Bundessozialgericht, Beschluss vom 23.06.2015, Az. B 1 KR 18/15 B

1. Senat | REWIS RS 2015, 9331

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Gegenstand

Sozialgerichtliches Verfahren - Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensmangel - Auslegung von Prozesserklärungen


Tenor

Auf die Beschwerde des [X.] wird das Urteil des [X.] vom 22. Januar 2015 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das [X.] zurückverwiesen.

Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 5000 Euro festgesetzt.

Gründe

1

I. Der Kläger ist Alleinerbe der am 2.11.2013 verstorbenen, bei der beklagten Krankenkasse versichert gewesenen J. (Versicherte). Die Versicherte blieb mit ihrem Begehren auf eine Haushaltshilfe im Zeitraum vom 1.11.2009 bis 30.10.2010 bei der Beklagten ohne Erfolg. Hiergegen hat sie "Klage mit Einleitung des [X.]ahren hilfsweise eAO (aufschiebend bedingt, wenn die Beklagte das [X.]. ablehnt)" erhoben. Die Klage ist unter dem [X.] - [X.] [X.] 114/10 -, das Eilverfahren unter dem [X.] - [X.] [X.] 139/10 ER - geführt worden. Die Versicherte hat unter dem [X.] - [X.] [X.] 139/10 ER - mitgeteilt: "Hiermit ziehe ich die Klage-eAO zurück" ([X.]). Nachdem der Schwiegersohn der Versicherten erklärt hatte, dass sich die Rücknahme nur auf das Eilverfahren bezogen habe, hat das [X.] festgestellt, dass der Rechtsstreit durch Klagerücknahme erledigt sei (Gerichtsbescheid vom [X.]). Das L[X.] hat die nach dem Ableben der Versicherten vom Kläger als deren Alleinerbe fortgeführte Berufung zurückgewiesen und zur Begründung ua ausgeführt, die Formulierung "Hiermit ziehe ich die Klage-eAO zurück" könne nach den Umständen nur bedeuten, dass sie beide Verfahren beenden wolle (Urteil vom 22.1.2015).

2

Der Kläger wendet sich mit seiner Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im L[X.]-Urteil. Er macht sinngemäß geltend, das [X.] und das ihm folgende L[X.] hätten im [X.] eine Sachentscheidung treffen müssen.

3

II. Die zulässige Beschwerde des Klägers ist begründet.

4

1. Das L[X.]-Urteil beruht auf einem Verfahrensfehler (Revisionszulassungsgrund des § 160 Abs 2 [X.] [X.]G), den der Kläger entsprechend den Anforderungen des § 160a Abs 2 S 3 [X.]G bezeichnet. Zu Recht rügt der Kläger, das [X.] hätte in der Sache entscheiden müssen. Die Versicherte hat mit dem Schreiben vom [X.] ihre Klage nicht zurückgenommen. Bei [X.] hat das Revisionsgericht - anders als bei materiell-rechtlichen Erklärungen (vgl zu Letzteren zB B[X.]E 75, 92, 96 = [X.]-4100 § 141b [X.] mwN) - die Auslegung der Erklärung in vollem Umfang zu überprüfen, also das wirklich Gewollte, das in der Äußerung erkennbar ist, zu ermitteln (B[X.] [X.] 4-1500 § 158 [X.]; B[X.] Urteil vom [X.] - B 11 AL 23/02 R; B[X.] Urteil vom 29.5.1980 - 9 RV 8/80 - Juris; B[X.]E 21, 13, 14 = [X.] zu § 156 [X.]G; [X.], [X.], 2. Aufl 2010, [X.]). Dabei ist nach dem in § 133 BGB zum Ausdruck gekommenen allgemeinen Rechtsgedanken, der auch im öffentlichen Recht und im Prozessrecht gilt, bei der Auslegung von Erklärungen nicht am Wortlaut zu haften, sondern der wirkliche Wille des Erklärenden zu erforschen (B[X.] [X.] 4-1500 § 158 [X.]; B[X.] Urteil vom [X.] - B 11 AL 23/02 R - Juris). Bei der Auslegung sind zudem das Willkürverbot gemäß Art 3 Abs 1 GG, das Gebot effektiven Rechtsschutzes gemäß Art 19 Abs 4 GG und das Rechtsstaatsprinzip zu beachten. Das Rechtsstaatsprinzip verbietet es dem [X.], das Verfahrensrecht so auszulegen und anzuwenden, dass den Beteiligten der Zugang zu den in den Verfahrensordnungen eingeräumten [X.] und Rechtsmittelinstanzen in unzumutbarer, aus [X.] nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert wird (vgl [X.] 77, 275, 284 mwN). Objektiv willkürlich ist es daher zB, im Widerspruch zu diesen verfassungsrechtlichen Grundgedanken dem Sachvortrag eines Beteiligten in einem Rechtsbehelfsverfahren entgegen Wortlaut und erkennbarem Sinn eine Bedeutung beizulegen, die zur Feststellung führt, dass der Rechtsstreit durch Klagerücknahme erledigt ist, während bei sachdienlicher Auslegung ohne Weiteres eine Sachentscheidung möglich wäre (vgl [X.] Beschluss vom 6.8.1992 - 2 BvR 89/92 - NJW 1993, 1380, 1381). Eine angemessene Auslegung dient zugleich der Garantie wirkungsvollen Rechtsschutzes (vgl dazu [X.] 107, 395, 401 ff = [X.] 4-1100 Art 103 [X.] Rd[X.] 5 ff; [X.] 110, 77, 85; zur Auswirkung des verfassungsrechtlichen Auftrags der Gerichte zur Gewährung effektiven und möglichst lückenlosen Rechtsschutzes gegen Akte der öffentlichen Gewalt auf die Auslegung von [X.] vgl auch B[X.] [X.] 4-1500 § 92 [X.] Rd[X.]6; zur Auslegung vgl auch Senat [X.] 4-1500 § 158 [X.] Rd[X.]4 mwN).

5

Danach hätte das [X.] das Schreiben der Versicherten vom [X.] nur so verstehen können, dass diese damit allein den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zurücknehmen wollte. Die Erklärung vom [X.] wurde direkt auf der Eingangsbestätigung des [X.] im Eilverfahren ([X.] [X.] 139/10 ER) vom [X.] vermerkt und per Fax an das [X.] gesandt. Das [X.] durfte schon angesichts der Rechtsfolgen einer Prozesserklärung die Erklärung ohne den Willen des Erklärenden nicht (gleichzeitig) einem anderen als dem bezeichneten Verfahren zuordnen. [X.] formal hat die Versicherte im Verfahren - [X.] [X.] 114/10 - keine Prozesserklärung abgegeben. Hieran ändert auch der Wortlaut der Erklärung nichts. Er bezieht nicht eindeutig zusätzlich zum Eilverfahren auch noch das Klageverfahren ein. [X.] ist die Rücknahme auf ein Verfahren gerichtet, "die Klage-eAO". Die Klägerin benennt im Kontext auch nicht das [X.] des Klageverfahrens - [X.] [X.] 114/10 -. Sie verbindet die Worte Klage und eAO durch einen Bindestrich, weil sie - wie sie später selbst angibt ("Klage im einstweiligen Rechtsschutzverfahren") - auch das Eilverfahren als Klage verstanden hat.

6

Der in der Entscheidung des [X.] liegende Verfahrensfehler hat sich in der angefochtenen Entscheidung des L[X.] fortgesetzt, da auch das L[X.] nicht zur Sache entschieden, sondern lediglich das Prozessurteil des [X.] bestätigt hat (vgl insoweit B[X.] [X.]-1500 § 73 [X.]; B[X.]E 4, 200, 201; vgl auch BVerwG Beschluss vom 16.11.1982 - 9 B 3232.82 - [X.] 310 § 132 VwGO [X.]16).

7

Die Entscheidung des L[X.] beruht auch auf diesem Verfahrensfehler. Wäre das L[X.] nämlich nicht von einer wirksamen Klagerücknahme ausgegangen, so hätte es den Rechtsstreit zurückverweisen oder aber in der Sache selbst entscheiden müssen (vgl dazu [X.] in [X.]/[X.]/[X.], [X.]G, 11. Aufl 2014, § 102 Rd[X.]2).

8

2. Nach § 160a Abs 5 [X.]G kann das B[X.] in dem Beschluss über die Nichtzulassungsbeschwerde das angefochtene Urteil aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das L[X.] zurückverweisen, wenn die Voraussetzungen des § 160 Abs 2 [X.] [X.]G vorliegen, was - wie ausgeführt - hier der Fall ist. Der Senat macht von dieser Möglichkeit Gebrauch.

9

3. Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens bleibt dem L[X.] vorbehalten. Die Entscheidung über den Streitwert beruht auf § 197a Abs 1 S 1 Halbs 1 [X.]G iVm § 63 Abs 2 S 1, § 52 Abs 2, § 47 Abs 1 und 3 GKG.

Meta

B 1 KR 18/15 B

23.06.2015

Bundessozialgericht 1. Senat

Beschluss

Sachgebiet: KR

vorgehend SG Leipzig, 6. März 2013, Az: S 8 KR 341/10, Gerichtsbescheid

§ 158 SGG, § 160 Abs 2 Nr 3 SGG, § 160a Abs 5 SGG, § 133 BGB, Art 3 Abs 1 GG, Art 19 Abs 4 GG, Art 20 Abs 3 GG

Zitier­vorschlag: Bundessozialgericht, Beschluss vom 23.06.2015, Az. B 1 KR 18/15 B (REWIS RS 2015, 9331)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2015, 9331

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