Bundesverfassungsgericht, Stattgebender Kammerbeschluss vom 24.11.2020, Az. 1 BvR 2318/19

1. Senat 1. Kammer | REWIS RS 2020, 3173

Foto: © Bundesverfassungsgericht │ foto USW. Uwe Stohrer, Freiburg

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Gegenstand

Teilweise stattgebender Kammerbeschluss: Zur Begründungsobliegenheit kindschaftsrechtlicher letztinstanzlicher Entscheidungen - hier: Verletzung des Elternrechts des Vaters mehrerer in einem Sorgerechtsverfahren betroffener Kinder durch fachgerichtliche Auflagen (ua Verpflichtung zur psychiatrischen Behandlung und ggf ärztlichen Behandlung eines der Kinder) ohne weitere Begründung unter Verweis auf § 38 Abs 4 Nr 2 FamFG


Tenor

1. Das Ablehnungsgesuch gegen den Präsidenten [X.], den Richter [X.], die Richterinnen [X.] und [X.] sowie [X.] wird als unzulässig verworfen.

2. Der Beschluss des [X.] vom 4. September 2019 - 12 UF 124/17 - verletzt den Beschwerdeführer zu 1) insoweit in seinem Grundrecht aus Artikel 6 Absatz 2 Satz 1 des Grundgesetzes, als ihm zum einen aufgegeben worden ist, den Beschwerdeführer zu 3) unverzüglich psychiatrisch untersuchen zu lassen und diesen in eine gegebenenfalls ärztlich empfohlene psychologische, psychotherapeutische und psychiatrische Behandlung zu geben (Ziffer 1 des Beschlusses), sowie ihm zum anderen aufgegeben worden ist, dem zuständigen Jugendamt im Abstand von vier Monaten Berichte des behandelnden Arztes sowie Informationen über den aktuellen Entwicklungsstand der Beschwerdeführenden zu 2), zu 3) und zu 4) schriftlich zukommen zu lassen (Ziffer 2 des Beschlusses).

3. Der vorstehend genannte Beschluss wird in seinen Ziffern 1 und 2 aufgehoben. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zur erneuten Entscheidung an das [X.] zurückverwiesen.

4. Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen.

5. [X.] hat dem Beschwerdeführer zu 1) ein Viertel der notwendigen Auslagen zu erstatten.

Gründe

1

[X.], ein Vater und seine drei minderjährigen Kinder, wenden sich gegen fachgerichtliche Entscheidungen in [X.], unter anderem gegen die Anordnung von Auflagen gegenüber dem Vater im Zuge der Rückübertragung entzogener Teile der elterlichen Sorge für zwei bis dahin fremduntergebrachte Kinder.

2

1. a) Der Beschwerdeführer zu 1) ist der Vater der aus der Ehe mit der Mutter hervorgegangenen Beschwerdeführer zu 2) bis 4), seinen 2005, 2006 und 2010 geborenen Kindern.

3

Aufgrund von Erkenntnissen des mit der Diagnostik für den Beschwerdeführer zu 3) betrauten [X.] Kinderhauses unter anderem über eskalierende Konflikte zwischen der Mutter und den Kindern sowie gewalttätigen Auseinandersetzungen unter den Eltern und sowie angesichts der Einschätzung des Kinderhauses, dass es sich bei dem Beschwerdeführer zu 3) um ein emotional hochgradig geschädigtes Kind handele, leitete das Familiengericht im Dezember 2013 das der [X.]beschwerde zugrundeliegende Hauptsacheverfahren zum Entzug der elterlichen Sorge ein. Im Zuge dieses Verfahrens erfolgte im Februar 2014 die Inobhutnahme der Beschwerdeführenden zu 2) und 3) durch das [X.] Jugendamt. Sie wurden in zuletzt unterschiedlichen Einrichtungen der Jugendhilfe in [X.] untergebracht. [X.]in zu 4) verblieb im Haushalt der Eltern.

4

Im März 2014 entzog das Familiengericht den Eltern im Wege einstweiliger Anordnung weite Teile der elterlichen Sorge, unter anderem das Aufenthaltsbestimmungsrecht, für die beiden fremduntergebrachten Kinder und ordnete insoweit Ergänzungspflegschaft durch das Jugendamt [X.] an. Die Beschwerden und sonstige eingelegte Rechtsbehelfe der Eltern dagegen wies das [X.] zurück.

5

b) In dem alle drei Kinder betreffenden Hauptsacheverfahren über die elterliche Sorge bestellte das Familiengericht den Kindern einen Verfahrensbeistand und hörte die Eltern, den Verfahrensbeistand und das Jugendamt, teils mehrfach, an. Zudem beauftragte es ein (erstes) Sachverständigengutachten. Die Beschwerdeführenden zu 2) und 3) hörte das Gericht im Mai 2017 an. Mit nicht angegriffenem Beschluss vom 13. Juni 2017 entzog das Familiengericht den Eltern die bereits vorläufig entzogenen Teile der elterlichen Sorge für die beiden älteren Kinder auch in der Hauptsache und ordnete im Umfang der Entziehung Pflegschaft durch das Jugendamt [X.] an. Zur Begründung führte es aus, beide Kinder zeigten nach Einschätzung des Sachverständigen Verhaltensauffälligkeiten im sozio-emotionalen Bereich und deutliche Unsicherheiten und Ängste. Beide Kinder und der Beschwerdeführer zu 1) hätten das häusliche Umfeld als weiterhin geprägt von permanenten und lautstark geführten elterlichen Auseinandersetzungen geschildert. Die Eltern seien zur Abwendung der Gefährdung nicht in der Lage, weil es ihnen nicht gelinge, den eigenen Anteil an dem seelischen Zustand ihrer Kinder wahrzunehmen, das Ausmaß der seelischen Verunsicherung ihrer Kinder zu erkennen und ihr Verhalten daran auszurichten. Der Sorgerechtsentzug sei zur Abwendung der Gefahr auch erforderlich. Bezüglich der Beschwerdeführerin zu 4) wurde von familiengerichtlichen Maßnahmen nach § 1666 BGB abgesehen, weil diese seit mehr als drei Jahren ‒ zeitweilig mit beiden Elternteilen ‒ in [X.] lebe und deshalb Feststellungen zu ihrem aktuellen Zustand nicht möglich seien. Mitte 2017 kehrte der Beschwerdeführer zu 1) wohl ohne seine Ehefrau und die Beschwerdeführerin zu 4) wieder nach [X.] zurück.

6

c) In dem auf die Beschwerde des Beschwerdeführers zu 1) und seiner Ehefrau eingeleiteten Beschwerdeverfahren äußerte die Beschwerdeführerin zu 2) in ihrer Anhörung vom 15. März 2019 den Wunsch, in den Haushalt des Beschwerdeführers zu 1) zurückzukehren; eine Anhörung des Beschwerdeführers zu 3) erfolgte nicht. Das [X.] beauftragte daraufhin den bisherigen Sachverständigen mit einer Nachbegutachtung zu der Frage, ob eine Rückkehr der Kinder in den Haushalt des (von der Mutter räumlich getrenntlebenden) Beschwerdeführers zu 1) eine Kindeswohlgefährdung darstellen würde. Ein Ablehnungsgesuch des Beschwerdeführers zu 1) gegenüber diesem Sachverständigen wies das [X.] zurück, entließ den Sachverständigen aber wegen fehlender Mitwirkung des Beschwerdeführers zu 1) und beauftragte einen neuen Sachverständigen.

7

Nachdem die Beschwerdeführenden zu 2) und 3) ohne Einverständnis der [X.] im [X.] an einen [X.] im Juli 2019 eigenmächtig im Haushalt des Beschwerdeführers zu 1) verblieben, wo sie seitdem leben, beantragte die [X.] im August 2019 die Aufhebung der Pflegschaft für die Kinder. Das Beschwerdegericht hörte am 4. September 2019 den Beschwerdeführer zu 1) sowie Mitarbeiter des [X.] persönlich an. Der im Beschwerdeverfahren beauftragte Sachverständige erstattete mündlich sein Gutachten nach Aktenlage. Der Beschwerdeführer zu 1) sowie die [X.] beantragten die Aufhebung der Pflegschaft.

8

[X.] vom 4. September 2019 übertrug das [X.] unter Abänderung des Beschlusses des Familiengerichts die entzogenen Teile der elterlichen Sorge für die Beschwerdeführenden zu 2) und 3) auf die Eltern zurück. Dem Beschwerdeführer zu 1) gab es auf, den Beschwerdeführer zu 3) unverzüglich psychiatrisch untersuchen zu lassen und das Kind in eine gegebenenfalls ärztlicherseits empfohlene psychologische, psychotherapeutische und psychiatrische Behandlung zu geben (Ziff. 1) sowie dem zuständigen Jugendamt im Abstand von vier Monaten Berichte des behandelnden Arztes sowie Informationen über den aktuellen Entwicklungsstand der Kinder, insbesondere in schulischer, gesundheitlicher und [X.] Hinsicht, schriftlich zukommen zu lassen (Ziff. 2). Von der Erhebung von Kosten für das Beschwerdeverfahren wurde abgesehen und zugleich entschieden, dass außergerichtliche Kosten des Beschwerdeverfahrens nicht erstattet werden. Das [X.] begründete den angegriffenen Beschluss unter Verweis auf § 38 Abs. 4 Nr. 2 FamFG nicht. Es sei gleichgerichteten Anträgen der Beteiligten stattgegeben worden beziehungsweise widerspreche der Beschluss nicht dem erklärten Willen eines Beteiligten.

9

2. Die Beschwerdeführenden [X.] mit ihrer [X.]beschwerde die Verletzung diverser Grundrechte, unter anderem von Art. 6 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1, Abs. 3 GG. Sie tragen unter anderem vor, die angeordneten Maßnahmen griffen in ihre Rechte aus Art. 6 GG ein, ohne dass sich aus der angegriffenen Entscheidung eine Begründung, insbesondere die Darlegung einer den Eingriff rechtfertigenden Kindeswohlgefährdung, entnehmen ließe. Außerdem [X.] sie unzureichende Ermittlungen und Feststellungen zu dem "Organisationsversagen" staatlicher Organe in den fachgerichtlichen Ausgangsverfahren und machen die als rechtswidrig angesehene Unterbringung der Kinder außerhalb des Wohnorts, die Organisation sowie die Art und Weise der Aufgabenerfüllung durch Jugendämter in [X.] und hier insbesondere die Ausübung von hoheitlicher Gewalt durch [X.] Tarifangestellte sowie die Unzuständigkeit der Gerichte in [X.] in Umgangsrechtsverfahren geltend.

3. Jedenfalls der Beschwerdeführer zu 1) hat beantragt festzustellen, dass Präsident [X.], die [X.]innen [X.] und [X.] sowie die [X.] [X.] und [X.] von der Ausübung des [X.]amtes ausgeschlossen sind; zudem lehnt er sie wegen Besorgnis der Befangenheit ab.

4. Die Landesregierung der Freien und Hansestadt [X.] hatte Gelegenheit zur Stellungnahme.

[X.] zum Beschluss des [X.] vom 4. September 2019 lagen dem [X.] vor.

[X.] entscheidet in der Besetzung mit Präsident [X.], [X.]in [X.] und [X.] [X.].

1. Diese sind nicht nach § 18 Abs.1 Nr. 2 [X.] von der Mitwirkung ausgeschlossen. Bei der Beteiligung an anderen [X.]beschwerdeverfahren desselben Beschwerdeführers handelt es sich nicht um eine zum Ausschluss führende vorausgegangene Tätigkeit in derselben Sache im Sinne von § 18 Abs. 1 Nr. 2 [X.] (vgl. [X.], Beschluss der [X.] des [X.] vom 14. Oktober 2020 - 1 BvR 2253/20 -, Rn. 3). Eine solche liegt regelmäßig lediglich dann vor, wenn die Tätigkeit im gegenständlichen verfassungsgerichtlichen Verfahren selbst oder in dem diesem unmittelbar vorausgegangenen und ihm sachlich zugeordneten Verfahren erfolgte (vgl. [X.]E 152, 332 <336 Rn. 9> m.w.N.; stRspr). Dazu gehören andere verfassungsgerichtliche Verfahren nicht, mögen sie auch teilweise denselben Lebenssachverhalt wie das gegenständliche betreffen.

2. [X.]) ist hinsichtlich sämtlicher abgelehnter [X.]innen und [X.] offensichtlich unzulässig. Er kann daher durch die Kammer in der vorstehend genannten Besetzung und ohne Einholung von Stellungnahmen der [X.] beschieden werden (vgl. [X.]E 131, 239 <252 f.>; 142, 1 <4 f. Rn. 12> m.w.N.; stRspr).

a) Soweit der Beschwerdeführer zu 1) Präsident [X.], [X.]in [X.] und [X.] [X.] für befangen erachtet, ist die Begründung seines [X.] offensichtlich ungeeignet, deren Ausschluss zu rechtfertigen und deshalb offensichtlich unzulässig (vgl. [X.]E 133, 377 <406 Rn. 71>).

Die Ablehnung der genannten [X.] stellt in der Sache allein darauf ab, dass diese bereits über frühere [X.]beschwerdeverfahren des Beschwerdeführers in einer Weise entschieden haben, die er für fehlerhaft hält. Daraus kann jedoch die Besorgnis der Befangenheit im Sinne von § 19 [X.] von vornherein nicht abgeleitet werden. Nach der auch bei Anwendung von § 19 [X.] zu beachtenden Wertung des § 18 Abs. 1 Nr. 2 [X.] (oben 1.) führt allein die Äußerung eines Mitglieds des [X.] zu einer entscheidungserheblichen Rechtsfrage in anderen verfassungsgerichtlichen Verfahren nicht zur Besorgnis der Befangenheit (vgl. [X.]E 133, 377 <406 Rn. 71>).

b) Soweit sich der Ablehnungsantrag gegen den [X.] [X.] und die [X.]in [X.] richtet, ist er unzulässig, weil diese nicht Mitglieder der [X.] und daher nicht zur Mitwirkung im vorliegenden Verfahren berufen sind (vgl. [X.]E 142, 1 <4 f. Rn. 12>).

[X.] nimmt die [X.]beschwerde in dem aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Umfang zur Entscheidung an und gibt ihr nach § 93c Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 93a Abs. 2 Buchstabe b [X.] statt. Insoweit ist die Annahme der [X.]beschwerde zur Durchsetzung des als verletzt gerügten Elternrechts des Beschwerdeführers zu 1) angezeigt (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b [X.]). Die [X.]beschwerde ist, soweit sie zur Entscheidung angenommen wird, zulässig und offensichtlich begründet. Die für die Beurteilung der [X.]beschwerde maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen hat das [X.] bereits entschieden (§ 93c Abs. 1 Satz 1 [X.]).

1. Die angegriffene Entscheidung des [X.] vom 4. September 2019 verletzt den Beschwerdeführer zu 1) in seinem Elternrecht aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG insoweit, als ihm die den Ziffern 1 und 2 des Beschlusses genannten Verhaltensweisen ohne eine dies tragende Begründung aufgegeben worden sind.

a) aa) Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG garantiert den Eltern das Recht auf Pflege und Erziehung ihrer Kinder. Die Erziehung des Kindes ist damit primär in die Verantwortung der Eltern gelegt. Die Eltern können grundsätzlich frei von staatlichen Eingriffen nach eigenen Vorstellungen darüber entscheiden, wie sie die Pflege und Erziehung ihrer Kinder gestalten und damit ihrer Elternverantwortung gerecht werden wollen ([X.]E 60, 79 <88>). Diese primäre Entscheidungszuständigkeit der Eltern beruht auf der Erwägung, dass die Interessen des Kindes am besten von den Eltern wahrgenommen werden. Dabei wird sogar die Möglichkeit in Kauf genommen, dass das Kind durch einen Entschluss der Eltern Nachteile erleidet, die im Rahmen einer nach objektiven Maßstäben getroffenen [X.] vielleicht vermieden werden könnten ([X.]E 34, 165 <184>). In der Beziehung zum Kind muss aber das Kindeswohl die oberste Richtschnur der elterlichen Pflege und Erziehung sein ([X.]E 60, 79 <88> m.w.N.). Der Schutz des Elternrechts, das Vater und Mutter gleichermaßen zukommt, erstreckt sich auf die wesentlichen Elemente des Sorgerechts (vgl. [X.]E 84,168 <180>; 107, 150 <173>).

bb) Das Recht der Eltern auf freie Gestaltung ihrer Sorge für das Kind verdient dort keinen Schutz, wo sich Eltern ihrer Verantwortung gegenüber dem Kind entziehen und eine Vernachlässigung des Kindes droht (vgl. [X.]E 24, 119 <143 f.>). Wenn Eltern in dieser Weise versagen, greift das Wächteramt des Staates nach Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG ein; der Staat ist nicht nur berechtigt, sondern auch verpflichtet, die Pflege und Erziehung des Kindes sicherzustellen, denn das Kind als Grundrechtsträger hat Anspruch auf staatlichen Schutz vor verantwortungsloser Ausübung des Elternrechts (vgl. [X.]E 24, 119 <144>). Dabei bestimmen sich die Schutzmaßnahmen nach dem Ausmaß des elterlichen Versagens und danach, was im Interesse des Kindes geboten ist (vgl. [X.]E 24, 119 <144 f.>; 60, 79 <91>; 103, 89 <107>). Jede zum Zwecke der Abwendung einer Kindeswohlgefährdung getroffene staatliche Maßnahme muss den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachten (vgl. [X.]E 76, 1 <50 f.> m.w.N.).

cc) In verfahrensrechtlicher Hinsicht muss ein Kindschaftsverfahren in seiner Ausgestaltung geeignet und angemessen sein, eine möglichst zuverlässige Grundlage für eine am Kindeswohl ausgerichtete Entscheidung zu erlangen (vgl. [X.]K 9, 274 <279>; 15, 509 <515 f.>) und damit der Durchsetzung der materiellen Grundrechtspositionen wirkungsvoll zu dienen (vgl. [X.]E 84, 34 <49>). Diesen Anforderungen werden die Gerichte nur gerecht, wenn sie sich mit den Besonderheiten des Einzelfalles auseinandersetzen, die Interessen der Eltern sowie deren Einstellung und Persönlichkeit würdigen und auf die Belange des Kindes eingehen (vgl. [X.]E 31, 194 <210>).

[X.]) Mit diesen [X.] und verfahrensrechtlichen Maßgaben des Grundgesetzes korrespondieren außerdem Anforderungen an die Begründung der gerichtlichen Entscheidung (vgl. [X.], Beschluss der [X.] des [X.] vom 14. Juni 2014 - 1 BvR 725/14 -, Rn. 24 und 26 f.; Beschluss der [X.] des [X.] vom 19. November 2014 - 1 BvR 1178/14 -, Rn. 37 m.w.N., jeweils zu Art. 6 Abs. 3 GG). Bewirkt eine auf der Grundlage von § 1666 BGB getroffene familiengerichtliche Entscheidung eine Trennung des Kindes von seinen Eltern, folgt aus dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz wegen der hohen Eingriffsintensität die Verpflichtung der Fachgerichte, die dem Kind drohenden Schäden ihrer Art, Schwere und Eintrittswahrscheinlichkeit nach konkret zu benennen (vgl. [X.], Beschluss der [X.] des [X.] vom 10. Juni 2020 - 1 BvR 572/20 -, Rn. 23). Bei weniger schwerwiegenden, nicht an Art. 6 Abs. 3 GG zu messenden Eingriffen in das Elternrecht können solche Feststellungen jedenfalls dann nicht vollständig unterbleiben, wenn ansonsten nicht beurteilt werden kann, ob die Fachgerichte bei der Anwendung des Fachrechts eine grundsätzlich unrichtige Auffassung von der Bedeutung des betroffenen Grundrechts und vom Umfang seines Schutzbereichs zugrunde gelegt haben (zum Maßstab [X.]E 72, 122 <138> m.w.N.; [X.]K 15, 509 <516>). Das gilt unter den genannten Voraussetzungen im Einzelfall auch für letztinstanzliche Entscheidungen, die ansonsten von [X.] wegen im Grundsatz nicht begründet werden müssen (vgl. [X.]E 50, 287 <289 f.>; 81, 97 <106>; 94, 166 <210>; 118, 212 <238>; stRspr). Ausnahmsweise kann eine Begründungsobliegenheit bei solchen Entscheidungen bestehen, wenn mit [X.] verbundene Anordnungen erstmals in der das Verfahren abschließenden Instanz erfolgen oder wenn allgemeine, im Rechtsstaatsprinzip wurzelnde Verfahrensgrundsätze dies erfordern (zu Letzterem [X.]E 118, 212 <238 f.>).

b) Nach diesen Maßstäben verletzt die angegriffene Entscheidung des [X.] vom 4. September 2019 in dem aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Umfang das Elternrecht des Beschwerdeführers zu 1) aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG. Die in Ziffern 1 und 2 des angegriffenen Beschlusses angeordneten Sorgerechtsmaßnahmen greifen in sein Elternrecht ein, ohne dass erkennbar wäre, dass die dafür erforderlichen Voraussetzungen erfüllt sind.

aa) Wegen des Verzichts auf Entscheidungsgründe lässt sich weder erkennen, ob die für Maßnahmen nach § 1666 BGB fachrechtlich erforderliche Kindeswohlgefährdung im Ausgangsverfahren vorlag, noch, ob die dem Beschwerdeführer zu 1) auferlegten Maßnahmen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz wahren. Ob die hierzu vom Fachgericht getroffenen Feststellungen und Bewertungen sowie die Gestaltung des Ausgangsverfahrens den verfassungsrechtlichen Anforderungen, unter denen der Eingriff in das Elternrecht gerechtfertigt sein kann, gerecht werden, lässt sich somit anhand der angegriffenen Entscheidung nicht feststellen.

Zwar ergeben sich aus den Feststellungen vorangegangener Sorgerechtsentscheidungen des Familiengerichts vom 6. März 2014 und 13. Juni 2017, der Berichte der Jugendhilfeeinrichtungen sowie den Stellungnahmen des [X.] Anhaltspunkte, die auf eine auch gegenwärtig noch bestehende, nachhaltige Gefährdung des Kindeswohls der beschwerdeführenden Kinder zu 2) und 3) im Haushalt des Beschwerdeführers zu 1) schließen lassen und dann grundsätzlich Maßnahmen nach § 1666 BGB begründen könnten. Allerdings hat der mit der Nachbegutachtung beauftragte (zweite) Sachverständige im Erörterungstermin am 4. September 2019 angegeben, nach Aktenlage bestehe derzeit jedenfalls für die Beschwerdeführerin zu 2) im väterlichen Haushalt keine Kindeswohlgefährdung. Für den Beschwerdeführer zu 3) empfahl er zwar eine [X.]e Untersuchung, nähere Ausführungen zu einer konkreten Kindeswohlgefährdung lassen sich dem Vermerk jedoch nicht entnehmen.

Da der im Beschwerdeverfahren beauftragte Sachverständige eine Kindeswohlgefährdung bei der Beschwerdeführerin zu 2) verneint hat, ist nicht nachvollziehbar, aus welchen Gründen das [X.] die in Ziffer 2 des Beschlusses auferlegte Informationspflicht auf die Beschwerdeführerin zu 2) erstreckt. Zwar schließt die Verfassung nicht aus, dass das Fachgericht im Einzelfall von den fachkundigen Feststellungen und Wertungen gerichtlich bestellter Sachverständiger abweicht. Insbesondere ist nicht ausgeschlossen, dass das Gericht zu einer abweichenden Einschätzung und Bewertung von Art und Ausmaß einer Kindeswohlgefährdung gelangt. Es muss dann aber eine anderweitige verlässliche Grundlage für eine am Kindeswohl ausgerichtete Entscheidung haben und diese offenlegen. Ein Abweichen von den gegenläufigen Einschätzungen der Sachverständigen bedarf hier eingehender Begründung (vgl. [X.], Beschluss der [X.] des [X.] vom 3. Februar 2017 - 1 BvR 2569/16 -, Rn. 49 m.w.N.). Der angegriffenen Entscheidung des [X.] ist nicht zu entnehmen, weshalb es der Einschätzung des psychologischen Sachverständigen nicht gefolgt ist. Es ist auch nicht ersichtlich, dass das Gericht über eine anderweitige verlässliche Grundlage für seine Einschätzung verfügt.

Zu der Situation der Beschwerdeführerin zu 4), auf die sich als "Betroffene zu 2" des Ausgangsverfahrens die Informationsanordnung des angegriffenen Beschlusses ebenfalls bezieht, finden sich in dem Protokoll über den Termin vor dem [X.] vom 4. September 2019 keinerlei Angaben. Worauf sich die angeordnete Maßnahme insoweit stützt, lässt sich nicht erkennen.

bb) Den Verzicht auf eine Begründung der in Ziffern 1 und 2 angeordneten Maßnahmen konnte das [X.] im Übrigen auch einfachrechtlich nicht auf § 38 Abs. 4 Nr. 2 FamFG stützen. Im Ausgangsverfahren lagen die tatsächlichen Voraussetzungen insoweit offensichtlich nicht vor. Weder dem angegriffenen Beschluss noch den Akten des Ausgangsverfahrens ist zu entnehmen, dass der Beschwerdeführer zu 1) die gerichtliche Anordnung der Maßnahme im Vorfeld beantragt oder sein Einverständnis dazu zum Ausdruck gebracht hätte. Sein Einvernehmen und das der [X.] bezogen sich ausweislich des Protokolls der Anhörung vom 4. September 2019 lediglich auf die Rückübertragung der elterlichen Sorge und die [X.]e Untersuchung und Behandlung des Beschwerdeführers zu 3), aber weder auf die gerichtliche Anordnung dieser noch auf weitere flankierende Maßnahmen. Sollte das [X.] allein aus dem Einverständnis des Beschwerdeführers zu 1), seinen [X.] [X.] untersuchen und gegebenenfalls behandeln zu lassen, auf das Vorliegen der Voraussetzungen von § 38 Abs. 4 Nr. 2 FamFG geschlossen haben, so läge dem ein Verständnis der Regelung zugrunde, das bei das Elternrecht (Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG) betreffenden Endentscheidungen auf einer Verkennung der Bedeutung und Tragweite dieses Grundrechts beruhte.

2. Auf der Grundlage der im [X.]beschwerdeverfahren vorliegenden Erkenntnisse bestünden im Übrigen Bedenken gegen die Verhältnismäßigkeit der Anordnung, soweit das [X.] dem Beschwerdeführer zu 1) die [X.]e Begutachtung des Beschwerdeführers zu 3) aufgegeben hat. Selbst wenn dessen Untersuchung und Behandlung wegen einer Kindeswohlgefährdung geboten gewesen wäre, ist die gerichtliche Anordnung zur Abwendung einer dem Kind drohenden Gefahr insbesondere dann nicht erforderlich, wenn der Beschwerdeführer zu 1) alle im Zusammenhang hiermit notwendig werdenden Mitwirkungshandlungen vornimmt oder vorzunehmen bereit ist (vgl. [X.], Beschluss der [X.] des [X.] vom 14. Juni 2014 - 1 BvR 725/14 -, Rn. 39; [X.], Beschluss der [X.] des [X.] vom 13. Juli 2017 - 1 BvR 1202/17 -, Rn. 29). Der Beschwerdeführer zu 1) hat im Erörterungstermin am 4. September 2019 sein ausdrückliches Einverständnis mit dieser vom Sachverständigen empfohlenen Untersuchung und Behandlung erklärt und angegeben, es wäre bereits eine Vorstellung des Kindes bei einem Kinderpsychiater erfolgt. Feststellungen dazu, weshalb zu befürchten sein könnte, dass er sich nicht an seine Zusicherung halten werde, lassen sich der Entscheidung nicht entnehmen.

3. Die angegriffene Sorgerechtsentscheidung vom 4. September 2019 beruht auch auf den dargelegten Verstößen gegen das Elternrecht des Beschwerdeführers zu 1). Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das [X.] bei hinreichender Berücksichtigung des Grundrechts des Beschwerdeführers zu 1) eine andere, für diesen günstigere Entscheidung getroffen hätte.

4. Ob die Anwendung des § 38 Abs. 4 Nr. 2 FamFG im Ausgangsverfahren gegen das Willkürverbot in Art. 3 Abs. 1 GG verstößt, weil dessen rechtliche oder tatsächliche Voraussetzungen offensichtlich nicht vorlagen, kann dahinstehen. Eine Rüge mit dieser Stoßrichtung enthält die [X.]beschwerde nicht.

Es kann weiter dahinstehen, ob der Beschwerdeführer zu 1) durch diese Entscheidung auch in den weiteren von ihm gerügten Grundrechten verletzt wird, weil der Beschluss des [X.] den Beschwerdeführer zu 1) bereits in seinem Grundrecht aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG verletzt.

5. Der angegriffene Beschluss des [X.] vom 4. September 2019 ist in dem aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Umfang aufzuheben und die Sache insoweit an das [X.] zurückzuverweisen (§ 93c in Verbindung mit § 95 Abs. 2 [X.]).

Das [X.] wird im fortzusetzenden fachgerichtlichen Verfahren nicht nur die verfassungsrechtlichen Erfordernisse ausreichend konkreter Feststellungen zu Art und Schwere der Kindeswohlgefährdung und zur Verhältnismäßigkeit der gerichtlichen Maßnahmen sowie die konkreten Begründungsanforderungen in den Blick nehmen müssen. Es wird darüber hinaus auch in Anbetracht der verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Verfahrensgestaltung eine persönliche Anhörung des mittlerweile 14-jährigen Beschwerdeführers zu 3) in Betracht zu ziehen haben (§ 159 Abs. 1 Satz 1 FamFG).

6. Im Übrigen wird die [X.]beschwerde der Beschwerdeführer nicht zur Entscheidung angenommen.

Soweit der Beschwerdeführer zu 1) allein die [X.]beschwerde auch im Namen seiner jüngsten Tochter, der Beschwerdeführerin zu 4), eingelegt hat, fehlt es wegen der gemeinsamen elterlichen Sorge an einer wirksamen Vertretung der Minderjährigen (§ 1629 Abs. 1 Satz 2 BGB). Soweit die weiteren minderjährigen Kinder, die Beschwerdeführerin zu 2) und der Beschwerdeführer zu 3), die [X.]beschwerde gegen die angegriffene Entscheidung vom 4. September 2019 im eigenen Namen erhoben haben, genügt ihre Begründung bereits deshalb nicht den aus § 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 [X.] resultierenden Anforderungen, weil nicht dargelegt wird, in welcher Weise sie durch die angegriffene Entscheidung beschwert sind. Da der Beschluss unmittelbar lediglich dem Beschwerdeführer zu 1) Pflichten aufgibt, liegt eine eigene nachteilige Betroffenheit der Kinder auch nicht derart auf der Hand, dass auf eine Begründung dazu verzichtet werden konnte.

Die gegen die übrigen Entscheidungen gerichtete [X.]beschwerde der Beschwerdeführenden genügt insgesamt nicht den Begründungsanforderungen aus § 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 [X.] und ist deshalb ebenfalls unzulässig.

Von einer weiteren Begründung wird gemäß § 93d Abs. 1 Satz 3 [X.] abgesehen.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Meta

1 BvR 2318/19

24.11.2020

Bundesverfassungsgericht 1. Senat 1. Kammer

Stattgebender Kammerbeschluss

Sachgebiet: BvR

vorgehend Hanseatisches Oberlandesgericht Hamburg, 22. Oktober 2019, Az: 12 UFH 4/19, Beschluss

Art 6 Abs 2 S 1 GG, § 93c Abs 1 S 1 BVerfGG, § 1666 Abs 1 BGB, § 38 Abs 4 Nr 2 FamFG

Zitier­vorschlag: Bundesverfassungsgericht, Stattgebender Kammerbeschluss vom 24.11.2020, Az. 1 BvR 2318/19 (REWIS RS 2020, 3173)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2020, 3173

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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