Bundesverfassungsgericht, Stattgebender Kammerbeschluss vom 11.03.2013, Az. 1 BvR 2853/11

1. Senat 1. Kammer | REWIS RS 2013, 7531

Foto: © Bundesverfassungsgericht │ foto USW. Uwe Stohrer, Freiburg

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Gegenstand

Stattgebender Kammerbeschluss: Grenzen der Teilnahme des abgelehnten Richters an Entscheidung über Befangenheitsantrag im Verwaltungsprozess - Verletzung des Art 101 Abs 1 S 2 GG, wenn Entscheidung über Ablehnungsgesuch über bloße Formalentscheidung hinausgeht - Zur Beschwerdebefugnis bei Rechtsnachfolge - Gegenstandswertfestsetzung


Tenor

1. Der Beschluss des [X.] vom 20. August 2009 - 5 K 1216/06 - (erster Befangenheitsantrag), der Beschluss des [X.] vom 20. August 2009 - 5 K 1216/06 - (zweiter Befangenheitsantrag) und das Urteil des [X.] vom 20. August 2009 - 5 K 1216/06 - verletzen die Beschwerdeführerin in ihrem grundrechtsgleichen Recht aus Artikel 101 Absatz 1 Satz 2 des Grundgesetzes.

Die Entscheidungen werden aufgehoben und die Sache wird an das [X.] zurückverwiesen.

Damit wird der Beschluss des [X.] vom 27. September 2011 - 4 A 186/10 - gegenstandslos.

2. Der [X.] hat der Beschwerdeführerin die notwendigen Auslagen zu erstatten.

3. Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 8.000 € (in Worten: achttausend Euro) festgesetzt.

Gründe

1

Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Verwerfung von Befangenheitsanträgen unter Mitwirkung der abgelehnten [X.]n in einem verwaltungsgerichtlichen Verfahren.

I.

2

1. Die Rechtsvorgängerin der Beschwerdeführerin war Klägerin in einem verwaltungsgerichtlichen Verfahren. Im Rahmen der mündlichen Verhandlung vernahm die mit drei Berufsrichtern und zwei ehrenamtlichen [X.]n besetzte Kammer des [X.] einen Zeugen unter anderem zu der Verwaltungspraxis der Behörde, die den angegriffenen Bescheid erlassen hatte. Dabei weigerte sich der Zeuge, bestimmte Einzelheiten zu anderen Fällen mitzuteilen.

3

a) Im Verlauf der Beweisaufnahme lehnte der Prozessbevollmächtigte der Rechtsvorgängerin der Beschwerdeführerin die [X.] mit folgender Begründung wegen Besorgnis der Befangenheit ab:

4

"(…)

[X.] (…) hat sich auf 'nicht näher darzulegende Umstände' im Rahmen seiner Zeugenaussage berufen. Als der Prozessbevollmächtigte der Klägerin insoweit nachfragte, erklärte die abgelehnte [X.]in, es könnten insoweit datenschutzrechtliche Gründe maßgebend sein. Obwohl der Prozessbevollmächtigte der Klägerin den Zeugen insoweit nochmals befragte, hielt die abgelehnte [X.]in nicht zur vollständigen Aussage an. Die abgelehnte [X.]in meinte sogar, der Zeuge sollte weiter befragt werden.

(…)

Die Klägerin behält sich weiteren Sachvortrag nach Vorlage des [X.] vor und auch dann, wenn die dienstliche Äußerung vorliegt."

5

Daraufhin wurde die mündliche Verhandlung unterbrochen. Nach Wiedereintritt in die mündliche Verhandlung verkündete die Kammer den folgenden in unveränderter Besetzung getroffenen und mit der Verfassungsbeschwerde angegriffenen Beschluss:

6

"Der von dem Prozessbevollmächtigten der Klägerin gestellte Beweisantrag wird als unzulässig zurückgewiesen.

Er geht zum einen von Tatsachen aus, die so nicht stattgefunden haben. [X.] (…) hat sich nicht verweigert Umstände offenzulegen, sondern Einzelfälle darzulegen. Im Übrigen ist offensichtlich ein Hinweis darauf, dass die einzelfallbezogene Darlegung anderer Fälle als des vorliegenden Falles datenschutzrechtlichen Bedenken begegnen könnte, nicht zu beanstanden. Schließlich ist es auch offensichtlich korrekt, wenn die Vorsitzende den Prozessbevollmächtigten der Klägerin bittet, konkrete Fragen zu stellen, damit der Zeuge auch konkret antworten kann, ggf. dann bezogen auf die konkrete Verwaltungspraxis zum vorliegenden Fall.

Dieser Beschluss ergeht in der Besetzung wie bisher verhandelt worden ist. Dies ist zulässig, weil der Beweisantrag als unzulässig abgewiesen wird.

(...)"

7

b) Daraufhin stellte die Rechtsvorgängerin der Beschwerdeführerin, vertreten durch ihren Prozessbevollmächtigten, einen weiteren Antrag, mit dem sie nunmehr sämtliche an der zuvor erwähnten Entscheidung beteiligten [X.] der Kammer wegen Besorgnis der Befangenheit ablehnte. Sie begründete dies unter anderem wie folgt:

8

"Die Begründung des Befangenheitsgesuchs ergibt sich aus der Begründung des - soeben - abgelehnten Befangenheitsgesuchs (…). Der vorgenannte Antrag ist als solcher zulässig. Niemand kann in eigener Sache entscheiden. Jedenfalls durfte Frau (…) an dem vorgenannten Beschluss nicht mitwirken. Rechtliches Gehör wurde trotz Vorbehalts nicht gewährt.

(…)"

9

Nach erneuter Unterbrechung der mündlichen Verhandlung verkündete die Kammer daraufhin den weiteren in unveränderter Besetzung getroffenen und mit der Verfassungsbeschwerde angegriffenen Beschluss folgenden Inhalts:

"Der zweite Befangenheitsantrag des Prozessbevollmächtigten der Klägerin wird als unzulässig zurückgewiesen.

Der Befangenheitsantrag ist dann rechtsmissbräuchlich, wenn er ausschließlich auf einer abweichenden rechtlichen Bewertung der Klägerseite gegenüber der Bewertung der Kammer beruht. Offensichtlich unbegründete Befangenheitsanträge können von der Kammer als solcher insgesamt abgelehnt werden, d.h. auch von dem [X.], der als befangen abgelehnt worden ist. Die Einschätzung des Beweisantrags als zulässig oder unzulässig ist eine Rechtsfrage, auf die allein ein Befangenheitsantrag nicht gestützt werden kann.

(…)"

2. Aufgrund der mündlichen Verhandlung erließ die Kammer in unveränderter Besetzung das mit der Verfassungsbeschwerde angegriffene Urteil, mit dem die Klage abgewiesen wurde.

3. Den Antrag auf Zulassung der Berufung lehnte das Oberverwaltungsgericht mit angegriffenem Beschluss vom 27. September 2011 ab. Im Hinblick auf den von der Beschwerdeführerin wegen der Behandlung ihrer Ablehnungsgesuche geltend gemachten Verfahrensmangel stand es zwar auf dem Standpunkt, dass die willkürliche Ablehnung eines Befangenheitsgesuchs einen Berufungszulassungsgrund darstellen könne. Es sah die Voraussetzungen hierfür jedoch nicht als gegeben an.

II.

Mit ihrer Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin allein eine Verletzung von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG wegen der aus ihrer Sicht zu Unrecht in unveränderter Kammerbesetzung erfolgten Zurückweisung der Befangenheitsanträge als unzulässig.

Mit dem ersten Befangenheitsantrag seien offensichtlich keine Umstände oder Handlungen, die nach der Prozessordnung vorgeschrieben seien oder sich aus der Stellung des [X.]s ergäben, beanstandet worden. Mit datenschutzrechtlichen Gründen lasse sich ein Zeugnisverweigerungsrecht nicht begründen. Halte die abgelehnte [X.]in den Zeugen nicht zur Aussage an, sondern lege diesem sogar noch nahe, von der Aussage abzusehen, sei eine solche Vorgehensweise geeignet, Misstrauen gegen die Unparteilichkeit der [X.]in zu rechtfertigen.

Jedenfalls - und dies sei vorliegend allein entscheidend - sei ein solcher erster Befangenheitsantrag nicht offensichtlich rechtsmissbräuchlich und damit unzulässig. Das habe auch die Kammer unter Mitwirkung der abgelehnten [X.] in ihrem ersten zurückweisenden Beschluss nicht darzulegen vermocht. Eine Begründung dafür, weshalb der Befangenheitsantrag als ausnahmsweise unzulässig zu qualifizieren sein sollte, gebe die Kammer nicht an. Soweit sich die Kammer mit der Begründung des [X.] auseinandersetze, handele es sich hierbei um Ausführungen, die - wenn überhaupt - im Rahmen der Begründetheit des [X.] zu berücksichtigen gewesen wären. Die Tatsache, dass die Kammer unter Mitwirkung der abgelehnten [X.]in meine, nicht ohne Stellungnahme zur Unbegründetheit auszukommen, zeige gerade, dass sie den Befangenheitsantrag nicht für aussichtslos und damit rechtsmissbräuchlich gehalten habe.

Noch weniger sei der zweite Befangenheitsantrag offensichtlich rechtsmissbräuchlich und unzulässig. Dass der erste Befangenheitsantrag rechtsmissbräuchlich und damit unzulässig gewesen sei, vermöge die Kammer erneut nicht zu begründen. Sie führe sogar ausdrücklich aus, dass die Einschätzung eines [X.] als zulässig oder unzulässig eine Rechtsfrage darstelle. Dann könne hierüber aber erst Recht nicht von der Kammer selbst entschieden werden.

III.

Das [X.] des [X.] sowie der Beklagte des Ausgangsverfahrens hatten Gelegenheit zur Stellungnahme. Die Akten des Ausgangsverfahrens haben dem [X.] vorgelegen.

IV.

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde gemäß § 93a Abs. 2 Buchstabe b [X.] zur Entscheidung an und gibt ihr zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 [X.] genannten Rechte der Beschwerdeführerin gemäß § 93c Abs. 1 Satz 1 [X.] statt.

1. Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig, insbesondere form- und fristgerecht erhoben.

a) Das gilt auch, obwohl die Beschwerdeführerin zunächst einen - im Ergebnis erfolglosen - Antrag auf Zulassung der Berufung beim Oberverwaltungsgericht gestellt hat. Ausweislich der Begründung der Entscheidung des [X.] war der Zulassungsantrag der Beschwerdeführerin soweit er sich auf die Behandlung der [X.] stützte, nicht von vornherein aussichtslos. Das Oberverwaltungsgericht hat lediglich, im Ergebnis zu Unrecht, das Vorliegen einer Verletzung von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG durch das Verwaltungsgericht verneint.

b) Die Beschwerdeführerin ist auch beschwerdebefugt. Zwar war sie selbst zunächst nicht am Ausgangsrechtsstreit beteiligt. Sie ist jedoch im Laufe des Berufungszulassungsverfahrens aufgrund Verschmelzung im Wege der Aufnahme (vgl. § 2 Nr. 1 [X.]) Gesamtrechtsnachfolgerin der ursprünglichen Klägerin geworden.

Zur Durchsetzung vermögenswerter Rechte und für sonstige [X.], die der Rechtsnachfolger im eigenen Interesse geltend machen kann, können Rechtsnachfolger Verfassungsbeschwerdeverfahren fortführen oder erheben (vgl. [X.] 3, 162 <164>; 17, 86 <90 f.>; 23, 288 <300>; 26, 327 <332>; 69, 188 <201>; 94, 12 <30>; 109, 279 <304>), nicht jedoch zur Durchsetzung des Schutzes der Menschenwürde und höchstpersönlicher Rechte (vgl. [X.] 109, 279 <304>).

Jedenfalls im Berufungszulassungsverfahren war die Beschwerdeführerin selbst Partei des Rechtsstreits und damit ohne weiteres beschwerdebefugt. Aber auch soweit Verfassungsverstöße gegenüber ihrer Rechtsvorgängerin, begangen in der ersten Instanz, im Raum stehen, ist die Beschwerdebefugnis gegeben. Die Rechtskraft der fachgerichtlichen Entscheidung erstreckt sich auch insoweit auf die Beschwerdeführerin (vgl. § 121 Nr. 1 VwGO). Aufgrund ihrer daraus resultierenden Bindung an die Entscheidung, die mit für sie nachteiligen (finanziellen) Folgen verbunden ist, ist sie hierdurch auch als Rechtsnachfolgerin beschwert. Es geht demnach nicht um speziell ihrer Rechtsvorgängerin zustehende höchstpersönliche Rechte, die eine Beschwerdebefugnis der Beschwerdeführerin entfallen lassen könnten.

2. Die angegriffenen Entscheidungen des [X.] verletzen das grundrechtsgleiche Recht der Beschwerdeführerin auf den gesetzlichen [X.] aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG.

a) aa) Die Beteiligten eines gerichtlichen Verfahrens haben nach Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG Anspruch auf den gesetzlichen [X.], der sich aus dem Gerichtsverfassungsgesetz, den [X.] sowie den Geschäftsverteilungs- und Besetzungsregelungen des Gerichts ergibt. Darüber hinaus wird ihnen durch die Verfassung gewährleistet, dass sie nicht vor einem [X.] stehen, dem es an der gebotenen Neutralität fehlt. Die Frage, ob Befangenheitsgründe gegen die Mitwirkung eines [X.]s sprechen, berührt die prozessuale Rechtsstellung der Verfahrensbeteiligten (vgl. [X.] 89, 28 <36>).

Eine "Entziehung" des gesetzlichen [X.]s durch die Rechtsprechung, der die Anwendung der [X.] und die Handhabung des Ablehnungsrechts im Einzelfall obliegt, kann allerdings nicht in jeder fehlerhaften Rechtsanwendung gesehen werden; andernfalls müsste jede fehlerhafte Handhabung des einfachen Rechts zugleich als Verfassungsverstoß gelten (vgl. [X.] 82, 286 <299>). Die Grenzen zum Verfassungsverstoß sind aber jedenfalls dann überschritten, wenn die Auslegung einer Zuständigkeitsnorm oder ihre Handhabung im Einzelfall willkürlich oder offensichtlich unhaltbar sind oder wenn die richterliche Entscheidung Bedeutung und Tragweite der Verfassungsgarantie des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG grundlegend verkennt (vgl. [X.] 82, 286 <299>). Ob die Entscheidung eines Gerichts auf Willkür, also auf einem Fall grober Missachtung oder grober Fehlanwendung des Gesetzesrechts (vgl. [X.] 29, 45 <49>; 82, 159 <197>; 87, 282 <286>) beruht oder ob sie darauf hindeutet, dass ein Gericht Bedeutung und Tragweite der Verfassungsgarantie des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG grundlegend verkennt, kann nur angesichts der jeweiligen Umstände des Einzelfalls beurteilt werden (vgl. [X.], 269 <280>).

Bei der Anwendung der Vorschriften über die Ausschließung und Ablehnung von [X.]n ist zu beachten, dass diese Normen dem durch Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verbürgten Ziel dienen, auch im Einzelfall die Neutralität und Distanz der zur Entscheidung berufenen [X.] zu sichern. Für den Zivilprozess und damit über § 54 Abs. 1 VwGO auch für den Verwaltungsprozess enthalten die §§ 44 ff. ZPO Regelungen über das Verfahren zur Behandlung des [X.] und bestimmen, dass das Gericht, dem der Abgelehnte angehört, ohne dessen Mitwirkung zur Entscheidung auf der Grundlage einer dienstlichen Äußerung des abgelehnten [X.]s berufen ist. Durch diese Zuständigkeitsregelung wird dem Umstand Rechnung getragen, dass die Annahme nahe liegt, es werde an der inneren Unbefangenheit und Unparteilichkeit eines [X.]s fehlen, wenn er über die vorgetragenen Gründe für seine angebliche Befangenheit selbst entscheiden muss (vgl. [X.], 325 <337> für den Strafprozess; [X.], 434 <442> für den Zivilprozess und [X.], 72 <77 f.> für den Verwaltungsprozess).

bb) In Rechtsprechung und Literatur ist allerdings auch für den Bereich des [X.] anerkannt, dass der abgelehnte [X.] ein Ablehnungsgesuch selbst ablehnen kann, ohne dass es der Durchführung des Verfahrens nach § 54 Abs. 1 VwGO in Verbindung mit §§ 44 f. ZPO bedarf, wenn das Gesuch als rechtsmissbräuchlich zu qualifizieren ist, etwa wenn pauschal alle [X.] eines Gerichts abgelehnt werden, das Gesuch nur mit solchen Umständen begründet wird, die eine Befangenheit unter keinem denkbaren Gesichtspunkt rechtfertigen können, oder wenn gegen den [X.] [X.] wegen seiner angeblich rechtsstaatswidrigen Rechtsfindung erhoben werden (vgl. [X.], 72 <78> m.w.N. zu Rspr. und Lit.).

Ähnlich wie der Gesetzgeber im Strafprozessrecht, in welchem § 26a StPO ein vereinfachtes Ablehnungsverfahren für unzulässige Ablehnungsgesuche unter Mitwirkung des abgelehnten [X.]s zur Verfügung stellt, während das Regelverfahren nach § 27 StPO die Entscheidung ohne Mitwirkung des abgelehnten [X.]s garantiert, trägt die verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung mit der differenzierenden Zuständigkeitsregelung in den Fällen der [X.]ablehnung einerseits dem Gewährleistungsgehalt des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG angemessen Rechnung: Ein [X.], dessen Unparteilichkeit mit jedenfalls nicht von vorneherein untauglicher Begründung in Zweifel gezogen worden ist, kann und soll nicht an der Entscheidung gegen das gegen ihn selbst gerichtete Ablehnungsgesuch mitwirken, das sein eigenes richterliches Verhalten und die - ohnehin nicht einfach zu beantwortende - Frage zum Gegenstand hat, ob das beanstandete Verhalten für eine verständige Partei Anlass sein kann, an der persönlichen Unvoreingenommenheit des [X.]s zu zweifeln. Andererseits soll aus Gründen der Vereinfachung und Beschleunigung des Verfahrens der abgelehnte [X.] in den klaren Fällen eines unzulässigen oder missbräuchlich angebrachten [X.] an der weiteren Mitwirkung nicht gehindert sein und ein aufwendiges und zeitraubendes Ablehnungsverfahren verhindert werden (vgl. [X.], 269 <280 f.>; 7, 325 <338>).

Im Verwaltungs- und Zivilprozessrecht gilt ebenso wie im Strafprozessrecht, dass bei strenger Beachtung der Voraussetzungen des gänzlich untauglichen oder rechtsmissbräuchlichen [X.] eine Entscheidung des abgelehnten [X.]s selbst mit der Verfassungsgarantie des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG nicht in Konflikt gerät, weil die Prüfung keine Beurteilung des eigenen Verhaltens des abgelehnten [X.]s voraussetzt und deshalb keine Entscheidung in eigener Sache ist (vgl. [X.], 269 <281 f.>; 11, 434 <442>; 13, 72 <79>). Ein vereinfachtes Ablehnungsverfahren soll indes nur echte Formalentscheidungen ermöglichen oder einen offensichtlichen Missbrauch des Ablehnungsrechts verhindern, was eine enge Auslegung der Voraussetzungen gebietet (vgl. [X.], 269 <282>; 11, 434 <442>; 13, 72 <79>). Völlige Ungeeignetheit ist anzunehmen, wenn für eine Verwerfung als unzulässig jedes Eingehen auf den Gegenstand des Verfahrens selbst entbehrlich ist. Hierfür werden regelmäßig nur solche Gesuche in Betracht kommen, die Handlungen des [X.]s beanstanden, welche nach der Prozessordnung vorgeschrieben sind oder sich ohne weiteres aus der Stellung des [X.]s ergeben. Unzulässig ist ein Ablehnungsgesuch daher, wenn der Ablehnende die bloße Tatsache beanstandet, ein [X.] habe an einer Vor- oder Zwischenentscheidung mitgewirkt. Unzulässig ist das Gesuch auch, wenn sich der [X.] an den von der Prozessordnung vorgeschriebenen Verfahrensgang hält, der Ablehnende aber eine Änderung begehrt. Grundsätzlich wird also eine Verwerfung als unzulässig nur dann in Betracht kommen, wenn das Ablehnungsgesuch für sich allein - ohne jede weitere Aktenkenntnis - offenkundig eine Ablehnung nicht zu begründen vermag. Ist hingegen ein - wenn auch nur geringfügiges - Eingehen auf den Verfahrensgegenstand erforderlich, scheidet die Ablehnung als unzulässig aus. Eine gleichwohl erfolgende Ablehnung durch den abgelehnten [X.] selbst ist dann willkürlich. Über eine bloß formale Prüfung hinaus darf sich der abgelehnte [X.] nicht durch Mitwirkung an einer näheren inhaltlichen Prüfung der Ablehnungsgründe zum [X.] in eigener Sache machen (vgl. [X.], 325 <340>; 11, 434 <442>; 13, 72 <79 f.>).

b) Bei Anlegung dieser Maßstäbe erweist sich die Verwerfung des ersten Befangenheitsgesuchs durch das Verwaltungsgericht - was die Zurückweisung des "Beweisantrags" als unzulässig offensichtlich meint - unter Mitwirkung der abgelehnten [X.]n als objektiv willkürlich. Damit liegt ein Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG vor.

Das folgt jedenfalls daraus, dass es sich vorliegend gerade nicht um eine bloße Formalentscheidung handelt. Die Kammer einschließlich der abgelehnten [X.]in setzt sich vielmehr im Sinne einer Begründetheitsprüfung mit dem Vorbringen im Ablehnungsgesuch auseinander.

Anlass der Ablehnung wegen Besorgnis der Befangenheit war die Verhandlungsführung der abgelehnten [X.]n bei Vernehmung des Zeugen. Dabei ging es nicht bloß um formale Fragen wie zum Beispiel den Umstand, dass ihr als [X.]r die Leitung der mündlichen Verhandlung und damit auch die Vernehmung des Zeugen oblag (vgl. § 173 VwGO in Verbindung mit § 136 ZPO). Die aus Sicht der Rechtsvorgängerin der Beschwerdeführerin zentrale Frage war, ob die wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnte [X.] den Zeugen hinreichend zu einer vollständigen Aussage veranlasst hatte. Das zielt auf den Inhalt ihrer Verhandlungsführung. Die Beantwortung dieser Frage erforderte folglich eine Bewertung des Verhaltens der abgelehnten [X.]in unter Berücksichtigung des von der Prozessordnung gesteckten Rahmens. Eine Entscheidung hierüber war ihr demnach verwehrt.

c) Der Beschluss über den zweiten Befangenheitsantrag erfolgte ebenfalls unter Verstoß gegen das grundrechtsgleiche Recht der Rechtsvorgängerin der Beschwerdeführerin aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG.

Bei der Prüfung, ob ein Ablehnungsgesuch als unzulässig verworfen werden kann, ist das Gericht in besonderem Maße verpflichtet, das Ablehnungsgesuch seinem Inhalt nach vollständig zu erfassen und gegebenenfalls wohlwollend auszulegen, da das Gericht andernfalls leicht dem Vorwurf ausgesetzt sein kann, tatsächlich im Gewande der Zulässigkeitsprüfung in eine Begründetheitsprüfung einzutreten, und sich zu Unrecht zum [X.] in eigener Sache zu machen. Überschreitet das Gericht bei dieser Prüfung die ihm gezogenen Grenzen, so kann dies seinerseits die Besorgnis der Befangenheit begründen (vgl. [X.], 269 <283>; 11, 434 <444>; [X.], Beschluss der [X.] des [X.] vom 20. Juli 2007 - 1 BvR 2228/06 -, NJW 2007, S. 3771 <3773>).

Obwohl der Vorwurf der Selbstentscheidung durch den vorangegangenen Beschluss über das Ablehnungsgesuch gegen die [X.] Gegenstand des zweiten [X.] war, hat die Kammer in unveränderter Besetzung den daraufhin ergangenen Beschluss erlassen, ohne dass die Voraussetzungen hierfür vorgelegen hätten. Der formelhaft begründete Beschluss zieht zur Rechtfertigung der Zurückweisung des [X.] das Kriterium der Rechtsmissbräuchlichkeit heran und versucht dies mit dem Verweis auf die offensichtliche Unbegründetheit des [X.] zu untermauern. Abgesehen davon, dass an keiner Stelle erläutert wird, weshalb - abweichend von der bisherigen Rechtsprechung des [X.]s (vgl. [X.], 269 <282>) - auch bei offensichtlicher Unbegründetheit eines [X.] das vereinfachte Ablehnungsverfahren mit Selbstentscheidung des abgelehnten [X.]s angewendet werden können soll, lag ein Fall offensichtlicher Unbegründetheit des [X.] hier nicht vor. Das folgt schon aus dem einfachen Umstand, dass die festgestellte Überschreitung der durch Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG gezogenen Grenzen bei Bescheidung des ersten [X.] nach der zitierten bisherigen Rechtsprechung des [X.]s grundsätzlich geeignet ist, die Besorgnis der Befangenheit auszulösen. Das Ablehnungsgesuch erforderte letztendlich eine Entscheidung darüber, ob sich die abgelehnten [X.] durch die Behandlung des ersten [X.] soweit von Recht und Gesetz entfernt hatten, dass die Besorgnis ihrer Befangenheit bestand. Damit waren sie gezwungen, über ihr vorangegangenes eigenes Verhalten bei der Beschlussfassung über das erste Ablehnungsgesuch zu entscheiden und sich dadurch zu [X.]n in eigener Sache zu machen.

d) Der durch die fehlerhafte Behandlung der Ablehnungsgesuche verursachte Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG erfasst auch das angegriffene Urteil des [X.].

Die Zurückweisung eines [X.] ist zwar nach § 146 Abs. 2 VwGO unanfechtbar. Die abgelehnte [X.] und die weiteren mit dem zweiten Ablehnungsgesuch abgelehnten [X.] unterlagen daher formal nicht mehr dem Gebot des § 54 Abs. 1 VwGO in Verbindung mit § 47 Abs. 1 ZPO, der bis zur Erledigung des jeweiligen [X.] die Befugnisse des abgelehnten [X.]s auf die Vornahme unaufschiebbarer Handlungen beschränkt. Auch steht bislang nicht fest, dass tatsächlich die Besorgnis der Befangenheit bei einer der abgelehnten [X.] vorgelegen hätte.

In der Konsequenz der in Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verbürgten Garantie, nicht vor einem [X.] stehen zu müssen, dem es an der gebotenen Neutralität mangelt (vgl. [X.] 89, 28 <36>), liegt es jedoch auch, nicht vor einem [X.] stehen zu müssen, über dessen Ablehnung unter Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG entschieden worden ist (vgl. [X.], 72 <75 ff.>).

Die hinter dem Ablehnungsgesuch stehende Partei kann so lange nicht davon ausgehen, dass sie unabhängigen [X.]n gegenübersteht, bis diese Frage von dem zuständigen Gericht ohne Beteiligung der möglicherweise befangenen [X.] geklärt ist. Sie muss im Falle einer nach den dargelegten Kriterien unzulässigen Selbstentscheidung befürchten, dass die Entscheidung über ihr Ablehnungsgesuch maßgeblich von [X.]n beeinflusst ist, die der Sache nicht mit der notwendigen Distanz und Neutralität gegenüberstehen und dass sich diese Voreingenommenheit auch in der anschließend zu treffenden Sachentscheidung fortsetzt. Aus den genannten Gründen ist immer dann, wenn ein Fall unzulässiger Selbstentscheidung vorliegt, davon auszugehen, dass auch die dem Ablehnungsgesuch folgende Sachentscheidungen mit dem Makel des Verstoßes gegen den gesetzlichen [X.] behaftet ist.

3. Die Entscheidungen des [X.] sind aufzuheben und die Sache gemäß § 95 Abs. 2 [X.] an das Verwaltungsgericht zurückzuverweisen, da nicht auszuschließen ist, dass sie auf dem festgestellten Verfassungsverstoß beruhen. Ob die Entscheidung des [X.] ebenfalls gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verstößt, kann offen bleiben. Die Entscheidung wird durch die Aufhebung des verwaltungsgerichtlichen Urteils gegenstandslos.

V.

Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 [X.].

VI.

Der Gegenstandswert für das Verfassungsbeschwerdeverfahren ist nach § 37 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit § 14 Abs. 1 RVG (vgl. [X.] 79, 365 <366 ff.>) auf 8.000 € festzusetzen. Es ist nicht erkennbar, dass die Beschwerdeführerin ein über diesen Betrag hinausgehendes Interesse hat.

Meta

1 BvR 2853/11

11.03.2013

Bundesverfassungsgericht 1. Senat 1. Kammer

Stattgebender Kammerbeschluss

Sachgebiet: BvR

vorgehend Sächsisches Oberverwaltungsgericht, 27. September 2011, Az: 4 A 186/10, Beschluss

Art 101 Abs 1 S 2 GG, § 93c Abs 1 S 1 BVerfGG, § 14 Abs 1 RVG, § 37 Abs 2 S 2 RVG, § 2 Nr 1 UmwG 1995, § 54 Abs 1 VwGO, § 121 Nr 1 VwGO, § 42 ZPO, § 44 ZPO, § 45 ZPO

Zitier­vorschlag: Bundesverfassungsgericht, Stattgebender Kammerbeschluss vom 11.03.2013, Az. 1 BvR 2853/11 (REWIS RS 2013, 7531)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2013, 7531

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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