Bundesgerichtshof, Beschluss vom 15.12.2020, Az. XIII ZB 123/19

13. Zivilsenat | REWIS RS 2020, 1246

© REWIS UG (haftungsbeschränkt)

STRAFRECHT BUNDESGERICHTSHOF (BGH) RECHTSSTAAT ANWALTSBERUF ABSCHIEBUNG STRAFVERFAHREN VERFAHRENSGRUNDSÄTZE VERFAHREN RECHTSSCHUTZ

Tags hinzufügen

Sie können dem Inhalt selbst Schlagworten zuordnen. Geben Sie hierfür jeweils ein Schlagwort ein und drücken danach auf sichern, bevor Sie ggf. ein neues Schlagwort eingeben.

Beispiele: "Befangenheit", "Revision", "Ablehnung eines Richters"

QR-Code

Gegenstand

Abschiebungshaftverfahren: Pflichten des Haftrichters bei nicht eindeutiger Erklärung des Betroffenen zur Hinzuziehung eines anwaltlichen Beistands


Leitsatz

Erklärt der Betroffene bei der Anhörung, sich ohne Anwalt nicht oder nicht weiter äußern zu wollen, darf der Haftrichter eine Freiheitsentziehung nicht anordnen, ohne zu klären, ob der Betroffene damit - unabhängig von den Voraussetzungen einer Beiordnung im Wege der Verfahrenskostenhilfe - sein Recht auf Hinzuziehung anwaltlichen Beistands geltend machen will. Er muss deshalb den Betroffenen fragen, ob ein Anwalt kontaktiert werden soll, oder ihm hierzu Gelegenheit geben. Unterbleibt eine solche Klärung des Willens des Betroffenen, ist zu vermuten, dass dem Betroffenen der Zugang zu einem Anwalt verwehrt wurde.

Tenor

Auf die Rechtsbeschwerde wird festgestellt, dass der Beschluss des [X.] vom 2. Juli 2019 und der Beschluss der 4. Zivilkammer des [X.] vom 9. August 2019 die Betroffene in ihren Rechten verletzt haben.

Gerichtskosten werden in allen Instanzen nicht erhoben. Die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Auslagen der Betroffenen in allen Instanzen werden dem [X.] auferlegt.

Der Gegenstandswert des [X.] beträgt 5.000 €.

Gründe

1

I. Die Betroffene, eine [X.] Staatsangehörige, reiste am 4. Januar 2019 nach [X.] und stellte einen Asylantrag. Diesen lehnte das [X.] mit bestandskräftigem Bescheid vom 27. Februar 2019 als unzulässig ab und ordnete die Abschiebung der Betroffenen in die [X.] an, da sie dort bereits einen Asylantrag gestellt hatte. Eine für den 2. Juli 2019 geplante Überstellung scheiterte am Widerstand der Betroffenen.

2

Mit Beschluss vom 2. Juli 2019 hat das Amtsgericht auf Antrag der beteiligten Behörde Haft zur Sicherung der Überstellung der Betroffenen in die [X.] bis zum 13. August 2019 angeordnet. Die für den 8. August 2019 geplante Überstellung konnte nicht durchgeführt werden, da die [X.] an diesem Tag keine Überstellungen zuließ.

3

Die gegen den Beschluss des Amtsgerichts erhobene Beschwerde hat das [X.] zurückgewiesen. Mit der Rechtsbeschwerde beantragt die Betroffene festzustellen, dass sie durch die Beschlüsse des Amts- und [X.]s in ihren Rechten verletzt worden ist.

4

II. Das zulässige Rechtsmittel hat auch in der Sache Erfolg.

5

1. Das Beschwerdegericht ist der Ansicht, das Amtsgericht habe zu Recht Abschiebungshaft bis 13. August 2019 angeordnet. Der Haftantrag sei zulässig. Selbst wenn man die Aussage der Betroffenen bei ihrer Anhörung beim Amtsgericht, sie sage ohne Anwalt nichts mehr, als Frage nach einem Anwalt auslege, führe dies nicht zur Rechtswidrigkeit der Haftanordnung, da Verfahrenskostenhilfe im Zeitpunkt der Antragstellung nicht zu bewilligen gewesen wäre. Die Rechtsverteidigung der Betroffenen habe keine Aussicht auf Erfolg geboten. Es lasse sich zudem nicht feststellen, dass die Betroffene in der Lage gewesen wäre, einen Wahlanwalt zu finden, der bereit gewesen wäre, an der Anhörung teilzunehmen.

6

2. Die Verfahrensweise des Amtsgerichts hat die Betroffene in ihrem Recht auf ein faires Verfahren verletzt.

7

a) Die Betroffene erklärte bei der Anhörung am 2. Juli 2019, sie sage ohne Anwalt nichts mehr und gebe auch ihre Personalien nicht an. Weder aus der Gerichtsakte noch aus der Ausländerakte ist ersichtlich, dass die Betroffene vor der Einlegung der Beschwerde durch einen Rechtsanwalt vertreten worden war. Eine Nachfrage des Amtsgerichts bei der Betroffenen, ob ein Anwalt und gegebenenfalls welcher zur Anhörung hinzugezogen werden solle, ist nicht protokolliert.

8

b) Der Grundsatz des fairen Verfahrens garantiert jedem Betroffenen das Recht, sich in einem Freiheitsentziehungsverfahren von einem Bevollmächtigten seiner Wahl vertreten zu lassen und diesen zu der Anhörung hinzuzuziehen (vgl. [X.], Beschlüsse vom 10. Juli 2014 - [X.], [X.] 2014, 442 Rn. 8, und vom 12. November 2019 - [X.]/19, juris Rn. 7). Dieses Recht hat das Amtsgericht durch seine Verfahrensgestaltung verletzt.

9

aa) Es ist allerdings weder der Äußerung der Betroffenen bei ihrer Anhörung noch der Rechtsbeschwerde zu entnehmen, dass die Betroffene zum Zeitpunkt ihrer Anhörung bereits einen Rechtsanwalt hatte, dessen Teilnahme an der Anhörung sie wünschte. Es liegt also nicht der Fall vor, bei dem das Gericht weiß, dass der Betroffene einen Rechtsanwalt hat, und deshalb dafür Sorge tragen muss, dass dieser von dem Termin in Kenntnis gesetzt und ihm die Teilnahme an der Anhörung ermöglicht wird (vgl. [X.], Beschlüsse vom 25. Oktober 2018 - [X.], [X.] 2019, 152 Rn. 5, und vom 7. April 2020 - [X.]/19, juris Rn. 9 f.).

bb) Gleichwohl hat das Amtsgericht durch die Übergehung der Äußerung der Betroffenen deren Recht auf ein faires Verfahren verletzt.

(1) [X.] war nicht eindeutig. Die Äußerung, dass sie ohne Anwalt nichts sage, durfte nicht ohne weitere Klärung ihres Willens (lediglich) als [X.] verstanden werden. Denn der Erklärung war nicht zu entnehmen, worauf auch die Rechtsbeschwerde hinweist, dass die Betroffene auf ihr Recht, einen Anwalt zur Anhörung hinzuzuziehen, zu verzichten bereit war, wenn ihr keine Verfahrenskostenhilfe gewährt werde (vgl. [X.], Beschluss vom 20. Mai 2016 - [X.]/15, [X.] 2016, 381 Rn. 7).

(2) Der Haftrichter hätte die Betroffene daher fragen müssen, ob ein Anwalt kontaktiert werden solle, oder ihr hierzu Gelegenheit geben müssen (vgl. [X.], Beschlüsse vom 20. Mai 2016 - [X.]/15, [X.] 2016, 381 Rn. 7, und vom 25. August 2020 - [X.], juris Rn. 11). Hätte die Betroffene hierauf einen Anwalt benannt, hätte dieser zum Termin hinzugezogen werden müssen. Wäre dies nicht möglich gewesen, hätte das Amtsgericht die Haft nicht endgültig, sondern nur im Wege einer einstweiligen Anordnung vorläufig (§ 427 FamFG) anordnen dürfen ([X.], Beschluss vom 7. April 2020 - [X.]/19, juris Rn. 10).

(3) Nachdem das Amtsgericht den Willen der Betroffenen nicht aufgeklärt hat und daher offengeblieben ist, ob die Betroffene einen Anwalt zu ihrer Anhörung hinzuziehen wollte, ist zur wirksamen Sicherung des verfassungsrechtlich gewährleisteten Rechts auf ein faires Verfahren zu vermuten, dass der Betroffenen der Zugang zu einem Anwalt verwehrt wurde. Denn es ist im Streitfall nicht offensichtlich - wovon das Beschwerdegericht aber ausgeht -, dass die Betroffene, selbst wenn ihr das Amtsgericht bei der Anhörung hierzu Gelegenheit gegeben hätte, nicht in der Lage gewesen wäre, einen Anwalt zu finden, der bereit gewesen wäre, an einer Anhörung teilzunehmen. In [X.] kommt es nicht selten vor, dass ein Rechtsanwalt die Vertretung des Betroffenen auch dann übernimmt, wenn diesem (noch) keine Verfahrenskostenhilfe bewilligt worden ist. Dementsprechend ist es auch der Betroffenen gelungen, einen Rechtsanwalt zu finden, der Beschwerde für sie eingelegt hat.

cc) Die Anhörung der Betroffenen leidet damit an einem schwerwiegenden Verfahrensfehler, der nicht nur den ordnungsgemäßen Ablauf der Anhörung, sondern deren Grundlagen betrifft (vgl. [X.], Beschluss vom 18. Februar 2016 - [X.], [X.] 2016, 235 Rn. 26 mwN). Eine Heilung des Verfahrensfehlers, die mit Wirkung für die Zukunft möglich gewesen wäre, ist durch das Beschwerdegericht nicht erfolgt. Sie hätte eine Nachholung der Anhörung der Betroffenen vorausgesetzt (vgl. [X.], Beschluss vom 7. April 2020 - [X.]/19, juris Rn. 13), die das Beschwerdegericht unterlassen hat.

3. [X.] beruht auf § 81 Abs. 1 Satz 1 und 2, § 83 Abs. 2 FamFG. Die Festsetzung des [X.] folgt aus § 36 Abs. 2 und 3 GNotKG.

[X.]     

      

Schmidt-Räntsch     

      

[X.]

      

Tolkmitt     

      

[X.]     

      

Meta

XIII ZB 123/19

15.12.2020

Bundesgerichtshof 13. Zivilsenat

Beschluss

Sachgebiet: ZB

vorgehend LG Bamberg, 9. August 2019, Az: 43 T 115/19

Art 104 Abs 1 GG, Art 6 Abs 1 S 1 MRK, Art 6 Abs 3 Buchst c MRK

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 15.12.2020, Az. XIII ZB 123/19 (REWIS RS 2020, 1246)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2020, 1246

Auf dem Handy öffnen Auf Mobilgerät öffnen.


Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

Ähnliche Entscheidungen

XIII ZB 66/20 (Bundesgerichtshof)

Überstellungshaft: Wahrung des Grundsatzes des fairen Verfahrens bei Anhörung des Betroffenen ohne Teilnahme des Verfahrensbevollmächtigten


XIII ZB 46/20 (Bundesgerichtshof)


XIII ZB 1/21 (Bundesgerichtshof)


XIII ZB 74/20 (Bundesgerichtshof)

Abschiebungshaftsache: Erneute Anhörung des Betroffenen unter Beiziehung des Rechtsanwalts im Abhilfeverfahren


XIII ZA 6/23 (Bundesgerichtshof)


Literatur & Presse BETA

Diese Funktion steht nur angemeldeten Nutzern zur Verfügung.

Anmelden
Zitieren mit Quelle:
x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.