Bundessozialgericht, Beschluss vom 17.06.2020, Az. B 5 R 302/19 B

5. Senat | REWIS RS 2020, 2315

© Bundessozialgericht, Dirk Felmeden

WIEDEREINSETZUNG URTEILSBERICHTIGUNG RECHTSMITTEL FRISTBEGINN LEITSATZ

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Gegenstand

Sozialgerichtliches Verfahren - Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensmangel - Prozessurteil statt Sachurteil - Urteilsberichtigung - Rücksendung einer fehlerhaften Urteilsausfertigung zum Zwecke der Berichtigung - offensichtlicher Schreibfehler - Beginn der Rechtsmittelfrist bereits mit Zustellung der unberichtigten Fassung - Wiedereinsetzung in den vorigen Stand - Verschulden eines Bevollmächtigten - Rechtsauskunft des Gerichts - Zweifel - eigene Prüfung der Rechtslage


Leitsatz

Fordert das Gericht die Beteiligten zur Rücksendung einer Urteilsausfertigung zum Zwecke der Berichtigung auf und ist klar erkennbar, dass lediglich ein offensichtlicher Schreibfehler berichtigt werden soll, so beginnt die Rechtsmittelfrist bereits mit Zustellung der fehlerbehafteten Urteilsausfertigung (Anschluss an und Klarstellung zu BSG vom 28.1.2004 - B 6 KA 95/03 B = SozR 4-1500 § 151 Nr 1).

Tenor

Die Beschwerde der Beklagten gegen die Nichtzulassung der Revision im Beschluss des [X.] vom 3. Dezember 2019 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat der Klägerin auch deren außergerichtliche Kosten des Beschwerdeverfahrens zu erstatten.

Gründe

1

I. Die im Jahr 1959 geborene Klägerin begehrt Rente wegen Erwerbsminderung. Auf ihre Klage hat das [X.] die ablehnende Entscheidung der [X.] (Bescheid vom 15.2.2017, Widerspruchsbescheid vom 12.5.2017) aufgehoben und diese verurteilt, ausgehend von einem Leistungsfall am 30.1.2017 eine Rente wegen voller Erwerbsminderung "für die [X.] vom 01.08.2017 bis 31.07.2020" zu bewilligen; im Übrigen ist die Klage abgewiesen worden (Niederschrift über die mündliche Verhandlung vom 14.3.2019, an der eine Vertreterin der [X.] teilgenommen hat). Nach dem Tenor des schriftlich niedergelegten, der [X.] am [X.] zugestellten Urteils ist die Beklagte zur Bewilligung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung auf [X.] "für die [X.] vom 01.08.2017 bis 31.07.2010" verurteilt worden. In den Entscheidungsgründen ist jedoch ausgeführt, dass die Rente gemäß § 102 Abs 2 [X.]B VI befristet bis zum 31.7.2020 zu bewilligen sei. Mit Telefax vom [X.] hat die Beklagte das [X.] um umgehende Rücksendung der Verwaltungsakte gebeten, damit geprüft werden könne, ob Berufung gegen das Urteil einzulegen sei. Ebenfalls mit Schreiben vom [X.] hat die Klägerin beantragt, den [X.] wegen des offensichtlichen Schreibversehens zu berichtigen. Das [X.] hat der [X.] am [X.] einen Abdruck dieses Antrags übermittelt und um Rücksendung der übersandten [X.] zur Berichtigung des Urteils gebeten. Unter dem [X.] hat der Vorsitzende der Kammer des [X.] einen entsprechenden Berichtigungsbeschluss erlassen. Die demgemäß berichtigte [X.] ist der [X.] am 31.5.2019 zugestellt worden.

2

Die Beklagte hat mit Schreiben vom 28.6.2019, das per Telefax am selben Tag beim L[X.] eingegangen ist, Berufung gegen die Entscheidung des [X.] eingelegt. Das L[X.] hat nach Anhörung der [X.] die Berufung als unzulässig - weil verfristet - verworfen (Beschluss vom 3.12.2019). Eine Fallgestaltung, in der ausnahmsweise mit Zustellung des berichtigten Urteils eine neue Rechtsmittelfrist zu laufen beginne, habe hier nicht vorgelegen. Auch Wiedereinsetzung könne nicht gewährt werden, da die Beklagte nicht "ohne Verschulden" gehindert gewesen sei, die Berufungsfrist einzuhalten. Soweit sie vortrage, die Geschäftsstelle des [X.] habe auf ihre Nachfrage telefonisch mitgeteilt, dass die Berufungsfrist erst mit Zustellung des berichtigten Urteils beginne, exkulpiere sie das nicht.

3

Gegen die Nichtzulassung der Revision in diesem Beschluss richtet sich die Beschwerde der [X.], mit der sie ausschließlich Verfahrensmängel rügt.

4

II. [X.] ist zulässig, aber nicht begründet. Die von der [X.] geltend gemachten Mängel des Verfahrens iS des § 160 Abs 2 [X.] [X.]G liegen nicht vor.

5

1. Die Beklagte rügt zunächst, das L[X.] habe ihre Berufung zu Unrecht als verfristet angesehen und sich damit verfahrensfehlerhaft auf ein Prozessurteil beschränkt (zum Verfahrensmangel "Prozessurteil statt Sachurteil" vgl B[X.] Urteil vom 6.3.1975 - 7 [X.] - B[X.]E 39, 200, 201 = [X.] 1500 § 144 [X.] S 8; B[X.] Beschluss vom [X.] [X.]/15 B - juris RdNr 5; B[X.] Beschluss vom 19.10.2016 - [X.] [X.]/16 B - [X.] 4-1500 § 156 [X.] RdNr 4; B[X.] Beschluss vom 19.12.2019 - [X.] [X.] 9/19 B - juris RdNr 6, jeweils mwN). Die Behandlung der Berufung der [X.] als verfristet begründet jedoch keinen Verfahrensmangel. Vielmehr hat das L[X.] zutreffend entschieden, dass die erst am 28.6.2019 eingegangene Berufungsschrift die Monatsfrist des § 151 Abs 1 [X.]G nicht gewahrt hat. Diese Frist hat am Tag nach Zustellung des [X.]-Urteils in ursprünglicher - noch nicht berichtigter - Fassung zu laufen begonnen und ist somit am Montag, dem [X.] um 24.00 Uhr abgelaufen (§ 64 Abs 2 Satz 1 iVm Abs 3 [X.]G).

6

a) Für ihre abweichende Ansicht, die Berufungsfrist habe erst mit Zustellung der berichtigten [X.] am 31.5.2019 zu laufen begonnen, beruft sich die Beklagte auf eine Kommentarstelle ("vgl. [X.]/Fichte [X.]G-Kommentar § 151 Rdnr. 12") sowie auf den "Leitsatz" zum Beschluss des B[X.] vom 28.1.2004 ([X.] [X.]/03 B - [X.] 4-1500 § 151 [X.]). Der Beschluss selbst, auf den es allein ankommt, vermag ihre Rechtsauffassung jedoch nicht zu stützen.

7

Das L[X.] hat jenen Beschluss des B[X.], dem ein Fall zugrunde lag, in dem das [X.]-Urteil Fehler im Aktenzeichen und in der Bezeichnung des [X.] aufwies, vielmehr zutreffend mit der Aussage zitiert, eine durchgeführte Urteilsberichtigung ändere regelmäßig "an dem Beginn der durch die Zustellung der unberichtigten Fassung in Lauf gesetzten Rechtsmittelfrist nichts" (B[X.] Beschuss vom 28.1.2004 - aaO RdNr 8). Abweichend von diesem Grundsatz beginne mit der Zustellung des [X.] bzw der erneuten Zustellung des berichtigten Urteils jedoch eine neue Rechtsmittelfrist, [X.]n die unberichtigte [X.] nicht klar genug gewesen sei, um die Grundlage für die Entschließung und das weitere Handeln der Beteiligten zu bilden, oder [X.]n erst die berichtigte [X.] erkennen lasse, gegen [X.] das Rechtsmittel zu richten sei. Diese Ausnahme ist in der Rechtsprechung aller obersten Gerichtshöfe des Bundes anerkannt (vgl [X.] Urteil vom [X.] - [X.] - [X.], 281 RdNr 20; [X.] Beschluss vom 21.4.2020 - 4 StR 67/20 - juris Rd[X.]; [X.] Beschluss vom [X.] - 6 [X.]/09 - NVwZ 2010, 962 RdNr 4; [X.] Urteil vom 27.7.2004 - IX R 44/01 - [X.]/NV 2005, 188 Rd[X.]2; [X.] Beschluss vom 10.3.2009 - [X.]/09 - juris RdNr 6; zu älteren Entscheidungen s [X.], [X.], 2. Aufl 2010, Rd[X.]67 [X.]). Der 6. Senat des B[X.] hat sie unter Hinweis auf eine Entscheidung des [X.] (Beschluss vom [X.]/91 - DVBl 1992, 775 = juris Rd[X.]: in jenem Fall wurde den Beteiligten lediglich mitgeteilt, dass "einige - weder nach Inhalt noch Umfang bezeichnete - Passagen der Ausfertigung nicht mit dem Originalurteil übereinstimmten") auf den von ihm zu entscheidenden Fall übertragen, in dem das [X.] die Unrichtigkeit bemerkt und von den Beteiligten die [X.]en lediglich "zum Zwecke der Berichtigung" zurückgefordert hatte. Als entscheidenden Grund hierfür hat das B[X.] angeführt, dass für die Beteiligten in dieser Situation ebenfalls nicht erkennbar gewesen sei, wie wesentlich die Berichtigungen sein würden (B[X.] Beschluss vom [X.] [X.]/03 B - [X.] 4-1500 § 151 [X.] RdNr 8). Es habe sich nicht lediglich um Schreib- oder Rechenfehler oder ähnliche offenbare Unrichtigkeiten iS des § 138 [X.]G gehandelt, "die für jeden Beteiligten offensichtlich und deren Korrektur eine reine Förmlichkeit ist" (B[X.] aaO RdNr 9).

8

Der nachträglich im Rahmen der Entscheidungsveröffentlichung formulierte Leitsatz zum Beschluss des 6. Senats vom 28.1.2014 lautet wie folgt: "Wenn das Gericht die Beteiligten während des ersten Monats nach Zustellung einer fehlerhaften [X.] auffordert, die übersandten Ausfertigungen zum Zwecke der Berichtigung zurückzusenden, beginnt die Rechtsmittelfrist erst mit Zustellung des berichtigten Urteils zu laufen". Aus dem Beschluss selbst geht aber - wie soeben dargestellt - deutlich hervor, dass in jenem Fall die Aufforderung zur Rücksendung der [X.]en durch das Gericht ohne klaren Hinweis auf den Gegenstand der beabsichtigten Berichtigung erfolgt war und gerade hierdurch bei den Beteiligten die vom 6. Senat für entscheidend angesehene Ungewissheit entstanden war, was genau berichtigt werden sollte. Die Beklagte beruft sich hier ausschließlich auf den Leitsatz und nicht auf die Aussagen in dem Beschluss (zu dessen vollständiger Wiedergabe vgl [X.] in [X.]/[X.]/[X.]/[X.], [X.]G, 12. Aufl 2017, § 138 RdNr 4c; differenziert auch [X.] in [X.]/Fichte, [X.]G, 2. Aufl 2014, § 138 Rd[X.]7). Der maßgebliche Inhalt einer Entscheidung ergibt sich indes stets aus ihren Gründen und nicht aus dem Leitsatz, der die wesentlichen Aussagen not[X.]digerweise verkürzt wiedergibt (vgl B[X.] Beschluss vom 17.2.2016 - [X.] [X.]/15 B - juris RdNr 6; zur rechtsähnlichen Frage des Verhältnisses zwischen Terminbericht und Entscheidung s B[X.] Beschluss vom 29.10.2015 - [X.] KR 11/15 [X.] - [X.] 4-1500 § 178a [X.]2 RdNr 4).

9

b) Das L[X.] hat zutreffend erkannt, dass eine mit dem vom 6. Senat des B[X.] entschiedenen Fall vergleichbare Situation, die eine Ausnahme vom Grundsatz des Fristbeginns bereits mit Zustellung der fehlerhaften [X.] rechtfertigen würde (s dazu auch [X.] Beschluss vom 8.9.2005 - 2 BvR 824/05 - juris Rd[X.]), hier nicht bestand. Die Unrichtigkeit des [X.]-Urteils betraf hier einen für alle Beteiligten auf den ersten Blick erkennbaren Schreibfehler im Tenor, der von dem in Anwesenheit einer Vertreterin der [X.] mündlich verkündeten Tenor offenkundig abwich, wie sich aus dem Sitzungsprotokoll und auch aus den Ausführungen auf Seite 10 der Entscheidungsgründe klar ergab. Hierauf hatte die Prozessbevollmächtigte der Klägerin im Schreiben vom [X.] präzise hingewiesen. Wenn das [X.] unter Übersendung dieses Schreibens sowie darauf Bezug nehmend die [X.]en zur Berichtigung zurückforderte, musste der [X.] der Gegenstand der beabsichtigten Berichtigung klar sein. Dementsprechend sah die Beklagte in ihrem Übersendungsschreiben vom [X.] keine Veranlassung, sich nach der Reichweite der anstehenden Berichtigung zu erkundigen, um ggf dazu Stellung nehmen zu können. Auch ihre Aktenanforderung vom [X.] belegt, dass die Beklagte auf der Grundlage des ursprünglich zugestellten - fehlerbehafteten - Urteils ohne weitere Nachfragen in der Lage war, die Frage der Einlegung eines Rechtsmittels zu prüfen. Weshalb allein die - stets erforderliche - Rückforderung der bereits zugestellten Ausfertigungen durch das Gericht die reale Möglichkeit hat eröffnen können, dass über die im Schreiben der Klägerin vom [X.] benannte Korrektur hinaus noch weitere Berichtigungen durchgeführt würden, ist nicht ersichtlich (zur Not[X.]digkeit einer Anhörung der Beteiligten vor jeder über bloße Formalien hinausgehenden Berichtigung s [X.] in [X.]/[X.]/[X.]/[X.], [X.]G, 12. Aufl 2017, § 138 RdNr 4). Es ist auch nicht erkennbar, inwiefern der von der [X.] in diesem Zusammenhang gerügte [X.]ablauf von der Rückforderung der fehlerhaften bis zur Zustellung der berichtigten [X.] ihre Vorstellung vom Umfang der angekündigten Berichtigung beeinflusst haben könnte.

2. Ob der weiterhin gerügte Verfahrensfehler einer zu Unrecht versagten Wiedereinsetzung von der [X.] in jeder Hinsicht ordnungsgemäß bezeichnet worden ist (§ 160a Abs 2 Satz 3 [X.]G), kann offenbleiben. Jedenfalls liegt dieser Fehler hier nicht vor; die Entscheidung des L[X.] zur Ablehnung einer Wiedereinsetzung ist nicht zu beanstanden.

a) Nach § 67 Abs 1 [X.]G ist einem Beteiligten auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, [X.]n er ohne Verschulden verhindert war, eine gesetzliche Verfahrensfrist einzuhalten. Nach stRspr des B[X.] liegt ein Verschulden grundsätzlich vor, [X.]n die von einem gewissenhaften Prozessführenden im prozessualen Verkehr erforderliche Sorgfalt außer [X.] gelassen worden ist (zB B[X.] Urteil vom [X.] - B 5 RJ 10/01 R - [X.] 3-1500 § 67 [X.]; B[X.] Beschluss vom 28.6.2018 - B 1 KR 59/17 B - [X.] 4-1500 § 67 [X.]5 RdNr 7; B[X.] Beschluss vom 27.2.2020 - [X.] [X.] 65/19 B - juris RdNr 6). Unter Berücksichtigung des Prozessgrundrechts auf ein faires Verfahren, das im Rechtsstaatsprinzip und den Freiheitsrechten iVm Art 1 Abs 1 GG wurzelt ([X.] Beschluss vom 7.12.2011 - 2 BvR 2500/09 ua - [X.]E 130, 1, 25; [X.] Beschluss vom [X.] - 2 BvR 900/19 - juris Rd[X.]9), darf ein Gericht aus eigenen oder ihm zuzurechnenden Fehlern für einen Beteiligten keine Verfahrensnachteile ableiten ([X.] Beschluss vom 20.6.1995 - 1 BvR 166/93 - [X.]E 93, 99, 115; [X.] Beschluss vom 18.7.2013 - 1 BvR 1623/11 - NJW 2014, 205 RdNr 20). Zudem ist es zur Rücksichtnahme gegenüber den Verfahrensbeteiligten in ihrer konkreten Situation verpflichtet. Dementsprechend ist Wiedereinsetzung zu gewähren, [X.]n die Fristversäumnis auch auf Fehlern beruht, die im Verantwortungsbereich des Gerichts bei Wahrnehmung seiner Fürsorgepflicht liegen (B[X.] Urteil vom [X.] - B 5 RJ 10/01 R - [X.] 3-1500 § 67 [X.]; B[X.] Beschluss vom 31.10.2012 - [X.] R 165/12 B - [X.] 4-1500 § 67 [X.]1 Rd[X.]5; B[X.] Beschluss vom 27.2.2020 - [X.] [X.] 65/19 B - juris RdNr 6).

b) Nach diesen Maßstäben ist die Ablehnung einer Wiedereinsetzung durch das Berufungsgericht zu Recht erfolgt.

aa) Die Beklagte trägt insoweit vor, ihr Fristversäumnis beruhe auch auf einem Fehler des Gerichts. Das Urteil des [X.] sei "offensichtlich" bereits mit Beschluss vom [X.] berichtigt worden; dann hätte es aber "noch innerhalb der ersten Rechtsmittelfrist" an die Beklagte zurückgesandt werden können. Zudem habe sich das [X.] widersprüchlich verhalten, weil es das gesamte Urteil zurückgefordert habe und nicht lediglich die Seiten mit Rubrum und Tenor. Jedenfalls widerspreche es einer fairen Verfahrensführung, [X.]n ein am 9.4.2019 zurückgefordertes und von ihr am [X.] zurückgesandtes Urteil erst am 31.5.2019 in berichtigter Form erneut zugestellt werde.

Ein tragfähiger Grund für eine Wiedereinsetzung ergibt sich daraus jedoch nicht. Es trifft nicht zu, dass die Versäumung der Berufungsfrist durch die Beklagte hier auch auf einem Fehler des Gerichts beruhte. Das Versehen des [X.] bestand darin, das schriftliche Urteil im Tenor mit einem Schreibfehler auszufertigen, dessen Fehlerhaftigkeit für jedermann offenkundig war, wobei sich die richtige Schreibweise aus den Entscheidungsgründen ebenso wie aus der Niederschrift über die mündliche Verhandlung zuverlässig ergab. Unter diesen Umständen ist ausgeschlossen, dass das Versehen des [X.] die Fristversäumnis hervorgerufen oder befördert haben könnte. Dem [X.] ist auch kein widersprüchliches Verhalten vorzuwerfen, weil es die gesamte Ausfertigung und nicht lediglich die ersten Seiten zurückgefordert hat. Vom Gericht zu vertretende Fehlvorstellungen über die mögliche Reichweite der anstehenden Berichtigung konnten dadurch nicht bewirkt werden. Weder ein widersprüchliches Verhalten noch eine sonstige Pflichtverletzung liegt auch darin, dass das [X.] die Berichtigung und die Zustellung des berichtigten Urteils erst nach Ablauf der Rechtsmittelfrist - mit Beschluss vom [X.] - vorgenommen hat.

bb) Auch soweit die Beklagte - allerdings nicht im Kontext der Wiedereinsetzung - erwähnt, sie habe bei einem Telefonat von der Geschäftsstelle des [X.] die Auskunft erhalten, dass die Zustellung des berichtigten Urteils eine neue Frist in Lauf setze, rechtfertigt das keine Wiedereinsetzung. Selbst [X.]n dies zuträfe - also eine fehlerhafte Auskunft der Geschäftsstelle tatsächlich festzustellen wäre -, hätte sich die Beklagte auf eine solche Rechtsauskunft nicht ohne Weiteres verlassen dürfen (vgl [X.] Beschluss vom 4.5.2004 - 1 BvR 1892/03 - [X.]E 110, 339, 344 und Sondervotum 346, 347). Die verfassungsrechtliche Gewährleistung eines fairen Verfahrens hat nicht zur Folge, dass ein Rechtsanwalt jede gerichtliche Äußerung ungeprüft befolgen dürfte; entsprechendes gilt auch für die zur Vertretung einer Behörde Befugten (vgl § 73 Abs 2 Satz 2 [X.] [X.]G). Vielmehr muss ein Betroffener, [X.]n eine gerichtliche Äußerung zu Zweifeln Anlass gibt, diesen Zweifeln nachgehen und sich ein eigenes Bild von der Rechtslage machen (vgl dazu auch [X.] in [X.]/[X.]/[X.]/[X.], [X.]G, 12. Aufl 2017, § 67 RdNr 8a "Rechtsirrtum"). Der Blick in einen Kommentar zum hier einschlägigen § 138 [X.]G hätte ergeben, dass die Rückforderung der [X.] zum Zwecke der Berichtigung durch das Gericht keine neue Rechtsmittelfrist eröffnet, sofern - wie hier - erkennbar ist, was berichtigt werden soll (zum Verständnis des Beschlusses des B[X.] vom [X.] [X.]/03 B - in diesem Sinne vgl [X.] in [X.]/[X.]/[X.]/[X.], aaO, § 138 RdNr 4c; [X.] in [X.]/Fichte, [X.]G, 2. Aufl 2014, § 138 Rd[X.]7). Soweit die Aussagen dieser Kommentare an anderer Stelle pauschaler ausfallen (vgl [X.] in [X.]/[X.]/[X.]/[X.], aaO, § 151 RdNr 7; [X.] [X.]/Fichte, [X.]G, 2. Aufl 2014, § 151 Rd[X.]2), hätte das jedenfalls Anlass geben müssen, den Beschluss des B[X.] vom 28.1.2004 selbst zu lesen und/oder um einen schriftlichen Hinweis des Gerichts zu bitten (s auch [X.] Beschluss vom [X.] - [X.] 164/97 - juris RdNr 8). Da die Beklagte nichts dergleichen unternommen hat, kann auch bei (unterstellt) fehlerhafter Auskunft der Geschäftsstelle des [X.] von einem fehlenden Verschulden der [X.] iS des § 67 [X.]G nicht ausgegangen werden.

3. Soweit die Beklagte rügt, durch die Nichtgewährung der Wiedereinsetzung sei zugleich ihr Anspruch auf rechtliches Gehör (§ 62 [X.]G, Art 103 Abs 1 GG) verletzt worden, da sie sich nicht mehr mit den materiellen Aspekten des Falles habe auseinandersetzen können, hat sie einen eigenständigen Verfahrensmangel nicht schlüssig bezeichnet (§ 160a Abs 2 Satz 3 [X.]G). Es ist schon nicht nachvollziehbar, inwiefern die Entscheidung des L[X.] im Beschluss vom 3.12.2019 eine Auseinandersetzung der [X.] mit dem von ihr angeführten L[X.]-Urteil vom 19.3.2018 (L 2 R 239/16) hat verhindern können (s dazu auch die Ausführungen in der Berufungsbegründung vom [X.]). Im Übrigen schützt das Verfahrensgrundrecht des rechtlichen Gehörs nicht davor, dass das Vorbringen eines Beteiligten aus Gründen des formellen oder materiellen Rechts unberücksichtigt bleibt (stRspr, vgl [X.] Urteil vom 8.7.1997 - 1 BvR 1621/94 - [X.]E 96, 205, 216 = juris RdNr 43; [X.] Beschluss vom 31.3.2020 - 1 BvR 2392/19 - juris Rd[X.]7).

Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (vgl § 160a Abs 4 Satz 2 Halbsatz 2 [X.]G).

4. [X.] beruht auf einer entsprechenden An[X.]dung des § 193 [X.]G.

Meta

B 5 R 302/19 B

17.06.2020

Bundessozialgericht 5. Senat

Beschluss

Sachgebiet: R

vorgehend SG Mainz, 14. März 2019, Az: S 15 R 256/17, Urteil

§ 138 SGG, § 67 Abs 1 SGG, § 73 Abs 2 S 2 Nr 1 SGG, § 151 Abs 1 SGG, § 160 Abs 2 Nr 3 SGG, § 160a SGG

Zitier­vorschlag: Bundessozialgericht, Beschluss vom 17.06.2020, Az. B 5 R 302/19 B (REWIS RS 2020, 2315)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2020, 2315

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