Bundesverfassungsgericht, Stattgebender Kammerbeschluss vom 16.09.2010, Az. 2 BvR 1608/07

2. Senat 2. Kammer | REWIS RS 2010, 3271

Foto: © Bundesverfassungsgericht │ foto USW. Uwe Stohrer, Freiburg

VERFASSUNG STRAFRECHT STRAFVERFAHREN AUSLIEFERUNG

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Gegenstand

Stattgebender Kammerbeschluss: Gebot einer verfassungskonformen Auslegung des § 22 Abs 3 S 2 IRG in Evidenzfällen - Pflicht des AG zur jedenfalls summarischen Prüfung der Haftvoraussetzungen der §§ 15, 16 IRG - hier: Festhalteanordnung (§ 22 IRG) bezüglich eines wegen politischer Verfolgung anerkannten Asylbewerbers begründet Verletzung von Art 2 Abs 2 S 2 GG iVm Art 104 Abs 1, Abs 2, Abs 3 GG bei mangelnder Prüfung eines Auslieferungshindernisses gem § 6 Abs 2 IRG


Tenor

Die Beschlüsse des [X.] vom 13. September 2006 - 381 [X.] 552/06 - sowie des [X.] vom 18. Juni 2007 - (4) Ausl. A. 915/06 (183/06) - verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 2 Satz 2 in Verbindung mit Artikel 104 Absatz 1 bis 3 des Grundgesetzes.

Die Beschlüsse werden aufgehoben und die Sache an das [X.] zurückverwiesen.

...

Gründe

1

Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Anordnung der Festhaltung des Beschwerdeführers auf der Grundlage von § 22 Abs. 3 Satz 2 des Gesetzes über die [X.] ([X.]).

2

1. Der Beschwerdeführer ist [X.] Staatsangehöriger [X.] Volkszugehörigkeit.

3

a) Er reiste im Jahre 2003 in die [X.] ein und stellte einen Asylantrag. Zur Begründung trug er vor, er sei seit 1990 Mitglied der [X.] ([X.]) und habe sich bis zu seiner Festnahme, die Ende November 1991 in der [X.] Stadt [X.] stattgefunden habe, durch Propaganda und logistische Aktivitäten für die [X.] betätigt. Er sei von den [X.] Behörden mehrere Tage lang gefoltert worden und schließlich nach einem sich über mehrere Jahre hinziehenden Prozess vom Staatssicherheitsgericht [X.] wegen Staatsgefährdung beziehungsweise Landesverrats gemäß § 125 des [X.] Strafgesetzbuchs alter Fassung zu einer lebenslänglichen Freiheitsstrafe verurteilt worden. Er habe zunächst einen Teil dieser Strafe verbüßt, bevor die Haft wegen seines - auch aufgrund eines von ihm durchgeführten Hungerstreiks - angegriffenen Gesundheitszustands mehrfach unterbrochen worden sei. Während der letzten Haftunterbrechung sei er nach [X.] geflüchtet.

4

b) Das [X.] lehnte im Dezember 2004 den Antrag auf Anerkennung des Beschwerdeführers als Asylberechtigten nach Art. 16a [X.] ab, stellte aber fest, dass in seiner Person die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 des bis zum 31. Dezember 2004 geltenden Ausländergesetzes ([X.], vgl. jetzt § 60 Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes) vorlägen. Auf die gegen die Ablehnung des Asylantrags erhobene Klage hin verpflichtete das [X.] die [X.] im Juni 2006, den Beschwerdeführer als Asylberechtigten anzuerkennen; das [X.] kam dieser Verpflichtung mit einem Anerkennungsbescheid im August 2006 nach.

5

2. Am 13. September 2006 wurde der Beschwerdeführer aufgrund eines Festnahmeersuchens von [X.] vor seiner Wohnung in [X.] festgenommen und in Polizeigewahrsam verbracht. In einem Bericht des [X.] vom selben Tage, der zu seiner gerichtlichen Vorführung gefertigt wurde, heißt es unter anderem, er sei nach dem [X.] Festnahmeersuchen an mehreren Bombenanschlägen und drei Tötungsdelikten beteiligt gewesen. Er verfüge über einen Reiseausweis für Flüchtlinge, eine Aufenthaltserlaubnis für die [X.] und eine Meldeanschrift in [X.]. Er sei zudem anerkannter Asylberechtigter. Er habe über erhebliche gesundheitliche Probleme berichtet und in diesem Zusammenhang auch mehrere Schreiben einer Menschenrechtsorganisation vorgelegt, die psychosoziale Hilfen für politisch Verfolgte anbiete und aus denen sich ergebe, dass er aufgrund des Verdachts einer posttraumatischen Belastungsstörung medizinisch versorgt werden müsse. [X.] Berichte lägen nicht vor. Da nicht einzuschätzen gewesen sei, ob er aufgrund der [X.] zu seinem Gesundheitszustand überhaupt verwahrfähig sei, sei er medizinisch untersucht worden. In dem eingeholten medizinischen Bericht werde als Diagnose "Posttraumatisches, ggf. auch Hirnorganisches Psychosyndrom nach langer Haft, Folter und Hungerstreik" genannt. Zu vorsichtigem Handeln, was Haft und "Wegsperren" anbelange, werde geraten. Es handle sich gewiss um keinen Simulanten; mit schweren psychischen Krisen sei bei längerer Inhaftierung vermutlich zu rechnen. Fluchtgefahr sei eher unwahrscheinlich, da der Beschwerdeführer Umfeld und Hilfe verlöre. Er sei verwahrfähig bis zur weiteren Klärung durch [X.] am heutigen Tage.

6

Noch am Tag seiner Festnahme wurde der Beschwerdeführer dem [X.] ([X.]) vorgeführt und gemäß § 22 [X.] vernommen. Er erklärte dabei zu seiner Person, er befinde sich in psychiatrischer Behandlung. Er überreichte hierzu verschiedene Unterlagen, unter anderem eine im Auftrag der Agentur für Arbeit [X.] Mitte im April 2005 gefertigte gutachterliche Äußerung, in der ein schwergradig ausgeprägtes seelisches Leiden mit massiven psychosomatischen Beschwerden festgestellt wurde. Der zuständige Amtsrichter vermerkte daraufhin im Vernehmungsprotokoll, dass im Einklang mit der Generalstaatsanwaltschaft im Falle nachgewiesener Haftunfähigkeit die Freilassung des Beschwerdeführers erfolgen solle. Sollte sich hingegen noch ein Klärungsbedarf ergeben, sei eine Begutachtung auf Haftunfähigkeit veranlasst. Im Rahmen der durchgeführten Vernehmung sei dieser konzentriert, bewusstseinsklar und psychisch äußerlich unauffällig gewesen. Der Beistand des Beschwerdeführers erklärte seinerseits, dass dessen Verurteilung nicht im Einklang mit der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten ([X.]) stehe und gegen Art. 2, 3, 5, 6 und 19 [X.] verstoße. Deshalb sei seine Auslieferung unzulässig.

7

Das [X.] ersuchte mit nicht unterzeichnetem formularmäßigem Schreiben vom selben Tage - dabei handelt es sich um die mit der Verfassungsbeschwerde angegriffene Maßnahme dieses Gerichts - die Justizvollzugsanstalt [X.] um Aufnahme des Beschwerdeführers zum Vollzug. Als Grund der Verhaftung ist dort "vorläufige Festnahme nach §§ 19, 21 [X.]", als Haftgrund "[X.]" angegeben. Eine weitere Begründung enthält das [X.] nicht, sondern lediglich einen Hinweis auf einen Gutachtenauftrag an den aufnehmenden Arzt des [X.]. Mit weiterem Beschluss ordnete das [X.] zudem die Untersuchung der Verwahr- und Haftfähigkeit des Beschwerdeführers unter Bezugnahme auf die vom [X.] zuvor eingeholte vorläufige ärztliche Stellungnahme an. Die Begutachtung habe unverzüglich und so schnell wie möglich zu erfolgen, das Ergebnis sei unverzüglich und auf dem schnellsten Wege der Generalstaatsanwaltschaft mitzuteilen.

8

3. Unter dem 19. September 2006 gab sodann der leitende Arzt des Krankenhauses der [X.]er [X.] eine Stellungnahme zur Verwahr- und Haftfähigkeit des Beschwerdeführers ab. Der Beschwerdeführer habe zeitweise in einem Kriseninterventionsraum untergebracht und fixiert werden müssen. Er befinde sich im Hunger- und Durststreik und sei zeitweise aggressiv und beleidigend. Die jetzige Inhaftierung habe wohl frühere Erfahrungen wieder belebt und zur psychischen Dekompensation geführt; es sei nicht erkennbar, wie dieser Zustand mit legalen Mitteln durchbrochen werden könne. Aus ärztlicher Sicht erscheine daher in der aktuellen Situation eine Haftfähigkeit nicht mehr gegeben. Es könne auch nicht erwartet werden, dass im Falle der Auslieferung die zu Recht angenommenen psychischen Krisen im Falle einer potentiell langjährigen Inhaftierung in der [X.] überlebt werden könnten. Der Beschwerdeführer wurde daraufhin noch am selben Tag, dem 19. September 2006, aus der Haft entlassen.

9

4. Bereits einen Tag zuvor, am 18. September 2006, hatte der Beschwerdeführer beim [X.] beantragt, den Erlass eines [X.]s abzulehnen sowie festzustellen, dass seine Inhaftierung und seine Unterbringung im [X.]" der Vollzugsanstalt sowie die Weigerung der Justizvollzugsanstalt, den Bevollmächtigten des Beschwerdeführers zu diesem vorzulassen, rechtswidrig gewesen seien. Zur Begründung wies er unter anderem auf seine Erkrankung und die in der [X.] erlittene Folter hin.

5. Mit dem gleichfalls angegriffenen Beschluss vom 18. Juni 2007, gegen den sich der Beschwerdeführer nur insoweit wendet, als er die Rechtmäßigkeit seiner Inhaftierung betrifft, lehnte das [X.] die Anträge des Beschwerdeführers auf Gewährung einer Haftentschädigung, Feststellung der Rechtswidrigkeit seiner Inhaftierung und Auferlegung seiner notwendigen Auslagen auf die Landeskasse [X.] ab.

Zur Begründung heißt es - soweit hier von Bedeutung -, dem Beschwerdeführer stehe kein Anspruch auf Haftentschädigung nach dem Gesetz über die Entschädigung für Strafverfolgungsmaßnahmen (Strafrechtsentschädigungsgesetz - StrEG) zu, den der Gesetzgeber für diesen Bereich der Rechtshilfe bewusst ausgeschlossen habe. Etwas anderes gelte allenfalls dann, wenn die unberechtigte Verfolgung des ausländischen Staatsangehörigen von den Behörden der [X.] zu vertreten sei. So lägen die Dinge hier aber nicht. Aus dem von [X.] in dem Festnahmeersuchen mitgeteilten Sachverhalt habe sich ergeben, dass der Beschwerdeführer zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt und gegen ihn ein Vollstreckungshaftbefehl erlassen worden sei. Die Polizei sei daher nach Art. 16 Abs. 2 und 3 des [X.] vom 13. Dezember 1957 ([X.]) zu seiner vorläufigen Verhaftung berechtigt gewesen, die ebenso rechtmäßig gewesen sei wie die [X.] des [X.]. Die Angaben in dem Festnahmeersuchen hätten hierfür ausgereicht. Sein Vortrag hinsichtlich seines Hungerstreiks habe die Anordnung seiner Festhaltung durch das Amtsgericht nicht ausgeschlossen. An dem Wahrheitsgehalt seiner Angaben hätten Zweifel bestanden, da er zur Erlangung politischen Asyls zu seiner Verurteilung wegen der Begehung schwerster Verbrechen nur vage Angaben gemacht habe. Die ihn festnehmenden Polizeibeamten seien seinen Hinweisen auf seine psychischen Probleme nachgegangen und hätten ihn von dem Polizeiarzt untersuchen lassen, der seine Haftfähigkeit jedenfalls für kurze Zeit festgestellt habe. [X.] am Amtsgericht habe ihn vernommen und sodann eine [X.] nach § 22 Abs. 3 [X.] erlassen. Dabei habe der Beschwerdeführer ausweislich eines gerichtlichen Vermerks einen konzentrierten, bewusstseinsklaren und psychisch unauffälligen Eindruck gemacht. Es sei richtig, dass dies nicht in einem besonderen, begründeten Beschluss erfolgt sei. Gleichwohl liege eine derartige Anordnung vor, da der zuständige Amtsrichter in das Protokoll vom 13. September 2006 aufgenommen habe, das [X.] sei mit der Maßgabe erteilt, dass die weiteren Verfügungen der Generalstaatsanwaltschaft [X.] gebührten. Zudem habe das Amtsgericht schriftlich um die Aufnahme des Beschwerdeführers in den Haftvollzug ersucht und dabei auf seine psychische Erkrankung hingewiesen. Nach der Abgabe der ärztlichen Stellungnahme sei er umgehend aus der Haft entlassen worden. Die [X.] Behörden hätten daher die Verhaftung des Beschwerdeführers nicht zu vertreten. Schließlich sei sein Antrag auf Feststellung der Rechtswidrigkeit seiner Inhaftierung zwar zulässig, da es sich um einen schwerwiegenden Grundrechtseingriff handele, auch wenn die Strafprozessordnung eine derartige Feststellung nicht kenne. Er sei aber unbegründet, da seine vorläufige Festnahme und seine Festhaltung rechtmäßig gewesen seien. Die [X.] habe keiner Begründung bedurft, da nach § 34 StPO, § 77 [X.] nur anfechtbare Entscheidungen mit einer Begründung zu versehen seien.

1. Der Beschwerdeführer sieht sich durch die beiden angegriffenen Entscheidungen in seinen Rechten aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 bis 3 [X.] verletzt.

a) Seine Verfassungsbeschwerde sei zulässig. Es bestehe auch nach der Beendigung seiner Inhaftierung ein Interesse an der Feststellung von deren Rechtswidrigkeit. Ein [X.] ergebe sich bereits aus der Intensität des Eingriffs in seine persönliche Freiheit.

b) Die Verfassungsbeschwerde sei auch begründet.

aa) Die Regelung des § 22 Abs. 3 Satz 2 [X.] sei verfassungswidrig. Dies folge schon daraus, dass die Vorschrift als Ermächtigungsgrundlage keine materiellen Voraussetzungen für den Erlass einer [X.] enthalte. Das Amtsgericht habe lediglich die Identität der Person des Festgenommenen zu prüfen. [X.] es sich dabei um den Gesuchten, greife ein Haftmechanismus ein, dem der Betroffene wehrlos bis zur Entscheidung des zuständigen [X.] über den [X.] gegenüberstehe. § 22 Abs. 3 [X.] stehe auch mit dem Richtervorbehalt des Art. 104 [X.] nicht im Einklang. Denn das Verfahren über die Zulässigkeit einer Freiheitsentziehung müsse in jedem Fall in besonderer Weise dem Gebot effektiven Rechtsschutzes entsprechen. Dabei sei auch eine zureichende richterliche Sachaufklärung erforderlich. Die Annahme einer lediglich auf die Identitätsfeststellung beschränkten Kompetenz des Amtsgerichts sei mit den Anforderungen, die sich aus der Rechtsprechung des [X.] ([X.], 87 <98 ff.>) ergäben, nicht zu vereinbaren. Bei der Entscheidung über die Anordnung von Haft müsse die Prüfung der Tatbestandsvoraussetzungen, etwaiger Auslieferungsverbote, der offensichtlichen Unzulässigkeit der Auslieferung und auch der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Gegenstand jeder richterlichen Entscheidung im Einzelfall sein.

bb) [X.] man § 22 Abs. 3 [X.] verfassungskonform dahingehend aus, dass das Amtsgericht auch die offensichtliche Unzulässigkeit der Auslieferung und das Bestehen von [X.] im Sinne der §§ 15 und 16 [X.] zu prüfen habe, erweise sich der angegriffene Beschluss des [X.]s gemessen an diesen Maßstäben ebenfalls als verfassungswidrig. Eine Prüfung materieller Voraussetzungen habe das Amtsgericht ersichtlich nicht vorgenommen, da es noch nicht einmal eine [X.] verkündet oder schriftlich erlassen habe. Aus den Maßnahmen des Gerichts ergebe sich eine derartige [X.] nicht. Grundlage seiner Inhaftierung sei ausschließlich das an die Justizvollzugsanstalt [X.] gerichtete [X.] gewesen. Im Übrigen hätte das Amtsgericht, dem sämtliche Unterlagen aus dem Asylverfahren bei seiner Vernehmung vorgelegen hätten, ohne weiteres erkennen können, dass seine Auslieferung offensichtlich unzulässig und auch das Vorliegen von [X.] zu verneinen gewesen wäre. Ihm drohe in seinem Heimatland politische Verfolgung; für eine Fluchtgefahr habe es aufgrund seiner schwerwiegenden Erkrankung keine Anhaltspunkte gegeben.

2. Die [X.] des Landes [X.] hatte Gelegenheit zur Äußerung.

Die Verfassungsbeschwerde wird zur Entscheidung angenommen, weil dies zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerf[X.] genannten Rechte des Beschwerdeführers angezeigt ist (§ 93b [X.]. § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerf[X.]). Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig und - in einer die Entscheidungszuständigkeit der Kammer gemäß § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerf[X.] eröffnenden Weise - auch offensichtlich begründet; die für die Beurteilung maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen hat das [X.] bereits entschieden.

1. Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig. Insbesondere fehlt das erforderliche Rechtsschutzinteresse an einer Sachentscheidung des [X.] nicht etwa deshalb, weil der Beschwerdeführer aus der Haft entlassen wurde und der [X.] beendet ist. Es würde der Bedeutung des Schutzes der persönlichen Freiheit, wie ihn das Grundgesetz garantiert, nicht entsprechen, wenn das Recht auf verfassungsgerichtliche Klärung der Rechtmäßigkeit eines Eingriffs in das Freiheitsrecht bei Wiedergewährung der Freiheit ohne weiteres entfiele. Dies gilt unabhängig davon, ob der Eingriff bei Einlegung der Verfassungsbeschwerde noch andauert und erst im Laufe des verfassungsgerichtlichen Verfahrens beendet wird oder ob sich der Betroffene - wie hier - bereits bei Erhebung der Verfassungsbeschwerde nicht mehr in Haft befunden hat (vgl. [X.] 105, 239 <246>; stRspr).

2. Die Verfassungsbeschwerde ist auch offensichtlich begründet. Die angegriffenen gerichtlichen Entscheidungen verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 bis 3 [X.].

a) Art. 2 Abs. 2 Satz 2 [X.] bezeichnet die Freiheit der Person als "unverletzlich". Diese verfassungsrechtliche Grundentscheidung kennzeichnet das Freiheitsrecht als ein besonders hohes Rechtsgut, in das nur aus wichtigen Gründen eingegriffen werden darf (vgl. [X.] 10, 302 <322>; 29, 312 <316>; 65, 317 <322>). Geschützt wird die im Rahmen der geltenden allgemeinen Rechtsordnung gegebene tatsächliche körperliche Bewegungsfreiheit vor staatlichen Eingriffen (vgl. [X.] 94, 166 <198>; 96, 10 <21>), also vor Verhaftung, Festnahme und ähnlichen Maßnahmen unmittelbaren Zwangs.

Nach Art. 104 Abs. 1 Satz 1 [X.] darf die in Art. 2 Abs. 2 Satz 2 [X.] gewährleistete Freiheit der Person nur aufgrund eines förmlichen Gesetzes und nur unter Beachtung der darin vorgeschriebenen Formen beschränkt werden. Die formellen Gewährleistungen des Art. 104 [X.] stehen mit der materiellen Freiheitsgarantie des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 [X.] in unlösbarem Zusammenhang (vgl. [X.] 10, 302 <322>; 58, 208 <220>). Art. 104 Abs. 1 [X.] nimmt den schon in Art. 2 Abs. 2 Satz 3 [X.] enthaltenen Gesetzesvorbehalt auf und verstärkt ihn für alle Freiheitsbeschränkungen, indem er neben der Forderung nach einem förmlichen Gesetz die Pflicht, die sich aus diesem Gesetz ergebenden Formvorschriften zu beachten, zum Verfassungsgebot erhebt (vgl. [X.] 10, 302 <323>; 29, 183 <195>; 58, 208 <220>).

Für die Freiheitsentziehung fügt Art. 104 Abs. 2 [X.] dem Vorbehalt des (förmlichen) Gesetzes den weiteren, verfahrensrechtlichen Vorbehalt einer richterlichen Entscheidung hinzu, der nicht zur Disposition des Gesetzgebers steht (vgl. [X.] 10, 302 <323>). [X.]vorbehalt dient der verstärkten Sicherung des Grundrechts aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 [X.]. Alle staatlichen Organe sind verpflichtet dafür Sorge zu tragen, dass der Richtervorbehalt als Grundrechtssicherung praktisch wirksam wird ([X.] 105, 239 <248>). Die Freiheitsentziehung erfordert nach Art. 104 Abs. 2 Satz 1 [X.] grundsätzlich eine vorherige richterliche Anordnung. Eine nachträgliche richterliche Entscheidung, deren Zulässigkeit in Ausnahmefällen Art. 104 Abs. 2 Satz 2 [X.] voraussetzt, genügt nur, wenn der mit der Freiheitsentziehung verfolgte verfassungsrechtlich zulässige Zweck nicht erreichbar wäre, sofern der Festnahme die richterliche Entscheidung vorausgehen müsste (vgl. [X.] 22, 311 <317>; 105, 239 <248 f.>; [X.], 87 <99>).

Die freiheitssichernde Funktion des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 [X.] setzt weiterhin Maßstäbe für die Aufklärung des Sachverhalts und damit für Anforderungen in Bezug auf die tatsächliche Grundlage der richterlichen Entscheidungen. Es ist unverzichtbare Voraussetzung rechtsstaatlicher Verfahren, dass Entscheidungen, die den Entzug der persönlichen Freiheit betreffen, auf zureichender richterlicher Sachaufklärung beruhen und eine in tatsächlicher Hinsicht genügende Grundlage haben, die der Bedeutung der Freiheitsgarantie entspricht ([X.] 70, 297 <308>; [X.], 87 <100>). Angesichts des hohen Ranges des Freiheitsgrundrechts gilt dies in gleichem Maße, wenn die nachträgliche Feststellung der Rechtswidrigkeit einer freiheitsentziehenden Maßnahme in Rede steht ([X.], 87 <100>).

b) Den sich aus diesen Maßstäben ergebenden verfassungsrechtlichen Anforderungen werden die angegriffenen Beschlüsse des Amts- und des [X.]s nicht gerecht (bb). Soweit der Beschwerdeführer allerdings die Verfassungswidrigkeit der Regelung des § 22 Abs. 3 Satz 2 [X.] als solches rügt, hat seine Verfassungsbeschwerde keinen Erfolg (aa).

aa) Bei der Anordnung der Festhaltung auf der Grundlage von § 22 Abs. 3 Satz 2 [X.] erfolgt zwar eine eigenständige richterliche Entscheidung vor der Freiheitsentziehung. Diese gewährleistet dem Betroffenen aber nach dem Wortlaut des Gesetzes ausschließlich einen Schutz vor einer Personenverwechslung. Dem Amtsgericht wird damit die richterliche Verantwortung für die Freiheitsentziehung abverlangt, ohne andererseits den Eintritt in eine auch nur kursorische Prüfung der Zulässigkeit dieser Maßnahme zu gestatten (vgl. [X.]/[X.]/[X.], in: [X.]/[X.]/[X.]/[X.], [X.], 4. Auflage 2006, Vor §§ 21, 22 [X.] Rn. 22; [X.], in: [X.]/[X.]/[X.], Internationaler Rechtshilfeverkehr in Strafsachen, 3. Auflage, Loseblatt: Stand Juni 2010, § 22 [X.] Rn. 12; vgl. im Hinblick auf die Regelungen der §§ 14, 15 und 21 des [X.] vom 23. Dezember 1929: [X.], [X.] und Grundgesetz, 1970, S. 246 ff.).

Dies steht nicht ohne weiteres im Einklang mit der aufgezeigten freiheitssichernden Funktion des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 [X.] und dem sich aus Art. 104 [X.] ergebenden Verfassungsgebot einer richterlichen Prüfung der Zulässigkeit und Fortdauer jeglicher Freiheitsentziehung und der Übernahme der diesbezüglichen Verantwortung. Es ist unverzichtbare Voraussetzung rechtsstaatlichen Verfahrens, dass Entscheidungen, die den Entzug der persönlichen Freiheit betreffen, auf zureichender richterlicher Sachaufklärung beruhen und eine in tatsächlicher Hinsicht genügende Grundlage haben, die der Bedeutung der Freiheitsgarantie entspricht (vgl. [X.] 109, 133 <162>; [X.], 87 <100>).

Die Regelung des § 22 Abs. 3 Satz 2 [X.] lässt jedoch eine solche Sachaufklärung von vornherein nicht zu. Eine derartige Reduzierung der (amts-) richterlichen Überprüfung und Entscheidungskompetenz "auf Null" (vgl. [X.], a.a.[X.], § 22 [X.] Rn. 12) lässt sich unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten schwerlich rechtfertigen, zumal in der anschließenden Entscheidung über die Anordnung der Auslieferungshaft nach § 15 [X.] sehr wohl materielle Voraussetzungen für die Freiheitsentziehung geprüft werden. Allein der Umstand, dass von einem Amtsgericht nicht "die Kenntnis der Rechtsprechung auf diesem entlegenen Sondergebiet erwartet werden" ([X.], 44 <50>) kann, lässt es nicht zu, die Prüfung der materiellen Voraussetzungen für die Freiheitsentziehung auf einen ungewissen späteren Zeitpunkt - die Entscheidung des [X.] über die Auslieferungshaft (vgl. § 17 Abs. 1 [X.]) - zu verschieben und die [X.]e von einer Bindung an Entscheidungsfristen freizustellen (so aber der Sache nach [X.], 44 <50>; vgl. kritisch hierzu: [X.]/[X.]/[X.], a.a.[X.], Vor §§ 21, 22 [X.] Rn. 23).

Um derartige verfassungsrechtlich bedenkliche Ergebnisse zu vermeiden, bedarf es einer verfassungskonformen Auslegung der Regelung des § 22 Abs. 3 Satz 2 [X.] (vgl. [X.], a.a.[X.], § 22 Rn. 26; [X.]/[X.]/[X.], a.a.[X.], Vor §§ 21, 22 [X.] Rn. 13, 26 ff.). Das Amtsgericht ist zumindest in [X.] verpflichtet, bevor es seine [X.] oder [X.] trifft, auf der (schmalen) ihm zu diesem Zeitpunkt zugänglichen Erkenntnisgrundlage und daher notwendig in summarischer Weise auch die [X.] der §§ 15, 16 [X.] in seine Prüfung einzubeziehen. Ergeben sich bei dieser Prüfung konkrete Anhaltspunkte dafür, dass ein Haftgrund offensichtlich nicht vorliegt oder dass die Auslieferung von vornherein unzulässig ist, muss das Amtsgericht vor seiner Entscheidung zunächst versuchen, die Sach- und Rechtslage innerhalb der ihm gesetzten Frist mit der Generalstaatsanwaltschaft zu erörtern, damit diese entweder die umgehende Freilassung des Festgenommenen verfügen oder aber sachliche oder rechtliche Erkenntnisse einbringen kann, welche die Zulässigkeit der Auslieferungshaft und mithin der [X.] nach § 22 Abs. 3 Satz 2 [X.] begründen. Schlägt ein solcher Versuch fehl oder kommt der Kontakt zur Generalstaatsanwaltschaft nicht zustande (etwa an Wochenenden oder Feiertagen), bleiben jedoch nach Auffassung des Amtsgerichts durchgreifende Bedenken gegen die Zulässigkeit der Haft bestehen, über die nicht innerhalb der Fristen des § 22 [X.] das [X.] entscheiden kann, so muss es in [X.], verfassungskonformer Auslegung des § 22 Abs. 3 [X.] eine Freilassungsanordnung erlassen (vgl. [X.], a.a.[X.], § 22 Rn. 26 f.; [X.]/[X.]/[X.], a.a.[X.], Vor §§ 21, 22 [X.] Rn. 25 ff.).

bb) Die beiden Fachgerichte haben sich vorliegend namentlich nicht hinreichend mit der dem Beschwerdeführer drohenden Gefahr politischer Verfolgung in der [X.] auseinandergesetzt, obwohl sich die Prüfung eines daraus folgenden [X.] nach § 6 Abs. 2 [X.] aufdrängen musste.

(1) Das Amtsgericht hat hier - offenbar einer in der Praxis üblichen Vorgehensweise entsprechend (vgl. [X.]/[X.], in: [X.]/[X.]/[X.]/ [X.], [X.], § 22 [X.] Rn. 8) - keine schriftliche [X.] gemäß § 22 Abs. 3 Satz 2 [X.] erlassen, sondern lediglich um Aufnahme des Beschwerdeführers in die Justizvollzugsanstalt ersucht. Damit fehlt es schon an einer für den Beschwerdeführer und das [X.] nachprüfbaren Entscheidung über die Freiheitsentziehung, die den vom Amtsgericht eigenständig getroffenen Maßnahmen nur gewissermaßen stillschweigend zugrunde liegt; mit den Verfahrensgarantien des Art. 104 Abs. 2 und Abs. 3 [X.] steht eine solche Verfahrensweise nicht im Einklang. Sie widerspricht der gerichtlichen Informationspflicht und erschwert die Eröffnung der Verteidigungs- und Einwendungsmöglichkeiten des Festgenommenen. In der Sache ist das Amtsgericht vorliegend zwar insoweit auf das Vorbringen des Beschwerdeführers eingegangen, als es im Hinblick auf seine gesundheitlichen Probleme eine umgehende ärztliche Untersuchung durch den aufnehmenden Arzt des [X.] angeordnet hat. Es fehlt aber insbesondere an jeder Auseinandersetzung mit dem - auch dem Amtsgericht bekannten - Umstand, dass der Beschwerdeführer als Asylberechtigter anerkannt und daher davon auszugehen ist, dass er in der [X.] politischer Verfolgung ausgesetzt war und ihm im Falle seiner Rückkehr möglicherweise auch erneut eine politische Verfolgung droht, was jedenfalls Anlass zur Prüfung eines [X.] nach § 6 Abs. 2 [X.] gibt.

(2) Der Beschluss des [X.]s erfüllt die verfassungsrechtlichen Anforderungen ebenfalls nicht. Das [X.] äußert lediglich Zweifel an dem Wahrheitsgehalt der Angaben des Beschwerdeführers, ohne sich damit vertieft auseinanderzusetzen, dass von dem dafür zuständigen und sachkundigen [X.] die Voraussetzungen des § 51 [X.] im Hinblick auf den Beschwerdeführer bejaht worden waren. Der bloße Hinweis darauf, dass der Beschwerdeführer nur "vage Angaben" gemacht habe, stellt noch keine ausreichende - auch im Auslieferungsverfahren verfassungsrechtlich gebotene (vgl. [X.] 60, 348 <358>) - Prüfung der Frage dar, ob die Auslieferung des Beschwerdeführers möglicherweise im Hinblick auf die ihm drohende politische Verfolgung in der [X.] nach § 6 Abs. 2 [X.] unzulässig sein könnte.

(3) Ebenso wenig befassen sich beide Gerichte mit der gleichermaßen naheliegenden Frage, ob im Falle des Beschwerdeführers, der über ein gesichertes Aufenthaltsrecht und eine Meldeanschrift in [X.] verfügt, auch angesichts seines Gesundheitszustands eine Fluchtgefahr (vgl. § 15 Abs. 1 Nr. 1 [X.]) ausnahmsweise verneint werden kann.

3. Die beiden angegriffenen Beschlüsse sind daher aufzuheben. Die Sache ist an das [X.] zurückzuverweisen (§ 93c Abs. 2 [X.]. § 95 Abs. 2 BVerf[X.]).

Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen beruht auf § 34a Abs. 2 BVerf[X.].

Meta

2 BvR 1608/07

16.09.2010

Bundesverfassungsgericht 2. Senat 2. Kammer

Stattgebender Kammerbeschluss

Sachgebiet: BvR

vorgehend KG Berlin, 18. Juni 2007, Az: (4) Ausl. A. 915/06 (183/06), Beschluss

Art 104 Abs 1 GG, Art 104 Abs 2 GG, Art 104 Abs 3 GG, Art 2 Abs 2 S 2 GG, § 51 Abs 1 AuslG 1990, § 93c Abs 1 S 1 BVerfGG, Art 16 Abs 2 EuAuslfÜbk, Art 16 Abs 3 EuAuslfÜbk, § 15 IRG, § 16 IRG, § 22 Abs 3 S 2 IRG, § 6 Abs 2 IRG, MRK, StrEG

Zitier­vorschlag: Bundesverfassungsgericht, Stattgebender Kammerbeschluss vom 16.09.2010, Az. 2 BvR 1608/07 (REWIS RS 2010, 3271)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2010, 3271

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