person oder dem Verhalten des Betroffenen abzuleiten ist ([X.] aaO; zusammenfassend [X.], Beschluss vom 20. Juni 2012 - 2 BvR 1048/11; vgl. auch [X.]surteil vom 7. August 2012 - 1 [X.] und [X.]sbeschluss vom 24. Juli 2012 - 1 StR 57/12). Namentlich die rückwirkend angeordnete oder verlängerte Freiheitsentziehung kann nur dann noch als verhältnismäßig angesehen werden, wenn auch der gebotene Abstand zur Strafe gewahrt ist und weiter die Voraussetzungen des Art. 5 Abs. 1 Satz 2 lit. [X.] erfüllt sind (vgl. u.a. [X.], Urteil vom 21. Juni 2011 - 5 StR 52/11); das heißt, dass der Betroffene an einer psychischen Störung im Sinne von § 1 Abs. 1 Nr. 1 des [X.] und Unterbringung psychisch gestörter Gewalttäter ([X.]) leidet (vgl. u.a. [X.], Beschluss vom 24. Mai 2011 - 5 StR 369/10; [X.]surteile vom 8. November 2011 - 1 [X.] und vom 7. August 2012 - 1 [X.]; vgl. zum Begriff "psychisch Kranker" auch Urteil der 5. Sektion des [X.] vom 19. April 2012 - endgültig seit 19. Juli 2012 - in der [X.] [X.] gegen [X.] - Individualbeschwerde 61272/09 Ziffer 67 ff.). Die vom [X.] geforderte "strikte Verhältnismäßigkeitsprüfung" ist dahin zu verstehen, dass bei beiden Elementen der Gefährlichkeit - mithin der Erheblichkeit weiterer Straftaten und der Wahrscheinlichkeit ihrer Begehung - ein gegenüber der bisherigen Rechtsanwendung strengerer Maßstab anzulegen ist (vgl. u.a. [X.], Beschluss vom 31. Juli 2012 - 3 [X.]; [X.], Urteil vom 8. Februar 2012 - 2 [X.]; [X.], Beschluss vom 24. Januar 2012 - 5 StR 535/11).

2. Die Urteilsgründe weisen aber durchgreifende Rechtsfehler auf.

a) Die [X.] lassen besorgen, dass das [X.] bei seiner Prognoseentscheidung einen rechtlich unzutreffenden Maßstab zugrunde gelegt hat (vgl. zu der Verschiedenheit der Prognosemaßstäbe auch [X.] in [X.], 6. Aufl. Rn. 10 zu § 81 g mwN). [X.] beruhen auf Wahrscheinlichkeitsfeststellungen (vgl. hierzu [X.], [X.], 55. Aufl. Rn. 27 zu § 261 [X.]). Bei einer Prognose kann nicht verlangt werden, dass zukünftige Ereignisse oder Zustände zur vollen richterlichen Überzeugung feststehen. Ansonsten könnte die Gefahrprognose immer mit dem Argument verneint werden, es könne nicht ausgeschlossen werden, dass gefahrbegründende Faktoren nicht eintreten. Ein solcher Maßstab ist wegen zu hoher Anforderungen rechtsfehlerhaft. Die [X.] (insbesondere [X.] 106 bis 108) legen nahe, dass das [X.] für erforderlich erachtet hat, von einer ungünstigen Entwicklung konstellierender Faktoren in vollem Umfang überzeugt sein zu müssen. Das ist rechtlich nicht geboten; es genügt eine hochgradige Wahrscheinlichkeit.

b) Das [X.] durfte im vorliegenden Fall auch nicht ohne weiteres das Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. [X.].   zu Grunde legen. Dieser Gutachter konnte ausweislich der Urteilsgründe ([X.] 93) zum Vorliegen einer psychischen Störung eine gutachterliche Äußerung "aufgrund seiner Fachgebietsfremdheit nicht abgeben". Gleichwohl stützt sich die Kammer bei ihrer Gefährlichkeitsprognose auf dessen Ausführungen. Eine Prognose, die ohne Berücksichtigung der psychischen Störung des Probanden abgegeben wird, hat keinen forensisch relevanten Wert. Denn der Zustand und die Befindlichkeit des zu Beurteilenden sind unerlässliche Faktoren für die Prognoseentscheidung.

c) Die Wiedergabe des [X.] dieses Sachverständigen ist auch insofern rechtsfehlerhaft (weil nicht nachvollziehbar), als die Antwort des Sachverständigen mitgeteilt wird ([X.] 93 unten) zu der Frage des Gerichts, ob "aus dieser Gesamtwürdigung" eine hochgradige Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexualstraftaten abzuleiten ist. Da die "Gesamtwürdigung" ersichtlich Grundlage für die Beurteilung durch den Sachverständigen war, hätte diese Gesamtwürdigung dargelegt werden müssen. Sie ist auch aus dem Gesamtkontext der Urteilsgründe nicht eindeutig erkennbar.

d) Die Urteilsgründe lassen ferner besorgen, dass das [X.] die [X.], wonach [X.] bei der Beziehungsgestaltung im Umgang mit Frauen sich zunächst Zurückhaltung auferlegen möchte ([X.] 62), jede Anwendung von Gewalt zur Regelung zwischenmenschlicher Konflikte ablehne ([X.] 64) und sich zukünftig so verhalten werde, dass es zu keinen Eskalationen mit Mitmenschen komme ([X.] 66), als unwiderlegbar angesehen hat, obwohl hierfür wenig Anhaltspunkte bestehen.

e) Das [X.] hat bei seiner Prognoseentscheidung, wie sich insbesondere auch aus seiner Auseinandersetzung mit den Sachverständigenausführungen ergibt, vorgreiflich auf die Wahrscheinlichkeit für die Begehung eines schwereren Sexualdeliktes abgestellt und darauf, ob [X.] wieder entsprechenden Kontakt zu einer Frau haben wird. Abgesehen davon, dass eine neue Partnerschaftssituation des [X.] bei Sachlage nicht lediglich als Spekulation angesehen werden durfte, stand die Begehung eines schweren [X.] wegen Beendigung einer Liebesbeziehung hier ohnehin nicht im Mittelpunkt und stellt schon von daher keinen erheblichen Bedingungsfaktor dar. Das [X.] hätte sich stattdessen vielmehr mit der anders motivierten Gewalt, die sowohl in der [X.] als auch in sonstigen Straftaten des [X.] zum Ausdruck kommt, eingehender befassen müssen. Diese Straftaten weisen allesamt keinen Sexualbezug auf. Sie deuten vielmehr auf eine menschenverachtende Gesinnung hin.

f) Im Übrigen hat es das [X.] rechtsfehlerhaft unterlassen, worauf der [X.] in seiner Zuschrift bereits hingewiesen hat, darzulegen, von welchem [X.] Empfangsraum des [X.] es ausgegangen ist. Danach fehlen bereits wesentliche Anknüpfungstatsachen für die Gefahrenprognose.

g) Dem [X.] ist auch darin beizupflichten, dass die Würdigung des [X.]s insofern lückenhaft ist, als gegen den [X.] sprechende Umstände, wie sein Verhalten in der Hauptverhandlung ([X.] 58, 59) nicht erkennbar in die Überlegungen einbezogen wurden.

3. Auf diesen Rechtsfehlern beruht das Urteil. Der [X.] kann nicht sicher ausschließen, dass in einer erneuten Verhandlung die nachträgliche Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung verhängt wird.

VI.

Durch die Aufhebung des Urteils wird der Ausspruch über die Entschädigungspflicht ebenso gegenstandslos wie die hiergegen gerichtete sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft (vgl. hierzu u.a. [X.], Urteil vom 11. April 2002 - 4 StR 585/01, [X.], Urteil vom 22. März 2002 - 2 StR 569/01 und [X.], Urteil vom 17. August 2000 - 4 StR 245/00 mwN).

Nack                             Wahl                         Rothfuß

             Hebenstreit                      Cirener

Meta

1 StR 160/12

25.09.2012

Bundesgerichtshof 1. Strafsenat

Urteil

Sachgebiet: StR

vorgehend LG München I, 17. Oktober 2011, Az: 10 NSV 122 Js 10353/97

§ 66 StGB, § 7 JGG

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Urteil vom 25.09.2012, Az. 1 StR 160/12 (REWIS RS 2012, 2934)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2012, 2934

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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