Bundesverfassungsgericht, Kammerbeschluss vom 20.12.2022, Az. 1 BvR 1654/22

1. Senat 3. Kammer | REWIS RS 2022, 7858

Foto: © Bundesverfassungsgericht │ foto USW. Uwe Stohrer, Freiburg

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Gegenstand

Verwerfung eines Widerspruchs gegen eine einstweilige Anordnung (§ 32 Abs 3 BVerfGG) ohne mündliche Verhandlung aufgrund fehlender Widerspruchsberechtigung


Tenor

Der Widerspruch wird verworfen.

Gründe

1

Die Verfassungsbeschwerde betrifft die gerichtliche Bestellung des den Widerspruch führenden [X.] zum Amtsvormund für zwei in der [X.] geborene Kinder aufgrund fehlender rechtlicher Anerkennung der Beschwerdeführenden als deren Eltern und die darauffolgende zeitweilige Inobhutnahme der beiden betroffenen Kinder seitens des [X.]. Die Bestellung des [X.] zum Vormund war durch Beschluss des [X.] vom 5. Juli 2022 erfolgt. Eine dagegen gerichtete Anhörungsrüge der Beschwerdeführenden wies das [X.] am 8. August 2022 zurück. Mit Beschluss vom 7. September 2022 hat die Kammer die Wirksamkeit der beiden genannten Beschlüsse des [X.] vorläufig ausgesetzt. Hiergegen hat das Jugendamt Widerspruch eingelegt.

2

Der Widerspruch gegen die von der Kammer erlassene einstweilige Anordnung vom 7. September 2022 ist zu verwerfen, weil er unzulässig ist.

3

1. Dies kann auf der Grundlage von § 93d Abs. 2 Satz 1 in Verbindung mit § 32 Abs. 3 [X.] ohne mündliche Verhandlung durch die Kammer erfolgen.

4

Nach der Rechtsprechung des [X.] setzt die Durchführung einer mündlichen Verhandlung (§ 32 Abs. 3 Satz 3 [X.]) einen zulässigen Widerspruch voraus (vgl. [X.] 99, 49 <50>; stRspr). Fehlt dem Widerspruchsführer die Berechtigung dazu, ist auch die Kammer befugt, den Widerspruch zu verwerfen (vgl. [X.] 99, 49 <50 f.>; siehe auch [X.], Beschluss der [X.] des [X.] vom 13. Oktober 2021 - 1 BvR 1759/21 -, Rn. 6 m.w.N.). Die Zuständigkeit des Senats, in solchen Konstellationen entscheiden zu können, bleibt davon unberührt (vgl. [X.] 139, 378 <380 Rn. 5>).

5

2. Die Voraussetzungen für eine Verwerfung durch die Kammer liegen vor. Der Widerspruch ist unzulässig, weil dem Widerspruchsführer die Widerspruchsberechtigung fehlt.

6

Widerspruchsberechtigt ist lediglich, wer am verfassungsgerichtlichen Verfahren beteiligt ist. Der Begünstigte des einer Verfassungsbeschwerde zugrundeliegenden Ausgangsverfahrens, wie hier das Jugendamt, ist zwar äußerungsberechtigt (§ 94 Abs. 3 [X.]). Ihm fehlt aber als einem nicht am verfassungsgerichtlichen Verfahren Beteiligten die Befugnis zum Widerspruch (vgl. [X.] 89, 119 <120>; 99, 49 <50>; stRspr). Eine Beteiligtenstellung können im Verfassungsbeschwerdeverfahren außer den Beschwerdeführenden selbst, die allerdings nach § 32 Abs. 3 Satz 2 [X.] nicht widerspruchsberechtigt sind, lediglich die in § 94 Abs. 1, 2 und 4 [X.] genannten Verfassungsorgane erlangen, § 94 Abs. 5 [X.] (vgl. [X.] 99, 49 <50>; 139, 378 <380 Rn. 6> m.w.N.).

7

Die Begründung des Widerspruchs gibt keinen Anlass, die einstweilige Anordnung von Amts wegen abzuändern oder vorläufig außer Vollzug zu setzen.

8

1. Auf den Vortrag des [X.] und die von ihm vorgelegten Unterlagen stützt das [X.] die mit der Verfassungsbeschwerde angegriffenen Entscheidungen nicht.

9

2. Im Übrigen ist das Vorbringen auch inhaltlich nicht geeignet, die Folgenabwägung der Kammer in ihrem Beschluss vom 7. September 2022 in Frage zu stellen.

a) Die vorgebrachte Kooperations- und Kommunikationsverweigerung der Beschwerdeführerin zu 1) gegenüber dem Jugendamt und dem [X.] ändert nichts an einer möglichen erheblichen Kindeswohlbeeinträchtigung der knapp zweijährigen und damit höchst [X.] Kinder bei Trennung von ihrer [X.], der Beschwerdeführerin zu 1), und bei Herauslösen aus ihrem gewohnten Alltagsumfeld durch die hohe Wahrscheinlichkeit von langfristigen psychischen und emotionalen Schäden. Dies zu berücksichtigen und mit einer vom Jugendamt angenommenen Kindeswohlgefährdung im Haushalt der Beschwerdeführerin zu 1) unter Einbeziehung möglicher milderer Mittel abzuwägen, ist Aufgabe der Fachgerichte. Erst im [X.] kann das [X.] die entsprechende Begründung der fachgerichtlichen Entscheidungen auf die Einhaltung der verfassungsrechtlichen Maßstäbe hin überprüfen.

Jedenfalls zum Sorgerecht für die Kinder ist das fachgerichtliche Verfahren noch nicht zum Abschluss gekommen. Im zugrundeliegenden Ausgangsverfahren ist wegen der vorläufigen Aussetzung der Wirksamkeit der genannten Beschlüsse des [X.] durch die einstweilige Anordnung der Kammer vom 7. September 2022 aufgrund der derzeit nicht abgeänderten oder aufgehobenen Entscheidung des Amtsgerichts - Familiengerichts - (…) vom 29. November 2021 im Verfahren 5 [X.]/21 bislang von einem gemeinsamen Sorgerecht der Beschwerdeführenden für die betroffenen Kinder auszugehen. Da die Wirksamkeit des Beschlusses des [X.] vom 5. Juli 2022 über die fachrechtliche Beschwerde des hier den Widerspruch führenden [X.] vorläufig ausgesetzt ist, steht eine Entscheidung darüber im Ausgangsverfahren derzeit aus. Die von der Kammer erlassene einstweilige Anordnung schließt eine Beschwerdeentscheidung des [X.] auch während des noch andauernden Verfahrens über die Verfassungsbeschwerde jedenfalls aus verfassungsprozessualen Gründen nicht aus. Eine in der Rechtsprechung des [X.] im Einzelfall angenommene Bindungswirkung (vgl. § 31 Abs. 1 [X.]) einstweiliger Anordnungen wird grundsätzlich nur dann in Betracht kommen können, wenn das [X.] bereits im Rahmen von Entscheidungen im verfassungsgerichtlichen Eilrechtsschutz Ausführungen zur Auslegung und Anwendung von Verfassungsrechtsnormen gemacht hat (vgl. [X.], Beschluss der [X.] des [X.] vom 27. Januar 2006 - 1 BvQ 4/06 -, Rn. 30). Das ist vorliegend nicht der Fall. Die Kammer hat in ihrem Beschluss vom 7. September 2022 lediglich die Möglichkeit einer eigenständigen Verletzung des Anspruchs der Beschwerdeführenden aus Art. 103 Abs. 1 GG durch die Entscheidung des [X.] über deren fachrechtliche Anhörungsrüge (§ 44 FamFG) angenommen.

b) Die durch das genannte Familiengericht in dem einstweiligen Anordnungsverfahren 5 F 226/22 EAHK erlassene Anordnung des Verbleibs der Kinder im Haushalt der Beschwerdeführerin zu 1) durch Beschluss vom 31. August 2022 ist nicht Gegenstand des [X.]. Ungeachtet dessen stützten die dortigen Feststellungen und die darauf basierenden fachrechtlichen Wertungen eher die von der Kammer getroffene Folgenabwägung.

Meta

1 BvR 1654/22

20.12.2022

Bundesverfassungsgericht 1. Senat 3. Kammer

Kammerbeschluss

Sachgebiet: BvR

vorgehend OLG Oldenburg (Oldenburg), 8. August 2022, Az: 11 UF 8/22, Beschluss

§ 32 Abs 3 BVerfGG, § 93d Abs 1 S 2 BVerfGG, § 94 Abs 5 BVerfGG

Zitier­vorschlag: Bundesverfassungsgericht, Kammerbeschluss vom 20.12.2022, Az. 1 BvR 1654/22 (REWIS RS 2022, 7858)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2022, 7858

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