Bundesverfassungsgericht, Nichtannahmebeschluss vom 02.05.2017, Az. 2 BvR 1511/16

2. Senat 2. Kammer | REWIS RS 2017, 11666

Foto: © Bundesverfassungsgericht │ foto USW. Uwe Stohrer, Freiburg

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Gegenstand

Nichtannahmebeschluss: Verfassungsrechtliche Anforderungen an die Auslegung des § 10 Abs 1 StVollzG (Eignung Strafgefangener für den offenen Vollzug) - Bedenken gegen höhere Anforderungen bzgl der Eignung von zu lebenslanger Freiheitsstrafe Verurteilten für den offenen Vollzug


Tenor

Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung von Rechtsanwältin [X.] wird abgelehnt, weil die beabsichtigte Rechtsverfolgung keine hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet.

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.

Gründe

1

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen, weil die Möglichkeit eines Verstoßes gegen das Resozialisierungsgebot (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) nicht ersichtlich ist (1.) und im Übrigen ein Annahmegrund im Sinne des § 93a Abs. 2 [X.] nicht vorliegt (2.).

2

1. Zwar begegnet der angegriffene Beschluss des [X.] mit Blick auf den grundrechtlich geschützten Resozialisierungsanspruch (vgl. [X.] 116, 69 <85 f.>) verfassungsrechtlichen Bedenken insoweit, als das Gericht darin von einem besonders strengen Prüfungsmaßstab bei der Beurteilung der persönlichen Eignung von zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilten Strafgefangenen für die Unterbringung im offenen Vollzug auszugehen scheint. Die Möglichkeit eines Grundrechtsverstoßes zum Nachteil des Beschwerdeführers ist im konkreten Fall gleichwohl nicht ersichtlich, weil die Vollzugsbehörde, deren Planung das [X.] in dem Beschluss bestätigt hat, ihrer Entscheidung einen verfassungsrechtlich nicht zu beanstandenden Prüfungsmaßstab zugrunde gelegt und die fehlende Eignung des Beschwerdeführers für die Unterbringung im offenen Vollzug frei von sachfremden Erwägungen vertretbar begründet hat.

3

a) [X.] ein Gefangener die Unterbringung im offenen Vollzug, so wird er durch deren Versagung in seinem durch Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG grundrechtlich geschützten Resozialisierungsinteresse berührt (vgl. [X.], Beschluss der [X.] des Zweiten Senats vom 12. Juni 2002 - 2 BvR 116/02 -, juris, Rn. 3); dies gilt auch für einen zu lebenslanger Freiheitsstrafe Verurteilten (vgl. [X.]K 17, 459 <462>). Androhung und Vollstreckung der lebenslangen Freiheitsstrafe finden ihre verfassungsrechtlich notwendige Ergänzung in einem sinnvollen Behandlungsvollzug (vgl. [X.] 45, 187 <238>; 64, 261 <272 f.>; stRspr). Die [X.] sind mithin im Hinblick auf Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG verpflichtet, schädlichen Auswirkungen des [X.], vor allem deformierenden Persönlichkeitsstörungen, die die Lebenstüchtigkeit ernsthaft in Frage stellen und es ausschließen, dass sich der Gefangene im Falle einer Entlassung aus der Haft im normalen Leben noch zurechtzufinden vermag, im Rahmen des Möglichen zu begegnen (vgl. [X.] 45, 187 <238>; 64, 261 <272 f.>; stRspr).

4

b) Der offene Vollzug zeichnet sich dadurch aus, dass keine oder nur verminderte Vorkehrungen gegen [X.] vorgesehen sind (§ 141 Abs. 2 Halbsatz 2 [X.], nunmehr § 16 Abs. 1 Satz 2 [X.] Bln). Nach der Konzeption des [X.] ist er, soweit keine Flucht- oder Missbrauchsgefahr besteht, für geeignete Gefangene die Regelvollzugsform und nicht etwa eine besondere Vergünstigung ([X.]K 12, 210 <217>). Dies ergibt sich aus der klaren Anordnung der gesetzlichen Regelung (§ 10 Abs. 1 [X.]: "[X.] in einer Anstalt oder Abteilung des offenen Vollzuges untergebracht werden, wenn ..."; Abs. 2 Satz 1: "Im Übrigen sind die Gefangenen im geschlossenen Vollzug unterzubringen.") und wird durch die Gesetzesmaterialien bestätigt. Der Regierungsentwurf zum Strafvollzugsgesetz stützte sich auf die Annahme, "dass die mit einer geschlossenen Anstalt verbundene Isolierung nur dann vertreten werden kann, wenn der Gefangene sich sonst dem Vollzug der Freiheitsstrafe entziehen oder andere, lockere Formen der Beaufsichtigung und Unterbringung zu weiteren Straftaten missbrauchen würde. In einer Anstalt des geschlossenen Vollzugs sollen deshalb nur solche Gefangene untergebracht werden, die nicht im offenen Vollzug untergebracht werden können oder die dies wünschen" (BTDrucks 7/918, [X.]). Mit der in § 10 Abs. 1 [X.] zusätzlich aufgenommenen weiteren Voraussetzung, dass der Gefangene den besonderen Anforderungen des offenen Vollzugs genügen muss, sollte darüber hinaus auf die Bedürfnisse der Praxis Rücksicht genommen werden, die verlangten, dass der Gefangene die Bereitschaft und Fähigkeit zur freiwilligen Einordnung mitbringe und bereit sei, sich in ein System einbeziehen zu lassen, das auch auf der Selbstdisziplin und dem Verantwortungsbewusstsein der Gefangenen beruhe ([X.]K 12, 210 <218>). Die in § 10 Abs. 2 Satz 2 [X.] vorgesehene Möglichkeit der Unterbringung im oder Rückverlegung in den geschlossenen Vollzug aus [X.] ist auf den Fall der Notwendigkeit begrenzt (BTDrucks 7/918, [X.]; [X.]K 12, 210 <217>).

5

c) Die Entscheidung des [X.] hält den dargelegten Anforderungen im Ergebnis stand, weil die Ausgangsentscheidung der Vollzugsbehörde verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden ist. Soweit das [X.] allerdings davon auszugehen scheint, dass an einen zu lebenslanger Freiheitsstrafe Verurteilten besonders hohe Anforderungen im Hinblick auf die persönliche Eignung für die Unterbringung im offenen Vollzug zu stellen sind ("besonders geeignete und stabile Gefangene"), ist diese mit Blick auf den der Regelung in § 10 [X.] zugrunde liegenden, grundrechtlich verbürgten Resozialisierungsanspruch, welcher gleichermaßen für zu zeitiger wie für zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilte Straftäter gilt, zwar bedenklich; es führt jedoch nicht dazu, dass die den Beschwerdeführer belastende Maßnahmen nachträglich verfassungswidrig würde.

6

aa) Die in § 10 [X.] genannten Versagungsgründe der fehlenden persönlichen Eignung sowie der Flucht- und Missbrauchsgefahr eröffnen der Vollzugsbehörde als unbestimmte Rechtsbegriffe einen - verfassungsrechtlich nicht zu beanstandenden - Beurteilungsspielraum, in dessen Rahmen sie bei Achtung der Grundrechte des Gefangenen mehrere Entscheidungen treffen kann, die gleichermaßen rechtlich vertretbar sind (vgl. [X.], Beschluss der [X.] des Zweiten Senats vom 1. April 1998 - 2 BvR 1951/96 -, juris, Rn. 20). Der Beurteilungsspielraum entbindet die Vollstreckungsgerichte allerdings nicht von ihrer rechtsstaatlich fundierten Prüfungspflicht. Das Gericht hat dementsprechend den Sachverhalt umfassend aufzuklären und dabei festzustellen, ob die Vollzugsbehörde den zugrunde gelegten Sachverhalt insgesamt vollständig ermittelt und damit eine hinreichende tatsächliche Grundlage für ihre Entscheidung geschaffen hat (vgl. [X.] 70, 297 <308>). Legt das Strafvollstreckungsgericht diesen Maßstab seiner Entscheidung zugrunde, prüft das [X.] lediglich, ob das Strafvollstreckungsgericht der Vollzugsbehörde nicht einen zu weiten Beurteilungsspielraum zugebilligt und damit Bedeutung und Tragweite des verfassungsrechtlich geschützten Resozialisierungsanspruchs verkannt hat und ob die angegriffene Entscheidung unter Zugrundelegung des dargelegten fachgerichtlichen Maßstabs schlechthin nicht mehr nachvollziehbar ist und damit den aus dem allgemeinen Gleichheitssatz abzuleitenden Anspruch auf willkürfreie Entscheidung (Art. 3 Abs. 1 GG) verletzt (vgl. [X.], Beschluss der [X.] des Zweiten Senats vom 1. April 1998 - 2 BvR 1951/96 -, juris, Rn. 21).

7

bb) Dass die Vollzugsbehörde den ihr eingeräumten Beurteilungsspielraum im Rahmen der Auslegung des Eignungsbegriffs überschritten hat, ergibt sich weder aus dem Vortrag des Beschwerdeführers, noch ist es in sonstiger Weise ersichtlich. Insbesondere die Einstellung sachfremder Kriterien in die Abwägung und damit eine fehlerhafte Sachverhaltsermittlung hat der Beschwerdeführer nicht schlüssig dargetan. Die Vollzugsbehörde hat bei ihrer Entscheidung sowohl das Vorleben des Beschwerdeführers, seine Vorstrafen und die [X.] als auch sein Verhalten während der Untersuchungshaft sowie durch psychologische Gutachter festgestellte Persönlichkeitsmerkmale berücksichtigt und dabei in zulässiger Weise auch auf die Feststellungen des zu vollstreckenden Urteils zurückgegriffen.

8

Der Vorwurf, die Vollzugsbehörde habe in die Abwägung die Öffentlichkeitswirksamkeit des Verfahrens als sachfremdes Kriterium zum Nachteil des Beschwerdeführers einbezogen, wird weder durch den Inhalt der angegriffenen Entscheidungen noch durch den Beschwerdevortrag erhärtet. Vielmehr hat die Vollzugsbehörde die fehlende persönliche Eignung für den offenen Vollzug auf Defizite im Bereich Offenheit und Transparenz gestützt und diese Annahme nachvollziehbar mit der Leugnung der [X.], der sich aus den Feststellungen des Schwurgerichts ergebenden, nicht aufgearbeiteten [X.] sowie mit der fehlenden [X.] begründet. Zusätzlich hat die Vollzugsbehörde die Versagung der Unterbringung im offenen Vollzug in vertretbarer Weise auf die Annahme einer Missbrauchsgefahr gestützt. Auch im Rahmen dieser Prognoseentscheidung, welche im Wesentlichen auf dem früheren Drogen- und Alkoholmissbrauch des Beschwerdeführers basiert, ist eine Überschreitung des [X.] nicht erkennbar.

9

2. Soweit der Beschwerdeführer rügt, das [X.] hätte angesichts des durch das [X.] angelegten verengten [X.] die Rechtsbeschwerde zulassen müssen, ist eine Verletzung des Rechts auf die Gewährung effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) zwar nicht auszuschließen. Die Verfassungsbeschwerde ist mangels Vorliegens eines besonders schweren Nachteils im Sinne des § 93a Abs. 2 Buchstabe b [X.] jedoch nicht zur Entscheidung anzunehmen.

Das [X.] hat die Rechtsbeschwerde als unzulässig verworfen, den Beschluss des [X.] aber - wenn auch im Rahmen der Zulässigkeit - zugleich auf Rechtsfehler hin überprüft und damit in der Sache die im Rahmen der [X.] gebotene Kontrolle durchgeführt. Dabei ist das Gericht zu dem verfassungsrechtlich nicht zu beanstandenden Ergebnis gelangt, dass der Prüfungsmaßstab des [X.] zwar als zu eng zu beanstanden ist, sich im konkreten Fall jedoch nicht zum Nachteil des Beschwerdeführers ausgewirkt hat, weil die Vollzugsbehörde eben diesen Maßstab ihrer Prüfung gerade nicht zugrunde gelegt hatte.

Wenn auch die Verlagerung der Prüfung der Begründetheit in die Zulässigkeit im Hinblick auf die Anforderungen an die Gewährung effektiven Rechtsschutzes (vgl. [X.] 78, 88 <98 f.>; 104, 220, 231 f.) verfassungsrechtlich bedenklich erscheint, so ergibt sich daraus für den Beschwerdeführer dennoch kein besonders schwerer Nachteil im Sinne des § 93a Abs. 2 Buchstabe b [X.]: Es ist angesichts der Ausführungen des [X.]s deutlich abzusehen, dass der Beschwerdeführer im Falle der Zurückverweisung an das Ausgangsgericht im Ergebnis keinen Erfolg haben würde (vgl. [X.] 90, 22 <25 f.>; [X.], Beschluss der [X.] des [X.] vom 13. März 2017 - 1 BvR 93/14 -, juris, Rn. 1).

3. Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 [X.] abgesehen.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Meta

2 BvR 1511/16

02.05.2017

Bundesverfassungsgericht 2. Senat 2. Kammer

Nichtannahmebeschluss

Sachgebiet: BvR

vorgehend KG Berlin, 10. Mai 2016, Az: 2 Ws 99/16 Vollz, Beschluss

Art 1 Abs 1 GG, Art 2 Abs 1 GG, Art 19 Abs 4 GG, § 38 Abs 1 StGB, § 10 Abs 1 StVollzG, § 141 Abs 2 Halbs 2 StVollzG, § 16 Abs 1 S 2 StVollzG BE

Zitier­vorschlag: Bundesverfassungsgericht, Nichtannahmebeschluss vom 02.05.2017, Az. 2 BvR 1511/16 (REWIS RS 2017, 11666)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2017, 11666

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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Referenzen
Wird zitiert von

2 BvR 286/18

2 StR 557/18

Zitiert

1 BvR 93/14

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