Bundesgerichtshof, Beschluss vom 26.05.2020, Az. VIII ZR 64/19

8. Zivilsenat | REWIS RS 2020, 694

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RECHTLICHES GEHÖR MIETE RÄUMUNGSKLAGE HÄRTEFALL

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Gegenstand

Kündigung eines Wohnraummietvertrags: Gerichtliche Berücksichtigung des Vortrags zur unzumutbaren Härte


Leitsatz

Beruft sich der Mieter im Räumungsprozess darauf, die Beendigung des Mietverhältnisses stelle für ihn eine unzumutbare Härte dar (§ 574 Abs. 1 Satz 1 BGB) und trägt er zu seinen diesbezüglich geltend gemachten gesundheitlichen Beeinträchtigungen substantiiert sowie unter Vorlage aussagekräftiger fachärztlicher Atteste vor, verstößt die Nichteinholung eines Sachverständigengutachtens zum Gesundheitszustand des Mieters sowie zu der Art, dem Umfang und den konkreten Auswirkungen seiner - behaupteten - Erkrankungen auf die Lebensführung im Allgemeinen und im Falle des Verlusts der vertrauten Umgebung regelmäßig gegen das Gebot rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG; im Anschluss an Senatsurteile vom 22. Mai 2019 - VIII ZR 180/18, BGHZ 222, 133, Rn. 31, 44 und VIII ZR 167/17, NJW-RR 2019, 972 Rn. 38).

Tenor

Auf die Nichtzulassungsbeschwerde der Beklagten wird der Beschluss des [X.] - 4. Zivilkammer - vom 19. Februar 2019 in der Fassung des [X.] vom 28. Februar 2019 aufgehoben.

Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des [X.]s, an eine andere Kammer des Berufungsgerichts zurückverwiesen.

Gerichtskosten für das [X.] werden nicht erhoben.

Der Streitwert für das [X.] wird auf 7.000,32 € festgesetzt.

Gründe

I.

1

Die [X.] sind seit dem [X.] Mieter einer Fünf-Zimmer-Wohnung des [X.] in K.  .

2

Im April 2017 kündigte der Kläger das Mietverhältnis wegen Eigenbedarfs, da sein 1997 geborener [X.] nach inzwischen abgeschlossener Berufsausbildung einen eigenen Hausstand begründen und in die Wohnung einziehen wolle. Die [X.] widersprachen der Kündigung und beriefen sich auf das Vorliegen von [X.] (§ 574 Abs. 1 Satz 1 BGB). Ein Umzug sei ihnen aus gesundheitlichen Gründen nicht zuzumuten.

3

Diesbezüglich legten die [X.] mit der Klageerwiderung zahlreiche Atteste über ihre gesundheitlichen Beeinträchtigungen sowie amtliche Bescheinigungen über einen Behinderungsgrad des Ehemanns (GdB) von 70 und der Ehefrau von 40 vor. Ausweislich der Atteste leidet der 1944 geborene Beklagte zu 1 unter diversen gesundheitlichen Beeinträchtigungen, unter anderem an einer fortgeschrittenen [X.] (chronic obstructive pulmonary desease; Chronische obstruktive Lungenerkrankung) mit rezidivierenden Infektacerbationen und Lungenentzündungen, einer arteriellen Hypotonie, Diabetes sowie einem Zustand nach Aortenklappenprothese. Die Atteste des Facharztes für innere Medizin Dr. L.    vom 17. Juli 2017, vom 5. und 15. März 2018 führen aus, dass dem [X.] zu 1 ein Umzug aus gesundheitlichen Gründen nicht zumutbar und für diesen Fall eine weitere Verschlechterung des Gesundheitszustandes zu befürchten sei. Im Laufe des erstinstanzlichen Verfahrens legten die [X.] ein Attest des Facharztes für Neurologie S.       vom 16. April 2018 vor. Darin ist ausgeführt, dass sich der Beklagte zu 1 seit dem [X.] in der ambulanten nervenärztlichen Behandlung befinde. Der Patient sei aufgrund seiner multiplen Erkrankungen in seiner Belastbarkeit erheblich eingeschränkt. Insbesondere aufgrund einer stark reduzierten kognitiven Anpassungsmöglichkeit könne er sich an Veränderungen in seinem unmittelbaren Lebensumfeld schwer gewöhnen. Eine Veränderung der Wohnsituation hätte eine Verschlimmerung der Anpassungsminderung zur Folge.

4

Das Amtsgericht hat von der zunächst beabsichtigten Einholung eines Sachverständigengutachtens zur Frage, ob den [X.] aufgrund der von diesen behaupteten Erkrankungen ein Umzug unzumutbar sei, abgesehen und nach Vernehmung von [X.] - ohne Gewährung einer Räumungsfrist - stattgegeben.

5

Im Berufungsverfahren haben die [X.] weitere (aktuelle) Atteste, unter anderem ein Attest des behandelnden Neurologen vorgelegt, worin dem [X.] zu 1 (unter anderem) ein dementielles Syndrom mit organischer Hirnstörung und Verhaltensstörung bescheinigt wird, aufgrund dessen der Patient in seiner [X.] massiv beeinträchtigt sei. Er könne Veränderungen seiner Umgebung nicht mehr adäquat verarbeiten und reagiere darauf mit vermehrter Ratlosigkeit. In fremder, neuer Umgebung infolge eines Wohnortwechsels würde sich die Symptomatik verschlechtern. Das [X.] hat die Berufung durch Beschluss gemäß § 522 Abs. 2 ZPO - ebenfalls ohne Gewährung einer Räumungsfrist - zurückgewiesen.

6

Die Revision hat das [X.] nicht zugelassen. Hiergegen richtet sich die Nichtzulassungsbeschwerde der [X.], mit der sie die Zulassung der Revision mit dem Ziel begehren, ihren Klageabweisungsantrag weiterzuverfolgen.

II.

7

Das Berufungsgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung, soweit für das Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde von Interesse, im Wesentlichen ausgeführt:

8

Es sei an die Tatsachenfeststellungen in erster Instanz gebunden, da weder bei der Beweiserhebung noch bei der Beweiswürdigung Rechtsfehler erkennbar seien. Die Berufungsbegründung erschöpfe sich, soweit nicht neuer, jedoch in zweiter Instanz von vornherein grundsätzlich präkludierter und auch in vorliegendem Fall zurückzuweisender Vortrag erfolge, darin, dem Erstgericht eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör vorzuwerfen.

9

Zwar habe das Amtsgericht im Widerspruch zu seinem Beweisbeschluss von einer weiteren Beweisaufnahme in Form der - zuvor noch für notwendig angesehenen - Einholung eines Sachverständigengutachtens abgesehen. Dies sei jedoch unter den vorliegenden Verhältnissen nicht zu beanstanden.

Denn das Amtsgericht habe auf der Grundlage der durchgeführten Beweisaufnahme - der Vernehmung von Zeugen - sowie im Rahmen seiner tatrichterlichen freien Überzeugungsbildung (§ 286 ZPO) auch ohne Abwarten eines Gutachtens bereits zu dem Ergebnis kommen dürfen, die "unzweifelhaft bedauerlichen" gesundheitlichen Beeinträchtigungen der [X.] könnten zumindest im Rahmen des ([X.] des § 574 BGB der Wirksamkeit der Eigenbedarfskündigung nicht entgegengehalten werden.

Es ergebe sich kein Anhaltspunkt dafür, dass die [X.] an derartig schweren Erkrankungen litten, dass für sie praktisch jede Form eines längeren Ortswechsels unzumutbar wäre oder sie gerade auf die örtlichen Verhältnisse der von ihnen genutzten Wohnung besonders angewiesen seien. Die altersbedingten Beschwerden der [X.] begründeten keine besonderen Härten, welche ausnahmsweise zu Lasten des in seinem Eigentumsrecht geschützten Vermieters zu berücksichtigen wären. Ein schlichtes Unbehagen vor einem Umzug, wie es im [X.] aus dem ohnehin präkludierten Vortrag in der Berufungsbegründung nur abgeleitet werden könne, stelle keinen tauglichen Widerspruchsgrund dar.

III.

Die Nichtzulassungsbeschwerde ist zulässig, insbesondere ist der [X.] nach § 544 Abs. 2 Nr. 1 ZPO erreicht. Sie hat auch in der Sache Erfolg, weil die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des [X.] erfordert (§ 543 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 Alt. 2 ZPO). Das Berufungsgericht hat den Anspruch der [X.] auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) in entscheidungserheblicher Weise verletzt, da über das Vorliegen ihrer behaupteten Erkrankungen sowie die Auswirkungen einer Räumung auf ihre gesundheitliche Situation der angebotene Beweis durch Einholung eines Sachverständigengutachtens nicht erhoben wurde. Dies führt gemäß § 544 Abs. 9 ZPO zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.

1. Das Gebot rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) verpflichtet das Gericht, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Als Prozessgrundrecht soll es sicherstellen, dass die Entscheidung frei von Verfahrensfehlern ergeht, welche ihren Grund in der unterlassenen Kenntnisnahme und der Nichtberücksichtigung des Sachvortrags der Parteien haben. In diesem Sinne gebietet Art. 103 Abs. 1 GG in Verbindung mit den Grundsätzen der Zivilprozessordnung die Berücksichtigung erheblicher Beweisanträge. Die Nichtberücksichtigung eines solchen erheblichen Beweisangebots verstößt gegen Art. 103 Abs. 1 GG, wenn sie im Prozessrecht keine Stütze mehr findet (st. Rspr.; siehe etwa [X.] 50, 32, 36; 65, 305, 307; 69, 141, 144; [X.], Beschlüsse vom 21. Oktober 2014 - [X.], NJW-RR 2015, 910 Rn. 13; vom 16. Juni 2016 - [X.], juris Rn. 5; vom 11. Oktober 2016 - [X.], NJW-RR 2017, 75 Rn. 10; vom 28. Januar 2020 - [X.], [X.], 476 Rn. 4; jeweils mwN).

2. So liegen die Dinge hier. Das Berufungsgericht durfte das Vorliegen einer Härte (§ 574 Abs. 1 Satz 1 BGB) nicht verneinen, ohne den (angebotenen) [X.] zu den behaupteten Erkrankungen sowie den gesundheitlichen Auswirkungen eines erzwungenen Umzugs für die [X.] zu erheben.

a) Nach § 574 Abs. 1 Satz 1 BGB kann der Mieter die Fortsetzung des Mietverhältnisses verlangen, wenn dessen Beendigung für ihn, seine Familie oder seine Haushaltsangehörigen eine Härte bedeuten würde, die auch unter Würdigung der berechtigten Interessen des Vermieters nicht zu rechtfertigen ist.

aa) Der Tatrichter ist dabei gehalten, sich durch gründliche und sorgfältige Sachverhaltsfeststellung vom Vorliegen der von dem Mieter geltend gemachten Härtegründe und der berechtigten Interessen des Vermieters zu überzeugen. Einen Härtegrund in diesem Sinne stellen - soweit vorliegend von Relevanz - etwa leichtere Erkrankungen des Mieters in Verbindung mit weiteren Umständen (Alter, durch eine lange Mietdauer geprägte Verwurzelung im bisherigen Lebensumfeld), weiter ein gesundheitlicher Zustand, der für sich genommen einen Umzug nicht zulässt oder schließlich die ernsthafte Gefahr einer erheblichen Verschlechterung der gesundheitlichen Situation des (schwer) erkrankten Mieters im Falle eines Wohnungswechsels dar (vgl. [X.]surteil vom 22. Mai 2019 - [X.]/18, [X.]Z 222, 133 Rn. 31).

bb) Bei der anschließenden Würdigung und Gewichtung der beiderseitigen Belange haben die Tatsacheninstanzen darauf zu achten, sich nicht in Widerspruch zu verfassungsrechtlich verbürgten Rechtspositionen der Mietvertragsparteien zu setzen. Weiter haben sie zu berücksichtigen, dass die Abwägung stets auf der Grundlage der sorgfältig festzustellenden Einzelfallumstände zu erfolgen hat (vgl. [X.]surteil vom 22. Mai 2019 - [X.]/18, aaO Rn. 37).

Macht der Mieter - wie vorliegend - für den Fall eines erzwungenen Wohnungswechsels substantiiert ihm drohende schwerwiegende Gesundheitsgefahren geltend, haben sich die Tatsacheninstanzen daher - beim Fehlen eigener Sachkunde - regelmäßig mittels sachverständiger Hilfe ein genaues und nicht nur an der Oberfläche haftendes Bild davon zu verschaffen, welche gesundheitlichen Folgen im Einzelnen mit einem Umzug verbunden sind, insbesondere welchen Schweregrad zu erwartende Gesundheitsbeeinträchtigungen voraussichtlich erreichen werden und mit welcher Wahrscheinlichkeit dies eintreten kann. Diese Verpflichtung zu besonders sorgfältiger Nachprüfung des [X.] bei schwerwiegenden Eingriffen in das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit folgt nicht zuletzt aus der grundrechtlichen Verbürgung in Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG (vgl. [X.]surteile vom 22. Mai 2019 - [X.]/18, aaO Rn. 41 und [X.], NJW-RR 2019, 972 Rn. 37; jeweils mwN).

Trägt der Mieter unter Vorlage eines (aussagekräftigen) Attests des behandelnden Facharztes - vorliegend sogar mehrerer - vor, ihm sei ein Umzug wegen einer schweren Erkrankung nicht zuzumuten, ist im Falle des Bestreitens dieses Vortrags regelmäßig die - beim Fehlen eines entsprechenden Beweisantritts von Amts wegen vorzunehmende (§ 144 ZPO) - Einholung eines Sachverständigengutachtens zu der Art, dem Umfang und den konkreten Auswirkungen der beschriebenen Erkrankung auf die Lebensführung des betroffenen Mieters im Allgemeinen und im Falle des Verlusts der vertrauten Umgebung erforderlich. Dabei sind nicht nur Feststellungen zu der Art und dem Ausmaß der Erkrankungen sowie den damit konkret einhergehenden gesundheitlichen Einschränkungen, sondern auch zu den konkret feststellbaren oder zumindest zu befürchtenden Auswirkungen eines erzwungenen Wohnungswechsels zu treffen, wobei im letzteren Fall auch die Schwere und der Grad der Wahrscheinlichkeit der zu befürchtenden gesundheitlichen Einschränkungen zu klären ist. Erst dies versetzt den Tatrichter in einem solchen Fall in die Lage, die Konsequenzen, die für den Mieter mit dem Umzug verbunden sind, im Rahmen der nach § 574 Abs. 1 BGB notwendigen Abwägung sachgerecht zu gewichten (vgl. [X.]surteile vom 22. Mai 2019 - [X.]/18, aaO Rn. 44 und [X.] aaO Rn. 38; jeweils mwN).

b) Hiernach bestand vorliegend die Verpflichtung zur Einholung eines Sachverständigengutachtens.

aa) Die Frage, ob die behaupteten Erkrankungen der [X.] einen Umzug nicht zulassen oder im Falle eines Umzugs eine erhebliche Verschlechterung ihres Gesundheitszustandes droht, hatte das Berufungsgericht nur mit Hilfe eines oder mehrerer Sachverständigen zu klären und durfte es nicht allein aufgrund der erstinstanzlich gemachten Angaben zweier Zeugen beurteilen.

Diese Beweisaufnahme bezog sich - worauf die Nichtzulassungsbeschwerde zutreffend verweist - nur auf den [X.] zu 1. Zudem konnten aus ihr die nach [X.] gebotenen Erkenntnisse zum Gesundheitszustand der [X.] nicht ansatzweise gewonnen werden. Die Zeugen machten lediglich Angaben dazu, welchen Verrichtungen der Beklagte zu 1 im Rahmen einer Arbeitstätigkeit noch nachgehen kann beziehungsweise inwiefern er auf die Hilfestellung Dritter angewiesen ist und er im Stande sei, noch Fußballspiele zu besuchen. Hinsichtlich des Gesundheitszustands der [X.] zu 2 wurde ein Beweis nicht erhoben, sondern stellte das Amtsgericht lediglich fest, diese sei dem Gericht als "muntere Person" bekannt.

bb) Entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts haben die [X.] - was nach [X.] geboten ist - konkret zu ihren gesundheitlichen Beeinträchtigungen vorgetragen und zahlreiche ausführliche fachärztliche Atteste sowie die jeweiligen Bescheide zur Feststellung eines Grades der Behinderung - beim [X.] zu 1 besteht ein GdB von 70, bei der [X.] zu 2 ein GdB von 40 - vorgelegt. Hiernach behauptet der Beklagte zu 1 unter anderem aufgrund einer fortgeschrittenen [X.], einer deutlichen Beschränkung der körperlichen Belastbarkeit und einem Zustand nach Aortenklappenersatz bei [X.] sei ihm ein Umzug ohne gesundheitliche Schäden nicht möglich. Zudem hat er - was das Berufungsgericht völlig unbeachtet gelassen hat - das aussagekräftige Attest eines Neurologen vorgelegt, wonach seine kognitiven Anpassungsmöglichkeiten stark reduziert seien und er in seiner [X.] so weit beeinträchtigt sei, dass eine Veränderung der Wohnsituation zu einer Verschlimmerung seiner krankheitsbedingten Anpassungsminderung führen würde. Mit der Berufungsbegründung haben die [X.] ein aktualisiertes Attest dieses behandelnden Neurologen vorgelegt, wonach der Beklagte zu 1 aufgrund eines dementiellen Syndroms mit organischer Hirnstörung und Verhaltensstörung in seiner [X.] massiv beeinträchtigt sei und daher Veränderungen seiner Umgebung nicht mehr adäquat verarbeiten könne. Es sei davon auszugehen, dass sich die Symptomatik in fremder, neuer Umgebung verschlechtern würde.

Damit haben die [X.] entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts nicht lediglich ein "schlichtes Unbehagen vor einem Umzug", sondern hinreichend substantiiert physische sowie (bezüglich des [X.] zu 1) psychische Erkrankungen dargelegt, die allein oder in Verbindung mit weiteren Umständen einen Härtegrund im Sinne des § 574 Abs. 1 Satz 1 BGB begründen können. Sofern das Berufungsgericht demgegenüber die Erkrankungen als lediglich "altersbedingte Beschwerden" bagatellisiert sowie die gesundheitlichen Auswirkungen des erzwungenen Wohnungswechsels selbst beurteilt hat, hat es sich eine Sachkunde angemaßt, über die es - offensichtlich - nicht verfügt.

c) Rechtsfehlerhaft hat das Berufungsgericht das Unterlassen der Einholung eines Sachverständigengutachtens auch darauf gestützt, der zweitinstanzliche Vortrag der [X.] sei "präkludiert" und damit nach § 531 Abs. 2, § 529 Abs. 1 ZPO nicht berücksichtigungsfähig.

Zum einen verpflichteten - wie ausgeführt - bereits die substantiierten Ausführungen zum Gesundheitszustand der [X.] in erster Instanz dazu, den angebotenen [X.] zu erheben. Zum anderen ist der Vortrag - entgegen der nicht näher begründeten Ansicht des Berufungsgerichts - nicht neu im Sinne des § 531 Abs. 2 ZPO und damit ohne weiteres gemäß § 529 Abs. 1 ZPO berücksichtigungsfähig. Denn ein Vortrag in zweiter Instanz ist dann nicht neu, wenn ein bereits schlüssiges Vorbringen aus erster Instanz durch weitere Tatsachenbehauptungen zusätzlich konkretisiert, verdeutlicht oder erläutert wird (st. Rspr.; vgl. [X.], Urteile vom 8. Juni 2004 - [X.], [X.]Z 159, 245, 251; vom 21. Dezember 2011 - [X.], NJW-RR 2012, 341 Rn. 15; vom 19. Februar 2016 - [X.], NJW 2016, 2315 Rn. 27; Beschluss vom 23. August 2016 - [X.], NJW-RR 2017, 72 Rn. 20; jeweils mwN). Dies ist vorliegend der Fall, da die [X.] in der Berufungsbegründung sowie in ihrer Stellungnahme zum Hinweisbeschluss nach § 522 Abs. 2 Satz 2 ZPO lediglich näher zu ihren bereits erstinstanzlich detailliert vorgebrachten Erkrankungen vorgetragen und zwischenzeitlich ausgestellte Atteste vorgelegt haben.

d) Diese dem Berufungsgericht unterlaufene Gehörsverletzung ist auch entscheidungserheblich (§ 544 Abs. 9 ZPO). Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Berufungsgericht nach Einholung eines Sachverständigengutachtens vom Vorliegen eines Härtegrundes im Sinne des § 574 Abs. 1 Satz 1 BGB ausgegangen wäre (vgl. hierzu [X.]surteil vom 22. Mai 2019 - [X.]/18, aaO Rn. 31, mwN).

Zudem kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Berufungsgericht - im Fall der Bejahung einer Härte in vorstehendem Sinne - bei der anschließenden Würdigung und Gewichtung der beiderseitigen Belange von Vermieter und Mieter die gesundheitlichen Beeinträchtigungen der Mieter sowie deren etwaige - wie ausgeführt hinsichtlich Art, Umfang sowie den konkreten Auswirkungen im Einzelnen durch Sachverständigengutachten zu klärende - Verschlechterungen im Falle eines erzwungenen Wohnungswechsels mit ihrem entsprechenden Gewicht in die gebotene Abwägung mit den Interessen des Vermieters eingestellt hätte und damit im Ergebnis zu einer abweichenden Beurteilung des Härteeinwands der [X.] (§§ 574, 574a BGB) gelangt wäre (vgl. zur Interessenabwägung [X.]surteil vom 22. Mai 2019 - [X.]/18, aaO Rn. 36 ff.).

IV.

Nach alledem ist das Urteil des Berufungsgerichts aufzuheben und der Rechtsstreit zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 544 Abs. 9 ZPO). Der [X.] macht dabei von der Möglichkeit des § 563 Abs. 1 Satz 2 ZPO Gebrauch, der auch im Beschlussverfahren nach § 544 Abs. 9 ZPO entsprechend herangezogen werden kann (vgl. [X.], Beschlüsse vom 1. Februar 2007 - [X.], NJW-RR 2007, 1221 Rn. 12; vom 23. August 2016 - [X.], aaO Rn. 29; vom 5. März 2019 - [X.], NJW 2019, 1950 Rn. 23 [jeweils zu § 544 Abs. 7 ZPO aF]). Gerichtskosten für das [X.] werden gemäß § 21 Abs. 1 Satz 1 GKG nicht erhoben.

Für das weitere Berufungsverfahren weist der [X.] vorsorglich darauf hin, dass der Schluss der letzten mündlichen Verhandlung in der Tatsacheninstanz der maßgebliche Zeitpunkt sowohl für die nach wirksamen Widerspruch des Mieters gemäß § 574 Abs. 1 Satz 1 BGB vorzunehmende Abwägung der wechselseitigen Interessen von Vermieter und Mieter ist, als auch für die sich anschließende Beurteilung, ob, beziehungsweise für welchen Zeitraum das durch wirksame ordentliche Kündigung nach § 573 BGB beendete Mietverhältnis nach § 574a BGB fortzusetzen ist (vgl. [X.]surteile vom 22. Mai 2019 - [X.]/18, aaO Rn. 32 und [X.], aaO Rn. 48).

Im Übrigen sieht der [X.] Anlass zu folgenden Hinweisen im Hinblick auf die Prüfungskompetenz des Berufungsgerichts:

Die bisherigen Ausführungen des Berufungsgerichts zum Umfang seiner Prüfungskompetenz lassen besorgen, dass es verkannt hat, dass diese nicht - wie die revisionsrechtliche Prüfung - auf eine reine Rechtskontrolle beschränkt ist. Bei der Berufungsinstanz handelt es sich auch nach Inkrafttreten des [X.] um eine zweite - wenn auch eingeschränkte - Tatsacheninstanz, deren Aufgabe in der Gewinnung einer "fehlerfreien und überzeugenden" und damit "richtigen" Entscheidung des Einzelfalles besteht. Daher hat das Berufungsgericht die erstinstanzliche Überzeugungsbildung nicht nur auf Rechtsfehler zu überprüfen (vgl. [X.]sbeschlüsse vom 11. Oktober 2016 - [X.], NJW-RR 2017, 75 Rn. 23 f. vom 12. Mai 2020 - [X.] unter [X.], zur [X.] bestimmt; jeweils mwN).

Dr. Milger     

      

[X.]     

      

Kosziol

      

Dr. Schmidt     

      

Wiegand     

      

Meta

VIII ZR 64/19

26.05.2020

Bundesgerichtshof 8. Zivilsenat

Beschluss

Sachgebiet: ZR

vorgehend LG Würzburg, 19. Februar 2019, Az: 42 S 2113/18

Art 103 Abs 1 GG, § 574 Abs 1 S 1 BGB, § 574a Abs 2 BGB

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 26.05.2020, Az. VIII ZR 64/19 (REWIS RS 2020, 694)

Papier­fundstellen: MDR 2020, 913-914 REWIS RS 2020, 694

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