Bundesverfassungsgericht, Stattgebender Kammerbeschluss vom 26.10.2011, Az. 2 BvR 1539/09

2. Senat 3. Kammer | REWIS RS 2011, 1960

Foto: © Bundesverfassungsgericht │ foto USW. Uwe Stohrer, Freiburg

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Gegenstand

Stattgebender Kammerbeschluss: Verweigerung von Vollzugslockerungen (§ 11 Abs 1 Nr 2 StVollzG) wegen Personalknappheit verletzt Betroffenen in grundrechtlich geschütztem Resozialisierungsanspruch (Art 2 Abs 1 GG iVm Art 1 Abs 1 GG) - zudem Verletzung des Rechtsschutzanspruchs (Art 19 Abs 4 GG) durch Zurückweisung von Rechtsmitteln


Tenor

Der Beschluss des [X.] vom 25. Februar 2009 - 33 Vollz 623/08 - verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 1 Absatz 1 und Artikel 19 Absatz 4 des Grundgesetzes.

Der Beschluss des [X.] vom 25. Mai 2009 - 1 Vollz ([X.]) 269/09 - verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 19 Absatz 4 GG.

Die Beschlüsse werden aufgehoben. Die Sache wird an das [X.] zurückverwiesen.

...

Gründe

I.

1

1. Der Beschwerdeführer verbüßt seit August 1993 eine lebenslange Freiheitsstrafe. Die [X.] hat das [X.] mit Beschluss vom 30. Januar 2008 auf 20 Jahre festgesetzt.

2

Im Februar 2007 beantragte der Beschwerdeführer bei der Justizvollzugsanstalt eine gefesselte Ausführung. Während der zurückliegenden Haftzeit von [X.] habe er sich stets gut geführt und diverse Therapien absolviert. Die Justizvollzugsanstalt habe bereits im Jahr 2004 festgestellt, dass bei ihm keine Flucht- oder Missbrauchsgefahrbestehe. Nach so langer Vollzugsdauer verliere er die Vorstellung vom normalen Lebensablauf außerhalb der Anstalt, was seine Reintegration in Frage zu stellen drohe.

3

Mit angegriffenem Bescheid vom 13. Juli 2007 lehnte die Justizvollzugsanstalt den Antrag ab. Beim Beschwerdeführer seien massive Persönlichkeitsstörungen gutachterlich diagnostiziert, die auf einer ungünstigen Sozialisation beruhten. Die bisherigen Behandlungen hätten zwar zu erkennbaren Verbesserungen geführt; diese genügten jedoch nicht, um eine Flucht- und Missbrauchsgefahr mit der erforderlichen Sicherheit ausschließen zu können. Aufgrund der fortbestehenden Persönlichkeitsproblematik sei zu befürchten, dass er eine Ausführung zur Flucht und/oder zur Begehung neuer Straftaten missbrauchen werde.

4

2. Gegen diese Entscheidung stellte der Beschwerdeführer unter dem 7. Juli 2008 Antrag auf gerichtliche Entscheidung. Sein mit beigefügtem Schreiben vom 18. Juli 2007 eingelegter Widerspruch gegen den Ablehnungsbescheid sei nicht beschieden worden. Die Ablehnung der Ausführung verletze seinen Resozialisierungsanspruch. Er habe Anspruch auf entlassungsvorbereitende Lockerungen. Die Justizvollzugsanstalt habe im Jahr 2005 anlässlich der Ablehnung eines gleichlautenden Antrags in einer Stellungnahme ausgeführt, dass bei der Verwendung von Fesseln und Begleitung durch Vollzugsbedienstete eine Flucht- und Missbrauchsgefahr mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden könne. Damals sei der Antrag abgelehnt worden, weil eine Ausführung zur Erhaltung der Lebenstüchtigkeit nicht erforderlich sei; mit diesem Gesichtspunkt setze sich die Justizvollzugsanstalt nun nicht mehr auseinander.

5

Die Justizvollzugsanstalt nahm dahingehend Stellung, dass das [X.] des Beschwerdeführers bislang nicht vorgelegen habe. Der Antrag auf gerichtliche Entscheidung sei zulässig, aber nicht begründet. Die Flucht- und Missbrauchsgefahr könne bei einer von Beamten der Justizvollzugsanstalt begleiteten gefesselten Ausführung mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden. Die Personallage der Justizvollzugsanstalt zwinge jedoch dazu, Prioritäten bei der Gewährung bewachter Ausführungen zu setzen. Ausführungen nach § 11 [X.] könnten neben Ausführungen aus wichtigem Anlass nur eingeschränkt ermöglicht werden. Zu lebenslanger Haft Verurteilten würden Ausführungen gewährt, um schädlichen Folgen des [X.] entgegenzuwirken, oder als Einstieg in den [X.]. Der Beschwerdeführer gehöre zu keiner dieser beiden Fallgruppen. Ein Einstieg in den [X.] sei derzeit nicht vorgesehen, und es sei weder ein Verlernen von autonomen Lebenstechniken noch ein erhöhtes Maß an Unselbständigkeit feststellbar. Die beantragte Ausführung sei daher zur Erhaltung der Lebenstüchtigkeit nicht erforderlich.

6

Der Beschwerdeführer entgegnete, er könne nach Ablauf der [X.] nur entlassen werden, wenn er zuvor innerhalb eines Jahres zwei gefesselte Ausführungen sowie innerhalb eines weiteren Jahres zwei ungefesselte Ausführungen absolviert habe, ihm Urlaub gewährt worden sei und er sich zwei Jahre lang im offenen Vollzug bewährt habe. Damit sei der noch verbleibende Zeitraum ausgefüllt. Durch die Versagung der gefesselten Ausführung vereitele die Justizvollzugsanstalt seine Entlassung im August 2013. Personalknappheit sei kein Grund, der die Ablehnung rechtfertigen könnte. Der Ansicht der Justizvollzugsanstalt, dass bei ihm keine schädlichen Folgen des [X.] vorlägen, sei nicht zu folgen. Er kenne weder den [X.] noch den Umgang mit dem Handy, dem [X.] und dem [X.]. Die drastischen Veränderungen im technischen und damit auch im alltäglichen Bereich seien völlig an ihm vorbeigegangen. Auch der gesamte städtische Lebensraum habe sich seit seiner Inhaftierung nachhaltig verändert.

7

3. Mit angegriffenem Beschluss vom 25. Februar 2009 wies das [X.] den Antrag auf gerichtliche Entscheidung zurück. Der Antrag sei zulässig; der Beschwerdeführer habe durch Vorlage eines Fax-Sendeberichts glaubhaft gemacht, dass er das Seinige getan habe, um eine Widerspruchsentscheidung herbeizuführen. Jedoch sei der Antrag unbegründet. Das Gericht könne die Entscheidung der Justizvollzugsanstalt nur auf Ermessensüberschreitung oder zweckwidrigen Ermessensgebrauch hin prüfen. Maßgeblich seien insbesondere Gründe, die den Stand des [X.] und die Geeignetheit der Maßnahme zur Erreichung des Vollzugsziels beträfen. Eine Ausführung könne die Justizvollzugsanstalt auch aus situativen Gründen, etwa weil nicht genügend Bedienstete verfügbar seien, ablehnen. Nach diesen Maßstäben lägen Ermessensfehler nicht vor. Zwar dürfe durch das Nachschieben von Gründen der Rechtsschutz des Antragstellers nicht verkürzt werden; die angefochtene Maßnahme dürfe nicht in ihrem Wesen verändert und dem Antragsteller die Rechtsverteidigung nicht unzumutbar erschwert werden. So dürfe die Vollzugsbehörde keine neuen oder dem Antragsteller unbekannten oder zwar bekannten, von ihr aber ersichtlich außer Betracht gelassenen Tatsachen nachschieben. Danach liege hier ein unzulässiges Nachschieben von Gründen nicht vor, da die Praxis der Justizvollzugsanstalt dem Beschwerdeführer bereits aus einem früheren Widerspruchsverfahren bekannt gewesen sei. Die Justizvollzugsanstalt müsse denknotwendig innerhalb der ihr durch die [X.] Grenzen agieren. Wenn sie ihr Ermessen zur angestrebten Gleichbehandlung aller Gefangenen dahingehend binde, dass sie Ausführungen nur in den genannten zwei Fallgruppen gewähre, sei dies sachgerecht und nicht zu beanstanden. Auch der Beschwerdeführer behaupte nicht, dass er autonome Lebenstechniken verlernt habe oder ein erhöhtes Maß an Unselbständigkeit aufweise. Da die Justizvollzugsanstalt den Stand des [X.] in ihre Ermessensentscheidung aufnehmen dürfe, dürfe sie dem Beschwerdeführer auch die Eignung zum Einstieg in den [X.] absprechen. Von einer weiteren Begründung könne abgesehen werden, da das Gericht im Ergebnis den Gründen der angefochtenen Entscheidung in vollem Umfang folge (§ 115 Abs. 1 Satz 4 [X.]).

8

4. Mit der Rechtsbeschwerde (§ 116 Abs. 1 [X.]) machte der Beschwerdeführer geltend, der Beschluss des [X.]s verletze ihn in seinem Resozialisierungsanspruch. Die Entscheidung verstoße gegen Rechtsprechung des [X.], wonach bei zu lebenslanger Freiheitsstrafe Verurteilten ein sinnvoller Behandlungsvollzug stattfinden müsse und den Interessen des Gefangenen an der Bewahrung vor schädlichen Folgen aus langjähriger Inhaftierung und an der Erhaltung seiner Lebenstüchtigkeit umso höheres Gewicht zukomme, je länger die Vollstreckung einer Freiheitsstrafe dauere. Der Staat könne sich in diesem Zusammenhang nicht auf fehlende personelle und finanzielle Ressourcen berufen. Der angegriffene Beschluss lasse zu Unrecht den von der Justizvollzugsanstalt einzig angeführten Grund, nämlich die Personalknappheit, genügen. Der Staat könne sich der Verantwortung für die Einhaltung verfassungsrechtlicher Garantien nicht mit dieser Begründung entziehen. Der Beschluss verkenne zudem die Dringlichkeit von [X.]angesichts der bisherigen Vollzugsdauer; mit den diesbezüglichen Ausführungen des Beschwerdeführers - insbesondere zur zeitlichen Staffelung von [X.] zwecks Entlassungsvorbereitung - habe sich das [X.] nicht hinreichend auseinandergesetzt.Entlassungsvorbereitungen in Form von [X.] hätten nach der Rechtsprechung des [X.] frühestmöglich im Hinblick auf den frühestmöglichen Entlassungszeitpunkt zu erfolgen.

9

5. Das [X.] verwarf mit angegriffenem Beschluss vom 25. Mai 2009 die Rechtsbeschwerde als unzulässig; es sei nicht geboten, die Nachprüfung des Beschlusses des [X.]s zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung zu ermöglichen (§ 116 Abs. 1, § 119 Abs. 3 [X.]).

6. Mit der fristgerecht erhobenen Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung seines Rechts auf Resozialisierung und seines Grundrechts aus Art. 2 Abs. 2 GG. Die Ausführungen in den angegriffenen Beschlüssen stünden in krassem Gegensatz zur Rechtsprechung des [X.]. Danach stehe auch zu lebenslänglicher Freiheitsstrafe Verurteilten die Möglichkeit zu, die Freiheit wiederzuerlangen, hätten [X.] so früh einzusetzen, dass die Grundlagen für eine Prognoseentscheidung zum frühestmöglichen Entlassungszeitpunkt geschaffen würden, und hätten die [X.] darauf hinzuwirken, dass die Grundlagen für diese Prognoseentscheidung durch die Justizvollzugsanstalt geschaffen worden seien.

Der frühestmögliche Entlassungszeitpunkt werde bei ihm erst in ungefähr vier Jahren (August 2013) eintreten. Die Einholung des für eine Entlassung erforderlichen [X.] werde wegen Überlastung der Gutachter vier bis fünf Monate dauern, so dass das Überprüfungsverfahren gemäß § 57a StGB spätestens im März 2013 zu erfolgen habe. Seien bis dahin keine Lockerungen gewährt worden, werde das Gericht gegebenenfalls gar nicht die Einholung eines [X.] erwägen. Ferner habe die Gewährung von Lockerungen maßgeblichen Einfluss auf das Ergebnis des [X.] und beeinflusse die Entscheidung über die [X.].

7. Das [X.], dem Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben wurde, hat sich zu der Frage geäußert, ob der Beschwerdeführer vor Klageerhebung Widerspruch gegen den Bescheid der Justizvollzugsanstalt erhoben hatte. Dies sei nicht der Fall; ein Schreiben des Bevollmächtigten sei damals nicht aktenkundig gewesen. Im Übrigen hat das [X.] von einer Stellungnahme abgesehen.

II.

Die Verfassungsbeschwerde wird gemäß § 93a Abs. 2 Buchstabe b [X.] zur Entscheidung angenommen, weil dies zur Durchsetzung der Grundrechte des Beschwerdeführers angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b [X.]). Die Vorraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung(§ 93cAbs. 1[X.]) liegen vor. Die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen verfassungsrechtlichen Grundsätze hat das [X.] bereits geklärt. Nach diesen Grundsätzen ist die Verfassungsbeschwerde zulässig und in einem die Zuständigkeit der Kammer begründenden Sinn offensichtlich begründet.

1. Für die Zulässigkeit und Annahmefähigkeit der Verfassungsbeschwerde kommt es nicht darauf an, ob ein vom Beschwerdeführer eingelegter Widerspruch bei den Justizbehörden erst im fachgerichtlichen Verfahren aktenkundig geworden ist. Im Hinblick auf die erforderliche Rechtswegerschöpfung (§ 90 Abs. 2 [X.]) ist dies ohne Belang, da das [X.] den Antrag des Beschwerdeführers gemäß § 113 [X.] als zulässig behandelt hat. Das [X.] hat festgestellt, dass der Beschwerdeführer durch Vorlage eines [X.] gemacht habe, zur Einlegung des Widerspruchs das seinerseits Erforderliche getan zu haben. Bedenken gegen diese Einschätzung sind weder geltend gemacht noch sonst ersichtlich. Danach spricht auch nichts dafür, dass wegen eines fehlenden oder unzureichend durchgeführten Widerspruchsverfahrens der Beschwerdeführer mit seinem Rechtsschutzziel auch im Fall der Aufhebung der angegriffenen Beschlüsse und Zurückverweisung der Sache letztlich keinen Erfolg haben könnte und die Verfassungsbeschwerde deshalb mangels eines bei Nichtannahme drohenden besonders schweren Nachteils (vgl. [X.] 90, 22 <25 f.>) nicht zur Entscheidung anzunehmen sein könnte.

2. Der angegriffene Beschluss des [X.]s verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG und Art. 19 Abs. 4 GG.

a) aa) Das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG verpflichtet den Staat, den Strafvollzug auf das Ziel auszurichten, dem Inhaftierten ein zukünftiges straffreies Leben in Freiheit zu ermöglichen (vgl. [X.] 116, 69 <85 f.> m.w.N.; stRspr). Besonders bei langjährig im Vollzug befindlichen Personen erfordert dies, aktiv den schädlichen Auswirkungen des Freiheitsentzuges entgegenzuwirken und ihre Lebenstüchtigkeit zu erhalten und zu festigen (vgl. [X.] 45, 187 <238>; 64, 261 <277>; 98, 169 <200>; 109, 133 <150 f.>).

Das gilt auch, wenn der Betroffene zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt ist, zumal dem Gefangenen auch in diesem Fall eine Chance verbleiben muss, eines Tages die Freiheit wiederzuerlangen (vgl. [X.] 45, 187 <238 ff.>; 109, 133 <150 f.>; [X.], Beschlüsse der [X.] des Zweiten Senats vom 13. Dezember 1997 - 2 BvR 1404/96 -, NJW 1998, S. 1133 <1133>, und der [X.] des Zweiten Senats vom 5. August 2010 - 2 BvR 729/08 -, [X.], S. 488 <490>). Androhung und Vollstreckung der lebenslangen Freiheitsstrafe finden ihre verfassungsrechtlich notwendige Ergänzung in einem sinnvollen Behandlungsvollzug (vgl. [X.] 45, 187 <238>; 64, 261 <272 f.>; 109, 133 <150 f.>). Der Gesetzgeber hat dementsprechend im Strafvollzugsgesetz auch dem Vollzug der lebenslangen Freiheitsstrafe ein Behandlungs- und Resozialisierungskonzept zugrunde gelegt ([X.] 117, 71 <91>). Der Wiedereingliederung des Delinquenten dienen unter anderem die Vorschriften über [X.](vgl. [X.], a.a.O., [X.]). [X.] ein Gefangener [X.](§ 11Abs. 1[X.]), so wird er daher durch deren Versagung in seinem durch Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG grundrechtlich geschützten [X.] berührt (vgl. [X.], Beschlüsse der [X.] des Zweiten Senats vom 12. Juni 2002 - 2 BvR 116/02 -, juris, Rn. 3, und der [X.] des Zweiten Senats vom 5. August 2010 - 2 BvR 729/08 -, juris, Rn. 32).

bb) Verfassungsrechtliche Anforderungen an die [X.] gelten nicht nur nach Maßgabe dessen, was an Verwaltungs- oder Justizeinrichtungentatsächlich oder üblicherweise vorhanden ist (vgl. [X.] 15, 288 <296>; 34, 369 <380 f.>; 40, 276 <284>; 116, 69 <89 f.>). Zwar können sich Grenzen für die Möglichkeit der Durchführung von Behandlungsmaßnahmen auch aus der räumlichen und personellen Ausstattung der Justizvollzugsanstalt ergeben (vgl. [X.] 42, 95 <100 f.>). Der Strafgefangene kann nicht verlangen, dass unbegrenzt personelle und sonstige Mittel aufgewendet werden, um Beschränkungen seiner grundrechtlichen Freiheiten zu vermeiden (vgl. [X.] 34, 369 <380 f.>; 34, 384 <402>; 35, 307 <310>; 42, 95 <100 f.>; [X.]K 13, 163 <166>; 13, 487 <492>). Andererseits kann aber der Staat grundrechtliche und [X.] begründete Ansprüche Gefangener nicht nach Belieben dadurch verkürzen, dass er die [X.] nicht so ausstattet, wie es zur Wahrung ihrer Rechte erforderlich wäre. Vielmehr setzen die Grundrechte auch Maßstäbe für die notwendige Beschaffenheit staatlicher Einrichtungen. Der Staat ist verpflichtet, [X.] in der zur Wahrung der Grundrechte erforderlichen Weise auszustatten (vgl. [X.] 40, 276 <284>; 45, 187 <240>; [X.]K 13, 163 <168 f.>; 13, 487 <492 f.> m.w.N.).

Sind vorhandene [X.] und deren Ausstattung so beschaffen, dass Rechte der Gefangenen nicht gewahrt werden können, ohne dass dadurch Rechte anderer Gefangener oder sonstige Belange von vergleichbarem Gewicht beeinträchtigt werden, so folgt auch hieraus nicht, dass die insoweit auf der einen oder anderen Seite unvermeidlichen Beeinträchtigungen ohne weiteres und unabhängig von laufenden Bemühungen um kurzfristige Abhilfe als rechtmäßig hinzunehmen wären (vgl. [X.]K 13, 487 <493> m.w.N.). Die Frage, wie mit derartigen Notsituationen umzugehen ist, stellt sich im Übrigen erst, wenn feststeht, dass eine auch mit besonderem Einsatz nicht vermeidbare Notsituation tatsächlich vorliegt. Drohen aufgrund unzureichender Ausstattung von Haftanstalten Beeinträchtigungen, die normalerweise von Rechts wegen nicht hinnehmbar sind, so sind - unbeschadet der Pflicht der zuständigen Organe, für eine dauerhafte Verbesserung der Ausstattung zu sorgen - den zuständigen Anstalten und ihren Trägern besondere Anstrengungen zum Ausgleich des Mangels und zur zügigen Abhilfe abzuverlangen; das Niveau der "zumutbaren Anstrengungen" (vgl. [X.] 42, 95 <102>) bemisst sich insoweit nach der staatlichen Verantwortung für die Ausstattung des Vollzuges mit den für die rechtmäßige Erfüllung seiner Aufgaben erforderlichen Mitteln (vgl. [X.]K 13, 487 <493>).

cc) Die hiernach entscheidungserheblichen Umstände haben die Gerichte aufzuklären. Die fachgerichtliche Überprüfung grundrechtseingreifender Maßnahmen kann die rechtsstaatlich gebotene Beachtung des geltenden Rechts und den effektiven Schutz der berührten materiellen Rechte nur gewährleisten, wenn sie auf zureichender Aufklärung des jeweiligen Sachverhalts beruht (vgl. [X.] 101, 275 <294 f.>; [X.]K 4, 119 <127 f.>; 13, 487 <493>). Das Rechtsstaatsprinzip, die materiell berührten Grundrechte und das Grundrecht aus Art. 19 Abs. 4 GG sind verletzt, wenn grundrechtseingreifende Maßnahmen im Haftvollzug von den Gerichten ohne zureichende Sachverhaltsaufklärung als rechtmäßig bestätigt werden (vgl. [X.]K 13, 487 <493 f.>).

b) Nach diesen Maßstäben kann der angegriffene Beschluss des [X.]s keinen Bestand haben, weil er sowohl das Gewicht der betroffenen grundrechtlichen Belange des Beschwerdeführers als auch die verfassungsrechtlichen Grenzen möglicher Rechtfertigung der Ablehnung von Lockerungen durch Personalknappheit und die daraus folgenden Anforderungen an die Sachverhaltsaufklärung verkennt.

Es kann offen bleiben, ob Grundrechte des Beschwerdeführers bereits dadurch verletzt sind, dass das [X.] seiner Prüfung eine im gerichtlichen Verfahren ausgewechselte Begründung der Justizvollzugsanstalt für ihren ablehnenden Bescheid zugrundegelegt und damit ein im gerichtlichen Verfahren nicht mehr zulässiges Nachschieben von [X.] hingenommen hat (vgl. [X.], Beschluss vom 22. August 1996 - 1 Vollz ([X.]) 83/96 -, [X.], S. 32 <32>; [X.], Beschluss vom 21. August 2008 - 3 Vollz ([X.]) 34/08 -, juris, Rn. 21 ff.; [X.]/Müller-Dietz, [X.], 11. Aufl. 2008, § 11 Rn. 18; [X.]/Volckart, in: [X.], AK-[X.], 5. Aufl. 2006, § 115 Rn. 53; [X.]/[X.], in: Schwind/[X.]/[X.]/[X.], [X.], 5. Aufl. 2009, § 115 Rn. 4 m.w.N.). Denn auch ausgehend von der ausgewechselten Begründung wird der Beschluss des [X.]s den verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht gerecht.

Wenn das Gericht dem Beschwerdeführer entgegenhält, er selbst behaupte nicht, dass er autonome Lebenstechniken verlernt habe oder ein erhöhtes Maß an Unselbständigkeit aufweise, verfehlt es - wie zuvor schon die Justizvollzugsanstalt - den Sinn des grundrechtlichen Gebots, einem Verlust der Lebenstüchtigkeit des Beschwerdeführers nach Möglichkeit entgegenzuwirken (s. unter a) aa)). Dieses Gebot bezieht sich als Element der staatlichen Verpflichtung, den Haftvollzug am Resozialisierungsziel auszurichten, offensichtlich nicht nur auf den Verlust von für das Leben in Haft bedeutsamen Fähigkeiten, sondern gerade auch auf die Erhaltung der Tüchtigkeit für ein Leben in Freiheit. Der Gefangene soll so lebenstüchtig bleiben, dass er sich im Falle einer Entlassung aus der Haft im normalen Leben wieder zurechtfindet (vgl. [X.] 45, 187 <240>; [X.], Beschlüsse der [X.] des Zweiten Senats vom 12. November 1997 - 2 BvR 615/97 -, NStZ-RR 1998, [X.]>, und vom 13. Dezember 1997 - 2 BvR 1404/96 -, NJW 1998, S. 1133 <1133>; Beschluss der [X.] des Zweiten Senats vom 5. August 2010 - 2 BvR 729/08 -, [X.], S. 488 <490>). Mit der Annahme, das Gebot, die Lebenstüchtigkeit des Gefangenen nach Möglichkeit zu erhalten, greife erst ein, wenn der Gefangene Anzeichen einer haftbedingten Depravation aufweist, die sich bereits als Einschränkungen seiner Lebenstüchtigkeit unter den Verhältnissen der Haft bemerkbar machen, wird es daher grundlegend missverstanden. Dem hohen Gewicht, das dem [X.] des Beschwerdeführers nach mehr als zehnjähriger Haftverbüßung für die Ermessensentscheidung der Justizvollzugsanstalt zukam (vgl. [X.], Beschlüsse der [X.] des Zweiten Senats vom 12. November 1997 - 2 BvR 615/97 -, NStZ-RR 1998, [X.] f.>), hat das [X.] auf diese Weise nicht im Geringsten Rechnung getragen.

Der angegriffene Beschluss verfehlt die verfassungsrechtlichen Anforderungen zudem auch dadurch, dass er sich mit den in der Rechtsprechung des [X.] aufgezeigten Grenzen der Möglichkeit, Versagungen durch Personalknappheit zu rechtfertigen (s. unter a) bb)), nicht auseinandersetzt, obwohl dies angesichts des Gewichts der berührten grundrechtlichen Belange des [X.] angezeigt war. Infolgedessen ist auch die insoweit erforderliche Sachverhaltsaufklärung unterblieben (s. unter a) cc)). Weder hat das Gericht nähere Feststellungen zu Art und Dauer der von der Justizvollzugsanstalt angeführten [X.] getroffen noch geprüft, ob und welche Abhilfemaßnahmen von der Justizvollzugsanstalt ergriffen beziehungsweise beantragt wurden und ob und welche besonderen Anstrengungen ihr zumindest vorübergehend zumutbar sind, um sicherzustellen, dass die gesetzlich eröffnete Möglichkeit von [X.] nicht in einer mit dem dahinterstehenden Resozialisierungsziel unvereinbaren Weise leerläuft.

3. Der angegriffene Beschluss des [X.] verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 19 Abs. 4 GG.

a) Art. 19 Abs. 4 GG gewährleistet effektiven und möglichst lückenlosen richterlichen Rechtsschutz gegen Akte der öffentlichen Gewalt (vgl. [X.] 67, 43 <58>; stRspr). Dabei fordert Art. 19 Abs. 4 GG keinen Instanzenzug. Eröffnet das Prozessrecht aber eine weitere Instanz, so gewährleistet Art. 19 Abs. 4 GG dem Bürger auch insoweit eine wirksame gerichtliche Kontrolle (vgl. [X.] 40, 272 <274 f.>; 54, 94 <96 f.>; 122, 248 <271>; stRspr). Die Rechtsmittelgerichte dürfen ein von der jeweiligen Rechtsordnung eröffnetes Rechtsmittel nicht durch die Art und Weise, in der sie die gesetzlichen Voraussetzungen für den Zugang zu einer Sachentscheidung auslegen und anwenden, ineffektiv machen und für den Beschwerdeführer leerlaufen lassen; der Zugang zu den in der Verfahrensordnung eingeräumten Instanzen darf nicht von unerfüllbaren oder unzumutbaren Voraussetzungen abhängig gemacht oder in einer durch [X.] nicht mehr zu rechtfertigenden Weise erschwert werden (vgl. [X.] 96, 27 <39>; 117, 244 <268>; 122, 248 <271>; stRspr).

b) Nach diesem Maßstab ist der Beschluss des [X.]s mit Art. 19 Abs. 4 GG nicht vereinbar.

§ 119 Abs. 3 [X.] erlaubt es dem Strafsenat, von einer Begründung der Rechtsbeschwerdeentscheidung abzusehen, wenn er die Beschwerde für unzulässig oder offensichtlich unbegründet erachtet. Dies ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Da der Strafsenat von dieser Möglichkeit, deren Einräumung verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden ist (vgl. [X.] 50, 287 <289 f.>; 71, 122 <135>; 81, 97 <106>), Gebrauch gemacht hat, liegen über die Feststellung im [X.] hinaus, dass die in § 116 Abs. 1 [X.] genannte Voraussetzung der Zulässigkeit einer Rechtsbeschwerde - Erforderlichkeit der Nachprüfung zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung - nicht vorlägen, Entscheidungsgründe, die das [X.] einer verfassungsrechtlichen Prüfung unterziehen könnte, nicht vor. Daraus folgt jedoch nicht, dass der Beschluss selbst sich verfassungsrechtlicher Prüfung entzöge oder die Maßstäbe der Prüfung zu lockern wären. Vielmehr ist in einem solchen Fall die Entscheidung bereits dann aufzuheben, wenn an ihrer Vereinbarkeit mit Grundrechten des Beschwerdeführerserhebliche Zweifel bestehen (vgl. [X.], Beschluss der [X.] des Zweiten Senats vom 25. Februar 1993 - 2 BvR 251/93 -, juris, Rn. 4; [X.], Beschluss der [X.] des Zweiten Senats vom 12. März 2008 - 2 BvR 378/05 -, juris, Rn. 33). Dies ist angesichts der offenkundigen inhaltlichen Abweichung des landgerichtlichen Beschlusses von der Rechtsprechung des [X.] (zur Bedeutung einer solchen Abweichung für die Zulässigkeit der Rechtsbeschwerde vgl. [X.], Beschluss vom 7. Juli 2006 - 1 [X.] 288/06 ([X.]) -, juris, Rn. 7), auf die der Beschwerdeführer zudem bereits mit seinem ersten Rechtsbeschwerdeschriftsatz hingewiesen hat, hier der Fall.

III.

1. Die angegriffenen Beschlüsse beruhen auf den festgestellten Grundrechtsverstößen. Gemäß § 95 Abs. 2 [X.] sind sie aufzuheben und ist die Sache an das [X.] zurückzuverweisen.

2. Die notwendigen Auslagen für das Verfassungsbeschwerdeverfahren sind dem Beschwerdeführer gemäß § 34a Abs. 2 [X.] zu erstatten.

Meta

2 BvR 1539/09

26.10.2011

Bundesverfassungsgericht 2. Senat 3. Kammer

Stattgebender Kammerbeschluss

Sachgebiet: BvR

vorgehend OLG Hamm, 25. Mai 2009, Az: 1 Vollz (Ws) 269/09, Beschluss

Art 19 Abs 4 GG, Art 1 Abs 1 GG, Art 2 Abs 1 GG, § 93c Abs 1 S 1 BVerfGG, § 116 Abs 1 StVollzG, § 119 Abs 3 StVollzG, § 11 Abs 1 Nr 2 StVollzG, § 2 S 1 StVollzG

Zitier­vorschlag: Bundesverfassungsgericht, Stattgebender Kammerbeschluss vom 26.10.2011, Az. 2 BvR 1539/09 (REWIS RS 2011, 1960)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2011, 1960

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