Bundesverfassungsgericht, Nichtannahmebeschluss vom 26.04.2022, Az. 1 BvR 674/22

1. Senat 1. Kammer | REWIS RS 2022, 2355

Foto: © Bundesverfassungsgericht │ foto USW. Uwe Stohrer, Freiburg

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Gegenstand

Nichtannahmebeschluss: Erfolglose Verfassungsbeschwerde bzgl Inobhutnahme eines Kindes und vorläufigem Sorgerechtsentzug - Unzulässigkeit der Verfassungsbeschwerde ua mangels Rechtswegerschöpfung und Fristwahrung - Zweifel hinsichtlich Erfüllung verfassungsrechtlicher Anforderungen an die Feststellung einer Kindeswohlgefährdung durch die Fachgerichte


Tenor

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.

Mit der Nichtannahme der Verfassungsbeschwerde wird der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gegenstandslos (§ 40 Abs. 3 GOBVerfG).

Gründe

1

1. Mit ihrer Verfassungsbeschwerde wenden sich die Beschwerdeführenden zu 1) und 2) im eigenen Namen und im Namen ihres 2018 geborenen [X.], dem Beschwerdeführer zu 3), gegen dessen Inobhutnahme durch das Jugendamt sowie gegen den vorläufigen Entzug von wesentlichen Teilen des Sorgerechts für diesen durch familiengerichtliche Entscheidungen.

2

a) Nachdem die Beschwerdeführerin zu 2) dem Jugendamt von Gewalt des Beschwerdeführers zu 1) gegenüber dem [X.] und aggressivem Verhalten ihr gegenüber berichtet und mitgeteilt hatte, dass sie den [X.] nicht schützen könne, suchte sie mit Unterstützung des [X.] Ende August 2020 eine Mutter-Kind-Einrichtung auf. Dort wurde ein erheblicher Unterstützungsbedarf der Mutter bei der Grundversorgung, Betreuung, Erziehung und altersentsprechenden Förderung des [X.] festgestellt, der durch ambulante Maßnahmen nicht abzudecken sei. Der [X.] leidet unter kombinierter Entwicklungsverzögerung und Mikrozephalie mit feinmotorischen und koordinativen muskulären Problemen und Verhaltensauffälligkeiten, was in einem humangenetischen Gutachten bestätigt wurde. Die Beschwerdeführenden zu 1) und 2) lehnten nach kurzer Zeit eine weitere Unterbringung in der Einrichtung ab, woraufhin das Jugendamt mit angegriffenem Bescheid vom 2. September 2020 den Beschwerdeführer zu 3) in der Einrichtung in Obhut nahm; gegen diesen Bescheid gingen die Eltern verwaltungsgerichtlich nicht vor.

3

b) Im familiengerichtlichen Eilverfahren zum Sorgerecht erklärten sich die Beschwerdeführenden zu 1) und 2) im Oktober 2020 mit einer weiteren Unterbringung des [X.] bis zum Abschluss der im parallel eingeleiteten Hauptsacheverfahren laufenden Begutachtung, bei der sie mitwirken wollten, einverstanden. Daraufhin wurde der Inobhutnahmebescheid vom Jugendamt aufgehoben. Im Februar 2021 wandten sie sich jedoch gegen die weitere stationäre Unterbringung des Beschwerdeführers zu 3) und verlangten dessen Herausgabe. Daraufhin ordnete das Jugendamt mit angegriffenem Bescheid vom 9. Februar 2021 erneut dessen Inobhutnahme an. Auch dagegen gingen sie verwaltungsgerichtlich nicht vor.

4

Ohne vorherige Anhörungen entzog das [X.] mit angegriffenem Beschluss vom 12. Februar 2021 den beschwerdeführenden Eltern im Wege der einstweiligen Anordnung das Aufenthaltsbestimmungsrecht, das Recht zur Gesundheitssorge sowie die Rechte nach §§ 27 ff. [X.] ([X.]) auf Hilfe zur Erziehung und übertrug diese Teilbereiche auf das Jugendamt als [X.]. Zur Begründung nahm es im Wesentlichen auf einen Bericht des [X.] vom 9. Februar 2021 Bezug. Nachdem das [X.] die Beschwerdeführenden und das Jugendamt persönlich angehört hatte, hielt es mit angegriffenem Beschluss vom 19. November 2021 seinen Beschluss vom 12. Februar 2021 unter Verweis auf dessen Gründe aufrecht.

5

c) Die dagegen von den Eltern eingelegte Beschwerde wies das [X.] mit Beschluss vom 28. Januar 2022 zurück. Eine sofortige Rückkehr des Beschwerdeführers zu 3) in den Haushalt der Eltern würde eine Gefahr für das Kind darstellen. Für das Hauptsacheverfahren wies es daraufhin, dass dort abzuklären sein werde, ob der besondere Förderungs- und Betreuungsbedarf des Kindes auch ambulant abgedeckt werden könne und ob die Eltern dazu bereit wären, solche ambulanten Maßnahmen anzunehmen. Weiterhin bedürfe der Klärung, ob und wenn ja welche Entwicklungsdefizite und Gefahren bei einer Betreuung durch die Eltern zu erwarten seien, die im Fall einer stationären Betreuung des Kindes ausgeschlossen werden könnten. In die Betrachtung seien auch die [X.] einzubeziehen, welche durch die stationäre Unterbringung wesentlich beeinträchtigt würden. Falls die Eltern weiter nicht an der Begutachtung durch einen Sachverständigen mitwirkten, könnten Dritte befragt werden oder die Eltern zu einem Gerichtstermin geladen und in Anwesenheit des Sachverständigen angehört werden.

6

2. Mit ihrer Verfassungsbeschwerde rügen die Beschwerdeführenden unter anderem die Verletzung von Art. 6 Abs. 3 [X.] und bezüglich des familiengerichtlichen Beschlusses vom 12. Februar 2021 dessen Erlass ohne vorherige Anhörungen.

7

Die Verfassungsbeschwerde ist nicht zur Entscheidung anzunehmen. [X.] nach § 93a Abs. 2 [X.] liegen nicht vor. Ihr kommt weder grundsätzliche Bedeutung zu, noch ist ihre Annahme zur Durchsetzung der als verletzt gerügten Grundrechte beziehungsweise grundrechtsgleichen Rechte der Beschwerdeführenden angezeigt, denn die Verfassungsbeschwerde ist insgesamt unzulässig.

8

1. Es lässt sich der Begründung der Verfassungsbeschwerde nicht entnehmen, dass sich die Beschwerdeführenden auch gegen die Beschwerdeentscheidung des [X.]s vom 28. Januar 2022 wenden. Insoweit führen sie aus, bei diesem Beschluss handele es sich lediglich "um ein weiteres Verbrechen", der Beschluss spiele aber hier keine Rolle. Das lässt nicht den Willen erkennen, die Entscheidung zur verfassungsgerichtlichen Prüfung zu stellen. Die darauf erstreckte Verfassungsbeschwerde wäre auch offensichtlich unzulässig, weil entgegen den Anforderungen aus § 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 [X.] jede inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Beschluss des Beschwerdegerichts fehlt.

9

2. Soweit die Beschwerdeführenden die Bescheide über die Inobhutnahme des Beschwerdeführers zu 3) durch das Jugendamt angreifen, haben sie weder die Beschwerdefrist des § 93 Abs. 1 Satz 1 [X.] gewahrt (a) noch den Rechtsweg nach § 90 Abs. 2 Satz 1 [X.] erschöpft (b).

a) Eine Verfassungsbeschwerde ist nach § 93 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 [X.] binnen eines Monats nach Bekanntgabe der angegriffenen Entscheidung einzulegen und zu begründen. Der letzte Bescheid des [X.] über die Inobhutnahme wurde den Beschwerdeführenden zu 1) und 2) spätestens Ende Februar 2021 bekannt gemacht. Ihre Verfassungsbeschwerde ging erst am 1. März 2022, also über ein Jahr später, beim [X.] ein, sodass die Verfassungsbeschwerde insoweit nicht fristgemäß eingelegt wurde.

b) Zudem haben die Beschwerdeführenden insoweit den Rechtsweg vor den Fachgerichten entgegen § 90 Abs. 2 Satz 1 [X.] nicht erschöpft.

Die Inobhutnahme stellt nach in der Verwaltungsgerichtsbarkeit nahezu einhellig vertretener Auffassung einen Verwaltungsakt des [X.] dar, für dessen Überprüfung die Verwaltungsgerichte zuständig sind (vgl. [X.], Beschluss vom 18. September 2009 - 4 [X.] 706/07 -, juris, Rn. 9; [X.], Beschluss vom 9. Januar 2017 - 12 CS 16.2181 -, juris, Rn. 3; zu teilweise davon abweichenden Auffassungen in der Rechtslehre siehe [X.], [X.] 2019, 12 <14 Fn.17>). Auch wenn das Jugendamt bei Widerspruch der Eltern gegen eine Inobhutnahme nach § 42 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 [X.] eine Entscheidung des [X.]s über die erforderlichen Maßnahmen zum Wohl des Kindes herbeiführen muss, prüft das [X.] nur prospektiv erforderliche sorgerechtliche Maßnahmen, nicht aber retrospektiv die Rechtmäßigkeit der zuvor erfolgten Inobhutnahme durch das Jugendamt (vgl. [X.], 323 <332>; [X.], Beschluss vom 22. Januar 2019 - 4 [X.]/18 -, juris, Rn. 14 m.w.N.). Die Beschwerdeführenden zu 1) und 2) wurden in den [X.] auch zutreffend darüber belehrt, dass diese auf dem Verwaltungsrechtsweg überprüft werden können. Auch wenn sie mittlerweile nicht mehr Inhaber des Aufenthaltsbestimmungsrechts für ihren [X.] sind, würde dies die Klagebefugnis nach § 42 Abs. 2 VwGO für eine Anfechtungs- bzw. (nach Erledigung) Fortsetzungsfeststellungsklage nicht entfallen lassen (vgl. [X.], Beschluss vom 9. Januar 2017 - 12 CS 16.2181 -, juris, Rn. 5).

Die Beschwerdeführenden sind gegen die angegriffenen [X.] aber nicht verwaltungsgerichtlich vorgegangen; jedenfalls fehlt dazu jeglicher Vortrag. Gründe nach § 90 Abs. 2 Satz 2 [X.], warum etwa auch fachgerichtlicher Eilrechtsschutz unzumutbar wäre, wurden weder vorgetragen noch sind sie sonst ersichtlich.

3. Soweit sich die Beschwerdeführenden gegen Beschlüsse des [X.]s wenden, fehlt ihnen das Rechtsschutzbedürfnis. Beide Beschlüsse sind durch die nicht angegriffene Beschwerdeentscheidung des [X.]s vom 28. Januar 2022 prozessual überholt (a). Im Übrigen genügt die Verfassungsbeschwerde insoweit auch nicht den aus § 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 [X.] folgenden Begründungsanforderungen (b).

a) Entscheidet eine Instanz in vollem Umfang über den Verfahrensgegenstand einer vorangegangenen Entscheidung, ist die vorangegangene Entscheidung in der Regel prozessual überholt und die Verfassungsbeschwerde dann insoweit unzulässig (vgl. [X.], 134 <138>). Ein Angriff auch der vorangegangenen fachgerichtlichen Entscheidung kann dann geboten sein, wenn sie einen selbstständigen Verfassungsverstoß enthält oder Tatsachenfeststellungen relevant sind, die nur in dieser Instanz getroffen werden konnten, weil das letztinstanzliche Gericht zum Beispiel auf Rechtsfragen beschränkt ist. Dies ist im Verfahren über Beschwerden gegen [X.] nach dem Familienverfahrensgesetz nicht der Fall. Denn das Beschwerdegericht ist insoweit eine zweite Tatsacheninstanz. Das bedeutet, dass das Beschwerdegericht die Sache zu prüfen und eine eigene Sachentscheidung zu treffen hat.

Hier hat das [X.] nochmals geprüft und sich mit den Argumenten der Beschwerdeführer auseinandergesetzt. Ein fortbestehendes Rechtsschutzbedürfnis (vgl. dazu [X.] 81, 138 <140 f.>) bezüglich der amtsgerichtlichen Beschlüsse haben die Beschwerdeführenden nicht in substantiierter und nachvollziehbarer Weise dargelegt. Es ist auch nicht ersichtlich.

b) Die Beschwerdeführenden haben zudem die Möglichkeit einer Verletzung ihrer Grundrechte oder grundrechtsgleichen Rechte nicht in einer den Begründungs- und Substantiierungsanforderungen aus § 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 [X.] genügenden Weise dargetan. Bei gegen gerichtliche Entscheidungen gerichteten Verfassungsbeschwerden zählt zu diesen Anforderungen auch die Vorlage der angegriffenen Entscheidungen und derjenigen Schriftstücke, ohne deren Kenntnis sich die Berechtigung der geltend gemachten [X.] nicht beurteilen lässt, zumindest aber deren Wiedergabe ihrem wesentlichen Inhalt nach. Nur so wird das [X.] in die Lage versetzt, zu beurteilen, ob die Entscheidungen mit dem Grundgesetz in Einklang stehen (vgl. [X.] 93, 266 <288>; 129, 269 <278>).

Dem genügt die Verfassungsbeschwerde nicht. Die Beschwerdeführenden haben versäumt für die verfassungsgerichtliche Prüfung erforderliche Unterlagen vorzulegen oder deren wesentlichen Inhalt wiederzugeben. So fehlt vor allem der Bericht des [X.] vom 9. Februar 2021, auf den das [X.] seine Entscheidung ganz maßgeblich stützt. Ohne Kenntnis zumindest der wesentlichen Inhalte dieses Berichts kann nicht beurteilt werden, ob der mit einer Trennung des Beschwerdeführers zu 3) von seinen Eltern verbundene vorläufige Sorgerechtsentzug verfassungsrechtlicher Prüfung standhielte.

4. Insbesondere wegen der unterbliebenen Vorlage von entscheidungserheblichen Unterlagen kann nicht beurteilt werden, ob die familiengerichtlichen Beschlüsse über die vorläufige Entziehung wesentlicher Teile des Sorgerechts den dafür maßgeblichen verfassungsrechtlichen Anforderungen aus Art. 6 Abs. 2 und Abs. 3 [X.] genügen, auch wenn daran ‒ soweit ohne die fehlenden Unterlagen beurteilbar ‒ Zweifel bestehen. Diese Zweifel rühren vor allem aus den wenig konkreten Feststellungen der Fachgerichte zu Art und Ausmaß der Kindeswohlgefährdung sowie aus der fehlenden Auseinandersetzung mit den Folgen der Fremdunterbringung des Beschwerdeführers zu 3) her.

a) Art. 6 Abs. 2 Satz 1 [X.] garantiert den Eltern das Recht auf Pflege und Erziehung ihrer Kinder. Der Schutz dieses Rechts erstreckt sich auf die wesentlichen Elemente des Sorgerechts (vgl. [X.] 84, 168 <180>; 107, 150 <173>).

aa) Eine ‒ hier vorliegende ‒ räumliche Trennung des Kindes von seinen Eltern gegen deren Willen stellt den stärksten Eingriff in das Elterngrundrecht dar, der nur unter strikter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes erfolgen oder aufrechterhalten werden darf (vgl. nur [X.] 60, 79, <88 ff.>; stRspr). Art. 6 Abs. 3 [X.] erlaubt diesen Eingriff lediglich unter der strengen Voraussetzung, dass das elterliche Fehlverhalten ein solches Ausmaß erreicht, dass das Kind bei den Eltern in seinem körperlichen, geistigen oder seelischen Wohl nachhaltig gefährdet wäre (vgl. [X.] 60, 79 <91>; 72, 122, <140>; 136, 382 <391 Rn. 28>; stRspr). Eine solche Gefährdung des Kindes ist dann anzunehmen, wenn bei ihm bereits ein Schaden eingetreten ist oder sich eine erhebliche Gefährdung mit ziemlicher Sicherheit voraussehen lässt (vgl. [X.], Beschluss der [X.] des [X.] vom 23. April 2018 - 1 BvR 383/18 -, Rn. 16 m.w.N.; Beschluss der [X.] des [X.] vom 10. Juni 2020 - 1 BvR 572/20 -, Rn. 22; stRspr).

bb) Für die Fachgerichte ergibt sich aus Art. 6 Abs. 2 und Abs. 3 [X.] das Gebot, die dem Kind drohenden Schäden ihrer Art, Schwere und Eintrittswahrscheinlichkeit nach konkret zu benennen und sie vor dem Hintergrund des grundrechtlichen Schutzes vor der Trennung des Kindes von seinen Eltern zu bewerten. Die Fachgerichte werden dem regelmäßig nicht gerecht, wenn sie ihren Blick nur auf die Verhaltensweisen der Eltern lenken, ohne die sich daraus ergebenden schwerwiegenden Konsequenzen für das Kind darzulegen (vgl. [X.], Beschluss der [X.] des [X.] vom 14. Juni 2014 - 1 BvR 725/14 -, Rn. 24 und 26 f.; Beschluss der [X.] des [X.] vom 19. November 2014 - 1 BvR 1178/14 -, Rn. 37 m.w.N.; Beschluss der [X.] des [X.] vom 10. Juni 2020 - 1 BvR 572/20 -, Rn. 23).

cc) Auch sind die negativen Folgen einer Trennung des Kindes von den Eltern durch eine Fremdunterbringung zu berücksichtigen (vgl. [X.]K 19, 295 <303>; [X.], Beschluss der [X.] des [X.] vom 27. November 2020 - 1 BvR 836/20 -, Rn. 25) und müssen durch die hinreichend gewisse Aussicht auf Beseitigung der festgestellten Gefahr aufgewogen werden, so dass sich die Situation des Kindes in der Gesamtbetrachtung verbessert ([X.], Beschluss der [X.] des [X.] vom 27. November 2020 - 1 BvR 836/20 -, Rn. 25).

b) Soweit dies auf der Grundlage der eingereichten Unterlagen beurteilt werden kann, bestehen Zweifel, ob das [X.] (und auch [X.] in seiner nicht angegriffenen Beschwerdeentscheidung) diese grundsätzlich auch im fachrechtlichen Eilverfahren zu beachtenden verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Feststellungen einer Kindeswohlgefährdung sowie die Folgen einer Fremdunterbringung hinreichend in den Blick genommen haben.

Beide Gerichte beziehen sich nur ganz allgemein auf eine Kindeswohlgefährdung bei Rückkehr des Beschwerdeführers zu 3) in den Haushalt der Beschwerdeführenden zu 1) und 2), ohne diese Gefahr konkret zu benennen oder sie nach Art, Schwere und Eintrittswahrscheinlichkeit zu bewerten. Ausführungen zu möglichen negativen Folgen einer Trennung des Kindes von den Eltern durch die Fremdunterbringung erfolgen nicht. Soweit das [X.] das [X.] darauf hingewiesen hat, was im Hauptsacheverfahren zum Sorgerecht noch zu ermitteln sein wird, entspricht der Inhalt dieser Hinweise zwar im Wesentlichen den Anforderungen, die sich aus Art. 6 Abs. 2 und Abs. 3 [X.] für das Verfahren vor den Fachgerichten ergeben. Allerdings sind auch in einem einstweiligen Anordnungsverfahren unter Berücksichtigung der im Eilverfahren vorhandenen Möglichkeiten nachvollziehbare Ausführungen zur konkreten Art und zum Gewicht der Gefahren, die dem Kind bei einem Verbleib im elterlichen Haushalt drohen könnten, sowie zu einer richterlichen Einschätzung der zeitlichen Dringlichkeit der Fremdunterbringung verfassungsrechtlich notwendig (vgl. [X.], Beschluss der [X.] des [X.] vom 7. April 2014 - 1 BvR 3121/13 -, Rn. 26). Dies gilt nur dann nicht, wenn sich wegen befürchteter sehr hoher Schadensintensität und außergewöhnlichen Zeitdrucks die notwendigen richterlichen Ermittlungen, Darlegungen und Einschätzungen ausnahmsweise erübrigen (vgl. [X.], Beschluss der [X.] des [X.] vom 7. April 2014 - 1 BvR 3121/13 -, Rn. 26, 34 f.).

5. Im bereits eingeleiteten Hauptsacheverfahren zur elterlichen Sorge werden die Fachgerichte die verfassungsrechtlichen Erfordernisse ausreichend konkreter Feststellungen zu Art und Schwere der Kindeswohlgefährdung sowie zu den negativen Folgen einer Fremdunterbringung in den Blick nehmen müssen, zumal durch das bereits beauftragte Sachverständigengutachten und die Erkenntnisse der wohl eingeleiteten fachwissenschaftlichen Abklärung der Verhaltensauffälligkeiten des [X.] eine breitere Erkenntnisgrundlage zur Verfügung stehen wird.

6. Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 [X.] abgesehen.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Meta

1 BvR 674/22

26.04.2022

Bundesverfassungsgericht 1. Senat 1. Kammer

Nichtannahmebeschluss

Sachgebiet: BvR

vorgehend AG Halle (Saale), 29. November 2021, Az: 22 F 219/21 EASO, Beschluss

Art 6 Abs 2 S 1 GG, Art 6 Abs 3 GG, § 23 Abs 1 S 2 BVerfGG, § 90 Abs 2 S 1 BVerfGG, § 92 BVerfGG, § 93 Abs 1 S 1 BVerfGG, § 1626 BGB, § 1666a Abs 1 BGB

Zitier­vorschlag: Bundesverfassungsgericht, Nichtannahmebeschluss vom 26.04.2022, Az. 1 BvR 674/22 (REWIS RS 2022, 2355)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2022, 2355

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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