Bundesverfassungsgericht, Stattgebender Kammerbeschluss vom 02.12.2011, Az. 1 BvR 314/11

1. Senat 3. Kammer | REWIS RS 2011, 809

Foto: © Bundesverfassungsgericht │ foto USW. Uwe Stohrer, Freiburg

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Gegenstand

Teilweise stattgebender Kammerbeschluss: Überlange Dauer eines Gerichtsverfahrens verletzt Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz - hier: erstinstanzliche Entscheidung in einer gesellschaftsrechtlichen Streitigkeit 22 Jahre nach Einleitung des Verfahrens - unzureichende Verfahrensförderung - Gegenstandswertfestsetzung auf 50000 Euro


Tenor

1. Es wird festgestellt, dass die überlange Dauer des Verfahrens vor dem [X.] - 24 [X.] 43/86 - die Beschwerdeführer in ihrem Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz gemäß Artikel 2 Absatz 1 des Grundgesetzes in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip (Artikel 20 Absatz 3 Grundgesetz) verletzt.

2. Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen.

3. ...

4. Der Wert des Gegenstandes der anwaltlichen Tätigkeit wird auf 50.000 € (in Worten: fünfzigtausend Euro) festgesetzt.

Gründe

I.

1

Die Verfassungsbeschwerde betrifft ein aktienrechtliches Spruchverfahren, das vor dem [X.] 22 Jahre gedauert hat und derzeit noch bei dem [X.] anhängig ist. Die Beschwerdeführer waren Aktionäre der damals so firmierenden [X.](jetzt A. AG) in [X.], die im Jahr 1986 einen Beherrschungsvertrag mit ihrer Mehrheitsaktionärin, der [X.] in [X.], [X.], abschloss. Die Beschwerdeführer stellten gemeinsam mit weiteren Aktionären in einem im Jahr 1986 eingeleiteten Verfahren nach dem Aktiengesetz (entsprechend dem heutigen Spruchverfahren) einen Antrag auf Bestimmung eines angemessenen Ausgleichs und einer Abfindung, über den das [X.] im Jahr 2008 entschied und einen Ausgleich pro Aktie sowie eine Abfindung für die antragstellenden Aktionäre - darunter die Beschwerdeführer - festsetzte. Im Januar 2011 wies das [X.] mit dem durch die Verfassungsbeschwerde angegriffenen Beschluss die sofortigen Beschwerden der Beschwerdeführer, der weiteren Antragsteller und der Antragsgegnerinnen zurück. Hiergegen erhoben die Beschwerdeführer sowie ein weiterer Antragsteller Anhörungsrüge gemäß § 321a ZPO. Mit weiterem, ebenfalls mit der Verfassungsbeschwerde angegriffenem Beschluss berichtigte das [X.] seinen Beschluss durch Streichung eines Klammerzusatzes in der Begründung. Es stellte fest, die Anhörungsrüge der Beschwerdeführer sei damit erledigt und setzte auf die Anhörungsrüge eines anderen Antragstellers das Spruchverfahren hinsichtlich der Ermittlung des Beta-Faktors für die Unternehmensbewertung fort. Durch Beweisbeschluss beauftragte es einen Sachverständigen mit der Erstellung eines ergänzenden Gutachtens zu dieser Frage.

II.

2

1. Die Beschwerdeführer wenden sich mit ihrer Verfassungsbeschwerde gegen den Beschwerdebeschluss des [X.]s vom Januar 2011 in der Fassung des [X.] sowie - wie der Zusammenhang ihres Vorbringens ergibt - gegen die ihres Erachtens überlange Dauer des Spruchverfahrens. Sie rügen eine Verletzung ihrer verfassungsmäßigen Rechte aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3, Art. 3 Abs. 1, Art. 14 Abs. 1 und Art. 103 Abs. 1 GG. Das [X.] habe es in verfassungswidriger Weise unterlassen, die Dauer des Verfahrens bei der Bemessung des Ausgleichs und der Abfindung angemessen mit zu entgelten. Das Gericht sei zu verpflichten, die nach den Wert- und Preisverhältnissen im Jahr 1986 festgesetzte Abfindung um denjenigen Betrag zu erhöhen, der sie für den [X.]punkt der Auszahlung angemessen erscheinen lasse. Im Übrigen beanstanden sie aber auch generell, das Spruchverfahren habe insgesamt unvertretbar lange gedauert.

3

2. Die Bundesregierung, die [X.] Landesregierung und die Beteiligten des Ausgangsverfahrens hatten Gelegenheit zur Stellungnahme. Die Akten des Ausgangsverfahrens liegen vor.

III.

4

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt, soweit sich die Beschwerdeführer gegen die überlange Dauer des Verfahrens vor dem [X.] wenden; im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen.

5

1. Die Annahme der Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung ist zur Durchsetzung des Grundrechts auf Gewährleistung eines effektiven Rechtsschutzes aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip aus Art. 20 Abs. 3 GG angezeigt, soweit sich die Verfassungsbeschwerde gegen die überlange Dauer des Verfahrens vor dem [X.] richtet (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b [X.]). Insoweit sind die Voraussetzungen des § 93c Abs. 1 Satz 1 [X.] für eine stattgebende [X.] erfüllt. Die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen Fragen sind durch das [X.] bereits geklärt (vgl. [X.] 55, 349 <369>; 60, 253 <269>; 93, 1 <13>). Die Verfassungsbeschwerde ist insoweit offensichtlich begründet.

6

a) Für bürgerlichrechtliche Streitigkeiten gewährleistet Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) einen wirkungsvollen Rechtsschutz im materiellen Sinne (vgl. [X.] 82, 126 <155>; 93, 99 <107>). Daraus ergibt sich die Verpflichtung der Fachgerichte, Gerichtsverfahren in angemessener [X.] zu einem Abschluss zu bringen (vgl. [X.] 55, 349 <369>; 60, 253 <269>; 93, 1 <13>). Die Angemessenheit der Dauer eines Verfahrens ist stets nach den besonderen Umständen des einzelnen Falles zu bestimmen (vgl. [X.] 55, 349 <369>). Es gibt keine allgemein gültigen [X.]vorgaben; diese können auch der Rechtsprechung des [X.] nicht entnommen werden (vgl. [X.], Beschluss der [X.] des [X.] vom 6. Mai 1997 - 1 BvR 711/96 -, NJW 1997, [X.] 2811; EGMR, III. Sektion, Urteil vom 11. Januar 2007 - 20027/02 Herbst / [X.] -, NVwZ 2008, [X.] 289 <291> Rn. 75). Die Verfahrensgestaltung obliegt in erster Linie dem mit der Sache befassten Gericht. Sofern der Arbeitsanfall die alsbaldige Bearbeitung und Terminierung sämtlicher zur Entscheidung anstehender Fälle nicht zulässt, muss das Gericht hierfür zwangsläufig eine zeitliche Reihenfolge festlegen (vgl. [X.] 55, 349 <369>).

7

Bei der verfassungsrechtlichen Beurteilung der Frage, ab wann ein Verfahren unverhältnismäßig lange dauert, sind sämtliche Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, insbesondere die Natur des Verfahrens und die Bedeutung der Sache für die Parteien (vgl. [X.] 46, 17 <29>), die Auswirkungen einer langen Verfahrensdauer auf die Beteiligten (vgl. [X.], Beschluss der [X.] des [X.] vom 6. Mai 1997 - 1 BvR 711/96 -, NJW 1997, [X.] 2811 <2812>), die Schwierigkeit der Sachmaterie, das den Beteiligten zuzurechnende Verhalten, insbesondere Verfahrensverzögerungen durch sie sowie die gerichtlich nicht zu beeinflussende Tätigkeit Dritter, vor allem der Sachverständigen (vgl. [X.], Beschluss der [X.] des [X.] vom 20. Juli 2000 - 1 BvR 352/00 -, NJW 2001, [X.] 214 <215>). Dagegen kann sich der Staat nicht auf solche Umstände berufen, die in seinem Verantwortungsbereich liegen (vgl. [X.], Beschluss der [X.] des [X.] vom 14. Oktober 2003 - 1 BvR 901/03 -, NVwZ 2004, [X.] 334 <335>). Ferner haben die Gerichte auch die Gesamtdauer des Verfahrens zu berücksichtigen und sich mit zunehmender Dauer nachhaltig um eine Beschleunigung des Verfahrens zu bemühen (vgl. [X.], Beschluss der [X.] des [X.] vom 20. Juli 2000, a.a.[X.], [X.] 215).

8

b) Daran gemessen ist die Dauer des Verfahrens vor dem [X.] mit dem Recht der Beschwerdeführer auf effektiven Rechtsschutz unvereinbar. Es ist nach Abwägung sämtlicher Umstände verfassungsrechtlich nicht mehr hinnehmbar, dass erst nach 22 Jahren erstinstanzlich über den Antrag der Beschwerdeführer entschieden wurde.

9

Bei der verfassungsrechtlichen Beurteilung der Gesamtdauer des Verfahrens ist allerdings zu berücksichtigen, dass die Rechtssache in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht kompliziert ist und die Einholung von ihrerseits komplexen Gutachten sowie ergänzenden Stellungnahmen der Gutachter erforderte, die sich mit Fragen der Bewertung zweier großer Unternehmen befassten und in der Erstellung sehr aufwändig waren. Die Bevollmächtigten der Antragsgegnerinnen weisen zu Recht darauf hin, dass es schon ungewöhnlich schwierig und zeitlich aufwändig war, einen geeigneten Gutachter zu finden, nachdem mehrere Sachverständige den [X.] aus unterschiedlichen Gründen ablehnten und zurückgaben. Weitere Schwierigkeiten ergaben sich aus der Vielzahl der Verfahrensbeteiligten und dem Umfang und der Anzahl der eingereichten Schriftsätze und Stellungnahmen.

Andererseits ergibt sich aus der beigezogenen Verfahrensakte, dass das [X.] das Verfahren nicht in ausreichendem Maße betrieben und gefördert hat. Bereits kurz nach Einleitung des Verfahrens finden sich mehrmonatige [X.]räume, während derer keine verfahrensleitenden Verfügungen getroffen wurden und der faktische Stillstand des Verfahrens auch nicht aus anderen Gründen veranlasst war. So wurde erst im Februar 1990, das heißt knapp vier Jahre nach Einleitung des Verfahrens, ein Beweisbeschluss erlassen. Nachdem der zunächst beauftragte Gutachter im Januar 1991 mitgeteilt hatte, er sei mangels ausreichender Kapazität von fachlichen Mitarbeitern nicht in der Lage, den [X.] zu übernehmen, wurde erst im November 1991 ein anderes Unternehmen mit der Gutachtenerstattung beauftragt. Inwiefern das Verfahren in den Jahren 1992 bis zur Einlegung der sofortigen Beschwerden gegen Zwischenentscheidungen des [X.]s im Jahr 1995 gefördert wurde, ist den Akten des Ausgangsverfahrens nicht zu entnehmen. Überdies ist es trotz aller nachvollziehbaren Schwierigkeiten bei der Auswahl eines für diesen [X.] geeigneten Sachverständigen und dessen Anleitung am Maßstab effektiver Rechtsschutzgewährung gemessen nicht akzeptabel, dass die Erstattung des Gutachtens aufgrund des [X.] vom August 2000 erst im September 2004 erfolgte und die den Akten zu entnehmende Verfahrensförderung gegenüber dem Sachverständigen sich auf zwei Sachstandsanfragen und eine "Anmahnung" beschränkte. Im Blick auf die schon bis dahin zu verzeichnende Gesamtdauer des Verfahrens von mehr als 13 Jahren waren nachhaltigere Beschleunigungsbemühungen geboten (vgl. etwa § 411 ZPO).

Soweit die Beschwerdeführer die überlange Verfahrensdauer vor dem [X.] rügen, begegnet die Dauer von bislang drei Jahren in Anbetracht der Komplexität der Materie hingegen noch keinen durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken. Das [X.] wird allerdings alle zu Gebote stehenden Maßnahmen zu ergreifen haben, um das Verfahren vorrangig und zeitnah abzuschließen.

2. Im Übrigen liegen die Voraussetzungen für die Annahme der Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung nicht vor (§ 93a [X.]). Soweit die Beschwerdeführer eine Verletzung ihrer verfassungsmäßigen Rechte aus Art. 3 Abs. 1, Art. 14 Abs. 1 und [ref=ce3af2ac-c651-[X.]. 103 Abs. 1 [X.]] rügen und sich gegen den Beschluss des [X.]s wenden, ist die Verfassungsbeschwerde unzulässig, weil der Rechtsweg nicht erschöpft ist. Das [X.] hat auf die Anhörungsrüge eines anderen Antragstellers das Spruchverfahren hinsichtlich der Ermittlung des Beta-Faktors fortgesetzt und durch Beweisbeschluss einen Sachverständigen mit der Erstellung eines ergänzenden Gutachtens zu dieser Frage beauftragt. Das Verfahren ist deshalb noch nicht rechtskräftig abgeschlossen.

3. Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen beruht auf § 34a Abs. 2, 3 [X.]. Die Verfassungsbeschwerde hat überwiegend Erfolg.

Der nach § 37 Abs. 2 in Verbindung mit § 14 Abs. 1 [X.] festzusetzende Gegenstandswert für die anwaltliche Tätigkeit beträgt 50.000 €. Dies rechtfertigt sich aus der objektiven Bedeutung der Sache sowie Umfang und Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit, die Besonderheiten aufweisen, welche eine deutliche Erhöhung des Mindestwertes veranlassen.

Meta

1 BvR 314/11

02.12.2011

Bundesverfassungsgericht 1. Senat 3. Kammer

Stattgebender Kammerbeschluss

Sachgebiet: BvR

vorgehend OLG Karlsruhe, 21. Januar 2011, Az: 12 W 77/08, Beschluss

Art 20 Abs 3 GG, Art 2 Abs 1 GG, § 90 Abs 2 S 1 BVerfGG, § 93c Abs 1 S 1 BVerfGG, § 14 Abs 1 RVG, § 37 Abs 2 RVG, § 411 ZPO

Zitier­vorschlag: Bundesverfassungsgericht, Stattgebender Kammerbeschluss vom 02.12.2011, Az. 1 BvR 314/11 (REWIS RS 2011, 809)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2011, 809

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