BT-Drucksache 15/3051

Aufbruch in den Nanokosmos - Chancen nutzen, Risiken abschätzen

Vom 5. Mai 2004


Deutscher Bundestag Drucksache 15/3051
15. Wahlperiode 05. 05. 2004

Antrag
der Abgeordneten Ulla Burchardt, Jörg Tauss, Rainer Arnold, Hermann Bachmaier,
Sabine Bätzing, Doris Barnett, Dr. Hans-Peter Bartels, Klaus Barthel (Starnberg),
Sören Bartol, Uwe Beckmeyer, Dr. Axel Berg, Ute Berg, Hans-Werner Bertl,
Petra Bierwirth, Gerd Friedrich Bollmann, Klaus Brandner, Willi Brase, Bernhard
Brinkmann (Hildesheim), Marco Bülow, Dr. Michael Bürsch, Hans Büttner
(Ingolstadt), Dr. Herta Däubler-Gmelin, Martin Dörmann, Peter Dreßen, Detlef
Dzembritzki, Petra Ernstberger, Karin Evers-Meyer, Dagmar Freitag, Dieter
Grasedieck, Monika Griefahn, Wolfgang Grotthaus, Hubertus Heil, Reinhold
Hemker, Rolf Hempelmann, Gustav Herzog, Petra Heß, Monika Heubaum, Gabriele
Hiller-Ohm,GerdHöfer, JelenaHoffmann (Chemnitz),Walter Hoffmann (Darmstadt),
Eike Hovermann, Klaas Hübner, Christel Humme, Renate Jäger, Ulrich Kasparick,
Ulrich Kelber, Klaus Kirschner, Hans-Ulrich Klose, Astrid Klug, Rolf Kramer,
Anette Kramme, Ernst Kranz, Nicolette Kressl, Volker Kröning, Angelika Krüger-
Leißner, Horst Kubatschka, Ernst Küchler, Ute Kumpf, Christine Lambrecht,
Christian Lange (Backnang), Eckhart Lewering, Gabriele Lösekrug-Möller,
Götz-Peter Lohmann, Erika Lotz, Dirk Manzewski, Hilde Mattheis, Markus Meckel,
UlrikeMehl, UlrikeMerten, Ursula Mogg, ChristianMüller (Zittau), Dr. Rolf Mützenich,
Gesine Multhaupt, Volker Neumann (Bramsche), Dietmar Nietan, Dr. Erika Ober,
Holger Ortel, Johannes Pflug, Dr. Wilhelm Priesmeier, Dr. Carola Reimann,
Reinhold Robbe, René Röspel, Dr. Ernst Dieter Rossmann, Karin Roth (Esslingen),
Thomas Sauer, Rudolf Scharping, Axel Schäfer (Bochum), Dr. Hermann Scheer,
Siegfried Scheffler, Horst Schmidbauer (Nürnberg), Silvia Schmidt (Eisleben),
Wilhelm Schmidt (Salzgitter), Heinz Schmitt (Landau), Carsten Schneider, Karsten
Schönfeld, Fritz Schösser, Olaf Scholz, Wilfried Schreck, Reinhard Schultz
(Everswinkel), Swen Schulz (Spandau), Erika Simm, Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk,
Dr. Margrit Spielmann, Rolf Stöckel, Christoph Strässer, Joachim Stünker, Jella
Teuchner, Dr. Marlies Volkmer, Hedi Wegener, Andreas Weigel, Matthias Weisheit,
Gert Weisskirchen (Wiesloch), Dr. Ernst Ulrich von Weizsäcker, Dr. Rainer Wend,
Andrea Wicklein, Brigitte Wimmer (Karlsruhe), Engelbert Wistuba, Dr. Wolfgang
Wodarg, Verena Wohlleben, Waltraud Wolff (Wolmirstedt), Uta Zapf, Manfred
Helmut Zöllmer, Dr. Christoph Zöpel, Franz Müntefering und der Fraktion der SPD
sowie der Abgeordneten Hans-Josef Fell, Grietje Bettin, Volker Beck (Köln),
Winfried Hermann, Michaele Hustedt, Undine Kurth (Quedlinburg), Dr. Reinhard
Loske, Dr. Antje Vogel-Sperl, Katrin Göring-Eckardt, Krista Sager und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Aufbruch in den Nanokosmos – Chancen nutzen, Risiken abschätzen

Drucksache 15/3051 – 2 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

Der Bundestag wolle beschließen:
I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:
Weltweit findet die Nanotechnologie zunehmend Beachtung und wird als eine
wichtige Zukunftstechnologie bezeichnet. Dabei stellt sie weniger eine Basis-
technologie im klassischen Sinne mit eindeutig abgrenzbarer Definition dar,
sondern beschreibt vielmehr eine neue interdisziplinäre und branchenübergrei-
fende Herangehensweise für Innovationen in der Biotechnologie, Elektronik,
Elektrotechnik, Optik oder bei neuen Materialien. Nanotechnologie ist ein Sam-
melbegriff für eine weite Palette von Technologien, die sich mit Strukturen und
Prozessen auf der Nanometerskala befassen.
Eine allgemein anerkannte Definition der Nanotechnologie existiert bis heute
nicht. Weithin unbestritten ist aber, dass sie sich mit Strukturen befasst, die in
mindestens einer Dimension kleiner als 100 nm sind. Auch macht sich die
Nanotechnologie charakteristische Effekte und Phänomene von Stoffen zu-
nutze, die im Übergangsbereich zwischen atomarer und mesoskopischer Ebene
auftreten. Schließlich bezeichnet Nanotechnologie die gezielte Herstellung und/
oder Manipulation einzelner Nanostrukturen. Charakteristisch ist beim Über-
gang auf die Nanometerskala, neben der zunehmenden Dominanz quantenphy-
sikalischer Effekte, dass Oberflächen- bzw. Grenzflächeneigenschaften gegenü-
ber den Volumeneigenschaften des Materials eine immer größere Rolle spielen
und vielfach Selbstorganisations-Phänomene auftreten. Damit erweitert die Na-
notechnologie in revolutionärer Weise die Möglichkeiten, Materialeigenschaf-
ten gezielt zu beeinflussen, zu nutzen und Nanostrukturen in komplexe Gesamt-
systeme zu integrieren.
Noch immer ist die Nanotechnologie auch ein hochgradig visionäres Thema.
Aber der Prozess der Umsetzung nanotechnologischer Forschungs- und Ent-
wicklungsergebnisse beschleunigt sich zunehmend. Es finden sich immer mehr
Beispiele bereits realisierter Anwendungen in wichtigen Branchen. Viele bedeu-
tende Fortschritte bei bekannten Produkten und Technologien, aber auch ganz
neuartige Produkt- und Prozessinnovationen beruhen auf Materialien oder Ver-
fahren der Nanotechnologie. Darüber hinaus befindet sich eine Fülle von An-
wendungsideen im Stadium der Entwicklung oder Erprobung. Dieser Prozess
bedeutet einen qualitativen Sprung für den Einsatz und die weitere kommerzi-
elle Nutzung der Nanotechnologie. Für viele in Deutschland wichtige Indus-
triebranchen wie Chemie, Pharma, Energie, Umweltschutz, Automobilbau, In-
formationstechnik oder Optik hängt die künftige Wettbewerbsfähigkeit ihrer
Produkte auch von der Erschließung des Nanokosmos ab.
Mit der Nanotechnologie verbindet sich die Hoffnung auf Milliardenumsätze in
praktisch allen Branchen, wobei vor allem ihre Hebelwirkungen und weniger die
auf einem exklusiven Nanotechnologie-Markt erzielten Umsätze als entschei-
dend anzusehen sind. Der Einfluss nanotechnologischer Erkenntnisse auf
verkaufbare Produkte besteht schon seit Jahren in den Bereichen Elektronikher-
stellung, Datenspeicherung, funktionelle Schichten oder Präzisionsoptiken. In
jüngster Zeit sind nanotechnologische Erkenntnisse verstärkt auch in die Felder
Biologie, Chemie, Pharmazie undMedizin eingeflossen. Durch interdisziplinäre
und branchenübergreifende Sichtweisen erschließen sich hier zunehmend
bislang noch nicht im Detail formulierbare Innovationspotenziale der Nanotech-
nologie.
Die weitere Entwicklung der Nanotechnologien wird letztlich alle Industrie-
zweige betreffen (ähnlich wie bei der Mikroelektronik) und stellt daher eine er-
hebliche Herausforderung für die Entwicklung von und Anpassung an neue Pro-
duktionskonzepte dar, auf die frühzeitig reagiert werden sollte. Dies betrifft
nicht nur Unternehmen, die bereits in diesem Technologiefeld aktiv sind, son-
dern gerade auch solche Unternehmen, die bislang noch nicht einbezogen sind.

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 3 – Drucksache 15/3051

Angesichts ihres Innovationspotenzials für eine nachhaltige Entwicklung wer-
den von der Nanotechnologie auch erhebliche Entlastungseffekte für die Um-
welt und Verbesserungen für die menschliche Gesundheit erwartet: So lässt sich
eine effizientere Energieumwandlung durch nanotechnologisch optimierte Bau-
teile bei Solar- und Brennstoffzellen erreichen. Verschleiß- und reibungsarme
Oberflächen im Maschinenbau könnten zu einem deutlich geringeren Material-
und Ressourcenverbrauch führen, Nanofilter die Schadstoffbelastung erheblich
vermindern. Zu den positiven Effekten für die menschliche Gesundheit kann
insbesondere die Entwicklung neuer Diagnose- und Therapieverfahren zählen,
die beispielsweise auf nanostrukturierten Biochips, Nanosonden, „intelligenten“
Medikamentendepots im Körperinneren, auf den Organismus ergänzenden Mi-
krosystemen oder auf neuartigen Basismaterialien für Gewebeimplantate beru-
hen. Durch Veränderungen der Partikelgröße, Morphologie und Zusammenset-
zung im Nanobereich lassen sich auf nachwachsenden Rohstoffen basierende
Biopolymere mit neuen Eigenschaften produzieren.
In einer bundesweit ersten umfassenden Übersichtsstudie, die vom Büro für
Technikfolgen-Abschätzung beim Deutschen Bundestag im Auftrag des Aus-
schusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung erstellt und im
Jahre 2003 vorgelegt wurde, ist der Stand von Forschung, Entwicklung und
Anwendung der Nanotechnologie systematisch erfasst worden.
Die Studie weist neben den umfangreichen Chancen für neue Technologien auch
auf die Risiken nanotechnologischer Anwendungen vor allem in den Bereichen
Medizin, Datenschutz, Umweltschutz oder Waffensysteme hin. So gibt es bei-
spielsweise Risiken im Bereich der unkontrollierten Freisetzung von Nanoparti-
keln. Ihre Auswirkungen auf Ökosysteme und Gesundheit sind noch weitgehend
unerforscht und benötigen eine umfassende wissenschaftliche Begleitung. In der
Studie werden ferner Empfehlungen zu der Ausrichtung der zukünftigen For-
schungsförderung und der Notwendigkeit nanotechnologiespezifischer Regulie-
rungen abgegeben.
Die Studie belegt, dass Deutschland im internationalen Vergleich in der For-
schung und Entwicklung im Bereich Nanotechnologie eine insgesamt starke, in
Teilbereichen sogar eine führende Position einnimmt. Deutschland gehört zu
den publikationsstärksten Akteuren und wird hier nur von den USA und Japan
übertroffen. Was die Zahl der Patentanmeldungen anbelangt, liegt Deutschland
weltweit auf Platz zwei, hinter den USA, aber vor Japan.
Entscheidend für diese starke Position sind vielfältige Aktivitäten und Maßnah-
men der Bundesregierung, die im Verlaufe der letzten Jahre, maßgeblich unter-
stützt durch Impulse aus dem Deutschen Bundestag, zur Förderung der Nano-
technologie in die Wege geleitet wurden.
Der Deutsche Bundestag begrüßt in diesem Zusammenhang insbesondere:
– Die Projektförderung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung

(BMBF) ist von 27,6 Mio. Euro im Jahre 1998 auf 123,8 Mio. Euro in 2004
gestiegen und damit mehr als vervierfacht worden. Gefördert werden die
Fachthemen Nanomaterialien, Produktionstechnologien, Optische Technolo-
gien, Mikrosystemtechnik, Kommunikationstechnologien, Nanoelektronik
und Nanobiotechnologie sowie Innovations- und Technikanalysen. Zusätz-
lich werden vom Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit (BMWA)
projektbezogene Investitionen in der Physikalisch-Technischen Bundesan-
stalt und der Bundesanstalt für Materialforschung und -prüfung sowie
Projekte mit Nanotechnologiebezug im Programm Innovationskompetenz
PRO INNO für kleine und mittlere Unternehmen finanziert. Dafür werden
ca. 25 Mio. Euro pro Jahr bereitgestellt. Ohne den zusätzlichen Eigenanteil
der Industrie zur Projektförderung ergeben die Aufwendungen Deutschlands
in der öffentlichen Förderung der Nanotechnologie eine Gesamtsumme für

Drucksache 15/3051 – 4 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

2004 von ca. 290 Mio. Euro. Sie ist damit höher als in allen anderen EU-Län-
dern zusammen.

– Bereits ab 1998 wurde neben der Intensivierung der Verbundprojektförde-
rung der Aufbau einer unterstützenden Infrastrukturmaßnahme durch Ein-
richtung von sechs Kompetenzzentren Nanotechnologie begonnen. Dies ge-
schah zwei Jahre bevor die USA ihre nationale Initiative und vier Jahre bevor
die EU vergleichbare Maßnahmen im Rahmen des 6. Forschungsrahmenpro-
gramms ins Leben gerufen haben. Die Kompetenzzentren tragen als bundes-
weite thematische Netzwerke mit regionalen Clustern entscheidend dazu bei,
eine verbesserte Zusammenführung potenzieller Anwender und Nanotech-
nik-Forscher zu ermöglichen.

– Mit Hilfe dieser parallelen Förderstrategie des BMBF – Projektförderung und
Aufbau einer unterstützenden Infrastruktur – wurde erreicht, dass nicht nur
die Forschung in der Nanowissenschaft international einen der vordersten
Plätze einnimmt, sondern auch die auf Nanotechnologie-Produkte ausgerich-
teten Firmen in Deutschland an Anzahl und Renommee deutlich zugelegt ha-
ben. So stammt etwa die Hälfte der in Europa ansässigen Firmen mit Bezug
zur Nanotechnologie aus Deutschland.

– Eine wichtige Initiative zur Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses
im Bereich der Nanotechnologie ist der vom BMBF im Jahre 2002 gestartete
Wettbewerb zur Finanzierung interdisziplinärer Nachwuchswissenschaftler-
gruppen an universitären oder außeruniversitären Forschungseinrichtungen.

– Das im März 2004 vorgelegte BMBF-Rahmenkonzept „Nanotechnologie er-
obert Märkte – Deutsche Zukunftsoffensive für Nanotechnologie“ belegt die
hohe Bedeutung, die die Bundesregierung der Nanotechnologie einräumt.
Dieses Programm zielt als nationale Gesamtstrategie darauf ab, die Anwen-
dungspotenziale der Nanotechnologie durch an der Wertschöpfungskette
strategisch ausgerichtete Forschungskooperationen (Leitinnovationen) zu-
nächst in den Bereichen Automobil (NanoMobil), Optische Industrie (Nano-
Lux), der Pharma- und Medizintechnik (NanoForLife) und der Elektronik
(NanoFab) zu erschließen, durch NanoChance, einer neuen BMBF-Förder-
maßnahme zur gezielten Unterstützung FuE-intensiver (FuE: Forschung und
Entwicklung) kleiner und mittlerer Unternehmen, bereits gegründeten Unter-
nehmen in der Frühphase Konsolidierungshilfe zu bieten und flankierend
durch bildungspolitische Aktivitäten, z. B. der Fortsetzung des „Nachwuchs-
wettbewerbs Nanotechnologie“ zur Förderung des wissenschaftlichen Nach-
wuchses in diesem Bereich, einem drohenden Fachkräftemangel entgegen-
zuwirken.

Will man die Chancen der Nanotechnologie als weit in die Zukunft greifende
und gleichzeitig viele Bereiche der Gesellschaft – Technik, Gesundheit, Indivi-
dualität, Kommunikation – umfassende Basistechnologie für mehr Wohlstand
und Lebensqualität realisieren, müssen auch potenzielle Risiken realistisch in
den Blick genommen werden. Wie die Nanotechnologie-Studie des Büros für
Technikfolgen-Abschätzung beim Deutschen Bundestag zeigt, betrifft dies in
erster Linie mögliche Umwelt- und Gesundheitsrisiken, die sich aus der Herstel-
lung und Nutzung nanotechnologischer Produkte sowie der Anwendung nano-
technologischer Verfahren ergeben könnten. Vorliegende Untersuchungsergeb-
nisse zu der Wirkung freigesetzter Nanopartikel erscheinen wenig abgesichert,
sind zum Teil widersprüchlich und weisen erhebliche Lücken auf. Aus dem feh-
lenden Wissen um die Umwelt- und Gesundheitsfolgen der Nanotechnologie
können sich gesellschaftliche Akzeptanzprobleme und damit auch Hemmnisse
für die Markteinführung von Nanotechnologien ergeben. Zur Entwicklung von
Handlungsoptionen für die gesellschaftlich erwünschte Nutzung der Nanotech-
nologie werden von den Ergebnissen der drei vom BMBF beauftragten Studien
zur Innovations- und Technikfolgenabschätzung (Wirtschaftliches Potenzial der

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 5 – Drucksache 15/3051

Nanotechnologie, Nanotechnologie und Nachhaltigkeit, Nanotechnologie und
Gesundheit) erste konkrete Anhaltspunkte erwartet.
In weiten Teilen ungeklärt sind ferner mit dem nanotechnologischen Fortschritt
unmittelbar zusammenhängende Fragen nach der Ergänzung des menschlichen
Körpers durch technische Bestandteile, Probleme des Datenschutzes und des
Schutzes der Privatsphäre, aber auch Fragen sozialer Ungleichheit und steigen-
der Wohlstandsunterschiede zwischen Ländern mit und ohne Zugang zu nano-
technologischem Know-how sowie der missbräuchlichen und unkontrollierten
Nutzung von Nanotechnologie.
Es gilt nun, den durch die Studie des Büros für Technikfolgen-Abschätzung
beim Deutschen Bundestag und das BMBF-Rahmenkonzept gegebenen Impuls
zu nutzen, um die weitere Entwicklung der Nanotechnologie für den mensch-
lichen Fortschritt mit Nachdruck voranzutreiben, Orientierungswissen über
mögliche gesellschaftliche, ökologische und ethische Konsequenzen dieser
Zukunftstechnologie zu generieren sowie der Notwendigkeit nanotechnologie-
spezifischer Regulierungen zur Risikominimierung gegebenenfalls Rechnung
zu tragen.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,
– den mit dem Rahmenkonzept „Nanotechnologie erobert Märkte“ eingelei-

teten Prozess, verstärkt Fördermittel für industriegeführte, vorwettbe-
werbliche Innovationsprojekte zur Verfügung zu stellen, die zu neuen oder
wesentlich verbesserten technischen Lösungen mit einem breiten gesell-
schaftlichen Nutzen oder einem bedeutenden Marktpotenzial führen und
zu deren Realisation die Nanotechnologie einen erkennbaren Beitrag leis-
tet, fortzusetzen. Entsprechende Projekte sollten die gesamte Wertschöp-
fungskette einbeziehen sowie ein inter- und multidisziplinäres Vorgehen
und eine enge Zusammenarbeit von Unternehmen, Hochschulen und
außeruniversitären FuE-Einrichtungen beinhalten. Ein besonderes Augen-
merk sollte auf die stärkere Vernetzung der gesamten Kette von der
Grundlagenforschung bis zur Produktentwicklung gelegt werden. So kann
der Durchbruch für marktfähige Produkte beschleunigt werden. Auf der
Basis exzellenter Grundlagenforschung sollen in sich entwickelnden
potenziellen Anwendungsbereichen weitere Leitinnovationen erarbeitet
werden, die auf Stärken der hiesigen Forschungslandschaft aufbauen,
gesellschaftliche Probleme angehen und umsetzbare Ziele ins Visier neh-
men. Ferner ist das Rahmenkonzept „Nanotechnologie erobert Märkte“
mit anderen Forschungsprogrammen zu vernetzen und insbesondere eng
mit den Schwerpunktfeldern Gesundheitsforschung, Energieforschung
und Umwelttechnologien abzustimmen;

– vorhandene wissenschaftliche Ressourcen mit dem Ziel zu bündeln, die
Verwertung von Grundlagenerkenntnissen zu verstärken und zu beschleu-
nigen. Im Rahmen der Verbundprojekte sollten die Möglichkeiten der
institutionellen Förderung mehr genutzt werden, indem die notwendigen
Grundlagenaspekte durch regelmäßige, gegenseitige Information mitein-
gebunden werden;

– durch die gezielte Förderung von Standardisierungs- und Normierungs-
prozessen die Verwertung nanotechnologischer Forschungsergebnisse zu
optimieren und die internationale Vergleichbarkeit von Produkteigen-
schaften zu verbessern;

– über die im Rahmenkonzept „Nanotechnologie erobert Märkte“ bereits
vorgesehenen Aktionen zur Stärkung des Mittelstandes hinaus eine inten-
sive Mitwirkung von kleinen und mittleren Unternehmen an Forschungs-
projekten der Nanotechnologie sicherzustellen, deren Zugang zu FuE-

Drucksache 15/3051 – 6 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

Ergebnissen weiter zu verbessern und deren Beteiligung an nationalen wie
europäischen Bildungs- und Forschungsprogrammen zu erhöhen;

– angesichts der Interdisziplinarität und raschen Weiterentwicklung der Na-
notechnologie mit den Ländern in eine Diskussion über bildungspolitische
Herausforderungen zu treten mit dem Ziel, exemplarische Konzepte für
die Vermittlung und Erlangung von nanotechnologischen Kompetenzen
auf allen Ebenen des Bildungssystems zu erarbeiten;

– im Rahmen der Arbeit der Kompetenzzentren Nanotechnologie verstärkt
Qualifizierungsmaßnahmen für Lehrer und Multiplikatoren durchzufüh-
ren und mit Veranstaltungen, Internetauftritten, Veröffentlichungen und
weiteren Initiativen gezielt Schülerinnen und Schüler für Naturwissen-
schaften im Allgemeinen und die Nanotechnologie im Besonderen zu
interessieren, um einem Mangel an qualifizierten Fachleuten auch auf
diesem Wege frühzeitig entgegenzuwirken;

– Anreize zu setzen, Forschungseinrichtungen aus Entwicklungsländern an
Forschungsprojekten zu beteiligen sowie über Forschungsergebnisse zu
informieren und dazu beizutragen, dass diese Länder an den Fortschritten
der Nanotechnologie teilhaben können;

– unter Berücksichtigung der Ergebnisse der Studie „Nanotechnologie und
Gesundheit“ die Forschungsanstrengungen über potenzielle Umwelt- und
Gesundheitswirkungen der Nanotechnologie erheblich zu verstärken. Zu
diesem Zwecke sollte eine systematische Analyse erfolgen über das Aus-
breitungsverhalten von Nanostrukturen in allenMedien, potenzielle Lang-
zeitfolgen für Umwelt und Gesundheit, die Wirkung von Nanopartikeln
[PM < 100 nm] in der Umwelt und auf biologische Systeme, die Pharma-
kokinetik von mit Nanopartikeln verabreichten Wirkstoffen sowie über
den sicheren Umgang mit Nanopartikeln. Darüber hinaus sind auch die
mit längerfristigen nanospezifischen Entwicklungspotenzialen insbeson-
dere der Selbstorganisation und Selbstreplikation verbundenen Umwelt-
und Gesundheitswirkungen zu berücksichtigen;

– die derzeitige frühe Phase der Nanotechnologie-Entwicklung als Zeit der
Weichenstellung in Richtung möglichst nachhaltiger Entwicklungspfade
zu nutzen und die Forschung zu den gesellschaftlichen und ethischen
Aspekten der Entwicklung und verbreiteten Anwendung der Nanotechno-
logie zu intensivieren. Hierzu gehören vor allem Fragen des Datenschut-
zes, insbesondere im medizinischen Bereich, des Umwelt- und Gesund-
heitsschutzes und des Schutzes der Privatsphäre. Und es geht auch um die
positive Erschließung von Nachhaltigkeitspotenzialen durch Innovations-
strategien für die Unterstützung nachhaltigerer Technologiepfade und
entsprechender Lead-Märkte. Für die ökologische, ethische, soziale,
friedenspolitische und verbraucher- und gesundheitsschutzorientierte Be-
gleitforschung sollten 5 Prozent der zur Verfügung stehenden Forschungs-
mittel für Nanotechnologie im Bundeshaushalt eingesetzt werden. Wir
erwarten, dass die Bundesregierung auch auf EU-Ebene bei der Entwick-
lung des 7. Forschungsrahmenprogramms auf eine ähnliche starke Beach-
tung der Begleitforschung drängt. Angesichts der grundsätzlichen Bedeu-
tung und der hohen Relevanz gesellschaftlicher und ethischer Aspekte bei
der Anwendung von Nanomaterialien und Nanotechnologien sollte die
nicht naturwissenschaftliche Forschung verstärkt eingebunden werden.
Dies gilt sowohl für die Leitinnovationen und entsprechende größere
Forschungsprojekte als auch für die generelle Begleitforschung. Ihre
Ergebnisse sollten regelmäßig veröffentlicht und öffentlich diskutiert
werden;

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 7 – Drucksache 15/3051

– die Informationsfunktion der Kompetenzzentren Nanotechnologie weiter
auszubauen und eine zentrale Informationsquelle für die breite Öffentlich-
keit zum Thema Nanotechnologie einzurichten. Insbesondere sollte die
kritische Auseinandersetzung mit futuristischen Heils- und Schreckens-
visionen, die die öffentliche Debatte zur Nanotechnologie bisher stark
geprägt haben, ein wichtiger Bestandteil der Öffentlichkeitsarbeit zur
Nanotechnologie sein;

– den gesellschaftlichen Diskurs zwischen Wissenschaft, Unternehmen und
der breiten Öffentlichkeit über Chancen, Perspektiven und Risiken der
Nanotechnologie zu intensivieren und durch eine breite Öffentlichkeitsbe-
teiligung Vorbehalte bereits frühzeitig einzubeziehen. Durch einen aktiven
Dialogprozess können verteiltes Wissen zusammengeführt und Leitbilder
entwickelt und gestaltet werden, nach denen eine nachhaltige und gesell-
schaftsverträgliche Nanotechnologie erforscht und entwickelt werden
kann;

– eine Diskussion über Rüstungskontrollfragen im Bereich der militärischen
Nutzung von Nanotechnologie zu initiieren und eine verstärkte internati-
onale Kooperation der verschiedenen Nanotechnologie-Initiativen unter
Einbeziehung rüstungskontrollpolitischer Aspekte zu prüfen. Von beson-
derer Relevanz sollte dabei die Frage sein, ob durch präventive Rüstungs-
kontrolle ein möglicher Missbrauch der Nanotechnologie verhindert wer-
den kann;

– die sachlichen Grundlagen für Entscheidungen über die Notwendigkeit
nanotechnologiespezifischer Regulierungen zu schaffen, um gegebenen-
falls erkennbar werdenden Veränderungsbedarf in bestehenden Normen,
Gesetzen und Verordnungen vor allem in den Bereichen Umweltschutz,
Verbraucherschutz, Datenschutz und Gesundheit rechtzeitig zu identifi-
zieren und gegebenenfalls Vorschläge dazu zu unterbreiten. Neben einer
wesentlich verbesserten Datenbasis zu den Auswirkungen nanotechnolo-
gischer Verfahren und Produkte auf Umwelt und menschliche Gesundheit
gehört hierzu eine systematische und umfassende Analyse des derzeitigen
für Anwendungen der Nanotechnologie relevanten Rechtsrahmens. Ins-
besondere bei der Anwendung von Produkten und Verfahren der Nano-
technologie am Menschen ist zu prüfen, ob die einschlägigen Rahmen-
bedingungen der biomedizinischen Gesetzgebung eine entsprechende
Anwendung finden könnten oder inwieweit der Rechtsrahmen in Bezug
auf Sicherheit und ethische Fragen gegebenenfalls weiterentwickelt wer-
den muss. Zum Veränderungsbedarf des bestehenden, für Anwendungen
der Nanotechnologie relevanten Rechtsrahmens soll bis September 2005
ein erster Bericht der Bundesregierung dem Deutschen Bundestag vorge-
legt werden;

– den weiteren Anwendungsprozess der Nanotechnologie durch ein syste-
matisches entscheidungsunterstützendes Monitoring-Programm zu be-
gleiten, in dessen Rahmen biomedizinische, ökologische, gesellschaft-
liche und wirtschaftliche Folgen kontinuierlich zu erheben und zu
evaluieren, Forschungsprojekte anzuregen, die gesellschaftliche Wahr-
nehmung der Nanotechnologie zu verfolgen und gegebenenfalls weitere
gesellschaftliche Diskursprozesse zu initiieren sowie Hinweise auf erfor-
derlich werdende Modifikationen des relevanten Rechtsrahmens zu geben
sind.

Berlin, den 5. Mai 2004
Franz Müntefering und Fraktion
Katrin Göring-Eckardt, Krista Sager und Fraktion

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